Ein Polizist als Tatzeuge?Nachdem wir ja vor einiger Zeit das Thema schon mal hier
http://jacktheripper.de/forum/index.php/topic,1212.0.html recht kurz ´angerissen´ haben, habe ich noch ein wenig nachrecherchiert, was für Grundlagen und Quellen es für die Gerüchte gibt, JtR sei von einem Mitglied der Polizei ´at work´ beobachtet worden. Auch wenn ich persönlich nach wie vor nicht so recht an diese Geschichte glauben mag, erlaube ich mir, hier (da es primär um einen unbekannten Polizisten als möglichen Zeugen und um keinen konkreten Ermittler geht, fand ich die Rubrik ´Die Zeugen´ geeigneter als ´die Ermittler´) mal die Ergebnisse meiner Recherche gesammelt zur Diskussion zu stellen. Weiß nicht, ob für jemanden was wirklich ´Neues´ dabei ist – Es ging mir eigentlich prinzipiell darum, diverse Anhaltspunkte zu dieser Frage ´auf einen Blick´ parat zu haben (ein wenig kommt ja bereits in oben erwähntem Thread, (siehe auch bereits Diskutiertes ebendort) vor):
Wichtige ´Quellen´ für diese Vermutung: Es wird vermutlich noch andere Quellen geben – Wenn jemand welche kennt, nur her damit. Hier aber die, die ich fand und als äußerst interessant erachte:
1. Die wichtigste Quelle für die Vermutung, Jack the Ripper könnte von einem Polizisten gesehen worden sein, ist wohl das
Memorandum von Sir Meville L. Macnaghten. Dieses liegt in zwei Versionen vor: Zum einen gibt es die besser bekannte aus den Scotland Yard Files, zum zweiten die, die
Lady Aberconway, Macnaghtens Tochter, von den Notizen ihres Vaters kopiert hat. Neben einigen anderen, weist auch der Absatz über Kosminski einen entscheidenden Unterschied zur Scotland Yard Version auf:
´
Nr 2. Kosminski, ein polnischer Jude, der direkt im Herzen des Bezirks, in dem die Morde verübt wurden, lebte. Er wurde wahnsinnig, weil er sich über viele Jahre dem Laster der Selbstbefriedigung hingegeben hatte. Er hatte einen großen Hass auf Frauen, mit starker Tendenz zu morden. Er wurde etwa im März 1889 in eine Irrenanstalt eingeliefert (und ich glaube, dass er nach wie vor dort ist). Dieser Mann ähnelt dem Individuum, das von einem City PC nahe Mitre Square gesehen wurde.´
Der letzte Satz lautet in der Scotland Yard Version ja:
´
Es gab viele Sachverhalte in Verbindung mit diesem Mann welche ihn zu einem überzeugenden „Verdächtigen“ machten.´ (Siehe dazu auch:
http://www.jacktheripper.de/dokumente/macnaghten_memo/ )
2. In ´
Thomson´s Weekly News´ erschien am 1. Dezember 1906 unter dem Titel ´
The Truth about the Whitechapel Mysteries´ ein Artikel von
Detective Inspector Henry Cox (im Artikel ´Harry Cox´, so sollen ihn Freunde genannt haben) anlässlich dessen Pensionierung. (Nachzulesen etwa im
Sourcebook von Evans & Skinner, Seite 702 ff.) Darin beschreibt er die Observierung einer Person durch die City Police, die wohl nach dem Mord an Kelly stattgefunden hat. Dort findet sich über die Vorsicht der Polizei, nicht vom Observierten entdeckt zu werden, zu lesen:
„
The least slip and another brutal crime might have been perpetrated under our very noses. It was not easy to forget that already one of them had taken place at the very moment when one of our smartest colleagues was passing the top of the dimly lit street.“
3. 1907 publizierte der Journalist
George R. Sims, der gute Kontakte zur Polizei unterhielt, einen Artikel mit dem Titel ´
My Criminal Museum. Who was Jack the Ripper?´ in den ´
Lloyd's Weekly News´ (22. September 1907) (zum Nachlesen im Original:
http://www.casebook.org/press_reports/lloyds_weekly_news/19070922.html) Darin ist unter anderem zu lesen:
´
Nur ein Mann, ein Polizist, sah ihn, wie er den Platz, an dem er gerade eine teuflische Tat vollbracht hatte, verließ, scheiterte aber aufgrund der Dunkelheit daran, einen guten Blick auf ihn zu bekommen. Etwas später stolperte der Polizist über den leblosen Körper des Opfers.´
4. Ein weiterer, wesentlich früherer Bericht, der einen Polizisten zum Tatzeitpunkt an einen der Tatorte ´bringt´, ist Chris Scott auf Casebook zufolge im ´
Logansport Reporter´ vom 20. Juni 1895 zu finden: ´
Night in Darkest Hell: Edward Marshall describes a Trip Through Witechapel´ (im Original nachzulesen unter
http://forum.casebook.org/showthread.php?p=120037).
Darin wird von einer armen Frau aus Whitechapel berichtet, die aufgrund ihrer intensiven Beschäftigung mit den Whitechapelmorden ´
Murderer Mag´ genannt wurde. Sie soll eine Freundin ´
der ersten Frau, die getötet wurde´ gewesen sein, wobei man aus dem Artikel nicht wirklich ersehen kann, wer damit gemeint ist. ´Mag´ vertrat jedenfalls scheinbar die Meinung, dass ein Seemann der Mörder war, der sich zur Zeit des Berichtes auf langer Reise befand, und von dessen Rückkehr und erneuter Fortsetzung der Morde sie überzeugt war. Sie folgte jedenfalls dem Autor zu einigen der Tatorte und sonderte all ihr ´Wissen´ über die Mordserie ab. Darunter eben auch die Geschichte, dass ein Polizist den Mörder ´in flagranti´ erwischt haben soll, aber letzten Endes zu verängstigt war, um danach auf diesen zuzugreifen. Laut Mag fand dieses Verbrechen in einem Raum am Beginn eines kleinen (max. 12 x 16 feet) Innenhofes am Ende einer Sackgasse (´
blind alley´, Anm.) statt. Der Täter soll wohl bei Licht ´zu Werke´ geschritten sein, und die Fenster waren nicht mit Vorhängen bestückt.
Wie dem auch sei, abschließend dazu vielleicht noch der Hinweis darauf, dass in einigen englischsprachigen Foren jedenfalls darüber spekuliert wird, wer diese ´
Murderer Mag´ wohl gewesen sein könnte, und am besten im Rennen liegen dabei aktuell Margaret Hayes (oder Hames) vom Fall Emma Smith und ´Pearly Poll´ Mary Ann Connelly, die Zeugin im Fall Martha Tabram.
5. Dann sind da ja noch die Anmerkungen, die
Chief Inspector Donald S. Swanson in seiner Kopie von Sir Robert Andersons Memoiren ´
The Lighter Side of my Official Life´ (1910) anbrachte. Hier bestätigt er ja, dass es eine Gegenüberstellung inklusive Identifizierung gab, weiß aber auch noch mitzuteilen, dass diese ´
im Seaside Home´ stattfand, der Verdächtige ´
Kosminski´war, und dieser einige Zeit von der City Police überwacht wurde. Das ´Seaside Home´ könnte eben eines jener Convalescent Homes für Polizisten gewesen sein, was durchaus für einen Zeugen (Zitat Anderson: ´
the only person who had ever a good view of the murderer´) aus den Reihen der Polizei sprechen könnte.
Welche Polizisten könnten aufgrund dieser Berichte denn nun überhaupt in Frage kommen? Bei den gerichtlichen Untersuchungen kamen ja diverse Polizisten, die in der jeweiligen Nacht in der jeweiligen Zeit Dienst hatten und vor Ort waren, als Zeugen zu Wort. Ich habe davon mal nur jene herausgesucht, die eventuell aufgrund der obigen Berichte in Frage kommen könnten:
Zunächst wäre da ja einmal ein Polizist, der tatsächlich als auch als ´Augenzeuge´ vernommen wurde: Metropolitan
PC William Smith, der einen Mann und eine Frau kurz vor der Ermordung Elisabeth Strides in der Nähe des Tatortes gesehen hat. Seine Beschreibung des Mannes: etwa 28 Jahre alt, 5 feet und 7 Zoll groß, dunkler Übermantel und dunkle Hose, harter Deerstalkerhut aus Filz, respektable Erscheinung. Er hatte ein mit Zeitungspapier umwickeltes Paket bei sich, in etwa 18 Zoll lang und 6 bis 8 Zoll breit. (Quellen: Stride Inquest in ´
The Daily Telegraph´ und ´
The Times (London)´, jeweils 6. Oktober 1888)
Da einiges explizit für einen
City Policeman zu sprechen scheint, ist natürlich gerade der Fall Catherine Eddowes interessant, und die beiden, die hier in erster Linie in Frage kämen, wären
PC Edward Watkins und
PC James Harvey. Watkins hat aber wohl laut seiner Aussage bei der gerichtlichen Untersuchung niemanden am Mitre Square gesehen oder gehört. Nachdem er die Leiche von Eddowes gefunden hatte, begab er sich unverzüglich zum
Kearley and Tongue Warehouse, zumal er wusste, dass darin George Morris seinen Nachtdienst verrichtete (siehe dazu später). Harvey gab beim Inquest an, auf seiner Streife gerade in der Nähe Aldgate Richtung Dukestreet unterwegs gewesen zu sein, als er von George Morris auf den Mord aufmerksam gemacht wurde, will aber niemanden gesehen oder gehört haben.
George Morris kommt ebenfalls in Betracht, zumal er vor seiner Rente PC war, allerdings bei der Metropolitan Police. Er bewachte ja (wohl zum Zuverdienst) des Nächtens das
Kearley and Tonge Warehouse und rauchte üblicherweise zur Tatzeit seine Pfeife am Mitre Square, bedauerlicherweise täglich außer Samstags. Er will zumindest nichts gehört haben, bevor Watkins bei ihm anklopfte. Details zur angeblichen ´Verfolgungsjagd´, die man
Sir Henry Smiths ´
From Constable to Commissioner´ entnehmen könnte, lasse ich hier mal weg. Auch die Möglichkeit, dass es sich bei so mancher Überlieferung um eine Fehlinterpretation der Geschichte von der Festnahme dieses Dr. Frederick Richard Chapman durch
PC Robert Spicer handeln könnte, erscheint mir zu unwahrscheinlich.
Dann wäre da
Detective Sergeant Stephen White: In einem Nachruf anlässlich des Todes von White (´
Faced the Ripper´ in ´
The People´s Journal´, 27. September 1919, nachzulesen im Forum auf Casebook: Post #2 unter
http://forum.casebook.org/showthread.php?t=71) berichtet ein anonymer ´
Scotland Yard man´ (schon mal sehr unglaubwürdig!) von einer angeblichen Begegnung Whites mit dem Mörder im Schein einer Lampe an einem der Schauplätze. Der beschriebene Ort und die ganze Geschichte ist aber wohl eher erdichtet oder aus mehreren zusammengesetzt, zumal der beschriebene Ort (´
a certain alley just behind the Whitechapel Road´, nur begehbar von dort, wo sich zwei Polizisten versteckten...) mit keinem der Tatorte wirklich einwandfrei übereinstimmt. Er beschreibt einen ´Täter´ mit langem, dünnen Gesicht, eher zierlichen Nasenlöchern, pechschwarzem Haar, überraschend sehr musikalischer Stimme und Augen, die wie Glühwürmchen leuchteten. Bleicher (
sallow´, Anm.) Teint , gesamt betrachtet eher eine ausländische Erscheinung. Haltung: Leicht gekrümmt an den Schultern, etwa 33 Jahre alt, schneeweiße Hände und lange, sich zuspitzende Finger. Größe: etwa 5 feet 10 Zoll, eher schäbig angezogen, obwohl das Material der Kleidung von guter Qualität war, wodurch anzunehmen sei, ´
dass der Mann schon bessere Tage gesehen hat´. Gang: ziemlich geräuschlos, vermutlich aufgrund seltener Gummischuhe (Dies klingt irgendwie nach Dr. Forbes Winslows ´
India Rubber boots´...
). Hatte etwas sehr düsteres an sich. Der Autor dieses sehr (!) mit Vorsicht zu genießendem Artikels, erwähnt ferner, dass White´s Beschreibung von der Polizei damals stark in Umlauf gebracht wurde, und dass sie es war, die Sir Robert Anderson in dessen letzten Jahren zu der Überzeugung gebracht haben soll, dass der Täter ein jüdischer Medizinstudent war, der sich bei Frauen aus der Klasse der Ermordeten rächen wollte.
Was auch immer an diesem Artikel dran ist - eine Beschreibung, die zumindest ebenfalls den Begriff ´
sallow´ (bleich) für die Beschreibung des Teints des möglichen Täters verwendet, findet sich durch
Ex-Superintendent Arthur Neil: Laut seinen Ausführungen in ´
Forty Years of Man-Hunting´ (1932, Passage im Original zum Beispiel bei Philip Sugden nachzulesen: ´
Complete History of JtR´, S 454 f.) vertrat er die Meinung, dass Severin Klosowski/George Chapman wohl die `
most fitting and sensible solution´ bezüglich der möglichen Identität des Mörders war. Als Gründe dafür führte er unter anderem dessen Wissen, Situierung und eine Augenzeugenbeschreibung (welche auch immer er da meinen mag) an. Letztere bezeichnet Neil als ´
the only living´, und weist darauf hin, dass sie exakt mit Klosowskis Aussehen zusammenpasst: gleiche Größe, tief eingesunkene, schwarze Augen, blasser Teint und dicker, schwarzer Schnauzbart. (´
...even the same height, deep-sunk black eyes, sallow complexion and thick black moustage.´)
Um auch jenseits der kanonischen 5 nach möglichen Polizisten zu suchen: Metropolitan
PC Ernest Thompson soll die Schritte eines Mannes gehört haben, bevor er die sterbende Frances Coles in Swallow Garden fand. (Vgl. oben G. R. Sims Artikel)
Abschließend sei noch angeführt, dass
Mary Ann Cox ja in der Nacht des Mordes an Kelly gegen 6.15 Uhr die Schritte eines Mannes gehört haben will, der im Miller´s Court umherging, aber nicht, dass eine Tür geschlossen wurde. Bei der gerichtlichen Untersuchung wurde diesbezüglich die Frage erörtert, ob es sich um einen Polizisten auf Streife gehandelt haben könnte.
So, das wär´s, zumindest für´s erste einmal. Ergänzungen und eventuelle Korrekturen herzlich willkommen! Ich zweifle, wie gesagt, ja noch immer an der Geschichte, aber was haltet ihr denn aktuell so von diesen Berichten/Aussagen?
Best regards,
panopticon