Hallo!
Was für mich noch immer viele Fragen offen lässt, ist die Geschichte mit der singenden Mary Jane Kelly, dem Mann dem fleckigen Gesicht, Mary Ann Cox und diversen anderen Aussagen, die damit in Verbindung stehen könnten. (Diese Geschichte kommt zwar schon in einigen Threads peripher vor, ist dort aber schwer zu finden und hat, meiner Meinung nach, daher einen eigenen – sofern ich einen solchen nicht übersehen habe - verdient.)
Ich fasse hier noch mal zusammen:Mary Ann Cox kam gegen 23.45h in den Millers Court, um sich aufzuwärmen. Vor ihr ging Mary Jane Kelly mit einem Mann, den Cox im Schein der Lampe gegenüber von Marys Tür gut sehen konnte:
Ihrer Beschreibung bei der gerichtlichen Anhörung nach, handelte es sich um einen kleinen (short), beleibten (stout) Mann, schäbig angezogen. Er trug einen längeren, dunklen, sehr schäbigen Mantel, einen runden, harten Billycock-Hut und irgendein Biergefäß. Sein gesamtes Gewand war dunkel. Er hatte ein fleckiges (blotchy) Gesicht und einen vollen, roten (carroty) Schnauzbart. Sein Alter schätzt Cox auf 36. Auf Nachfrage des Coroner´s erklärt Cox, dass die Stiefel des Mannes wohl nicht wirklich ´heavy´ waren, da sein Gang ziemlich lautlos war.
Cox sagte im Vorübergehen "
Good night, Mary Jane."
Kelly antwortete "
Good night. I'm going to have a song." Hier fällt Cox auf, dass Kelly wohl betrunken ist. Während Cox bei der gerichtlichen Anhörung erst erklärt, Mary hätte daraufhin die Tür zugeschlagen, erwähnt sie später jedoch, dass der Mann die Tür geschlossen hätte. Im Fenster hätte Cox Licht gesehen, aber nichts erkennen können, da die ´blinds´ (Markisen, Jalousien oder meint sie den Mantel?) herunten waren.
Und dann sang Kelly los. "
A Violet From Mother's Grave", wie diverse Zeugen bestätigten.
Als Mary Ann Cox den Millers Court eine Viertellstunde später wieder verließ, sang Kelly noch immer dasselbe Lied. Gegen 00:30 will sich Catherine Pickett schon darüber beschweren, wenn sie ihr Mann nicht davon abgehalten hätte. Cox kam um 1:00 zurück und
Kelly sang immer noch, nunmehr scheinbar seit 1 ¼ Stunden...
Ein Talentscout wird ´Blotchy´ ja wohl nicht gewesen sein.
Dass er als Freier daran interessiert war, beim Beischlaf lauthals irische Populärsongs vorgesungen zu bekommen, ist zwar möglich, wohl aber irgendwie unwahrscheinlich.
Also was haben die beiden da drinnen nun eigentlich gemacht? Fisch und Kartoffeln gegessen? Wohl kaum, mit vollem Mund singt´s sich auch irgendwie schwer. Was dann? Den Kamin geschürt und Wäsche verbrannt? Oder hat der Mann irgendwann das Weite gesucht, weil Kelly nicht mehr mit dem Singen aufhörte? Klarerweise muss sie nicht durchgehend gesungen haben, aber von einer allzu großen Pause ist zumindest nichts überliefert.
Interessant finde ich diesbezüglich ja auch die Beobachtung von Sarah Lewis gegen 2:30h, bei der heute ja allgemein angenommen wird, dass es sich bei der darin vorkommenden Person um George Hutchinson handelte, was aber in keinster Weise zweifelsfrei bestätigt werden kann: "
When I went into the court, opposite the lodging-house I saw a man with a wideawake. There was no one talking to him. He was a stout-looking man, and not very tall. The hat was black. I did not take any notice of his clothes. The man was looking up the court; he seemed to be waiting or looking for some one."
Und dann ist da noch die Aussage von Caroline Maxwell, die ja nicht nur Kelly am Morgen des 9. November 1888 gegen 8:30h noch gesehen haben will, sondern auch einen Mann, mit dem sich Kelly vor dem Britannia Public-House unterhielt. Ich persönlich bin aufgrund der Tatortfotos, Verletzungen und der Aussagen aller Personen, die sie identifizierten, eigentlich überzeugt davon, dass die Tote im Millers Court jene Person war, die man unter dem Namen Mary Jane Kelly kannte – Was aber nicht ausschließt, dass sich Maxwell einfach im Tag irrte. Sie beschreibt den Mann so: "
He was a little taller than me and stout. Dark clothes; he seemed to have a plaid coat on. I could not say what sort of hat he had."
Zu guter Letzt hier noch ein Auszug aus einem
Zeitungsartikel, der sich auf eine Person mit sehr ähnlichem Aussehen bezieht, und den ich für hier mal schnell übersetzt habe:
The Star, Freitag, 16. November 1888
WHITECHAPEL.
EIN MANN, DER MIT KELLYS MÖRDER ÜBEREINSTIMMT (´tallys´, Anm.) SPRICHT FRAUEN AN
Mr. Galloway, ein Clerk, der in der City angestellt ist und in Stephney lebt, machte folgende Aussage: :- „Als ich in den frühen Stunden des Mittwoch Morgen auf meinem Weg heim die Whitechapel Road hinunterging, sah ich etwa fünfzig Yards entfernt einen Mann in entgegen gesetzter Richtung auf mich zukommen. Wir überquerten beide simultan die Straße und kamen so von Angesicht zu Angesicht. Der Mann machte einen sehr beängstigten Eindruck, und funkelte mich im Vorbeigehen an. Ich war wie vom Blitz getroffen (´very much struck´, Anm.), besonders, weil er in nahezu jeder Einzelheit mit dem Mann übereinstimmte, der von Mary Ann Cox beschrieben wurde. Er war klein (´short´), beleibt (´stout´), etwa 35 bis 40 Jahre alt. Sein Schnauzbart, kein besonders starker (´heavy´), hatte eine FEUERROTE FARBE (´carroty´), SEIN GESICHT WAR FLECKIG (´blotchy´)
von Trunk und Prasserei. Er trug einen langen, schmutzigen, braunen Übermantel und stellte, alles zusammengenommen, eine sehr schurkische (auch: miserabelste > ´most villainous´) Erscheinung dar. Ich stand still da und beobachtete ihn. Nahezu plötzlich schoss er zurück auf die andere Straßenseite, und kreuzte dann die Straße abermals, scheinbar um einer Gruppe Frauen etwas vor ihm auszuweichen. Ich beschloss, ihm zu folgen, und kurz bevor er den Kaffeestand nach der Kirche erreichte, überquerte er erneut die Straße. Als er sich dem George-Yard näherte, kreuzte er abermals und betrat einen kleinen Hof. Einige Minuten später erschien er wieder, überquerte die Whitechapel-Road zum sechsten Male und setzte seinen Weg die Commercial-Street hinauf fort. Bis zu diesem Zeitpunkt schritt er flott vor sich hin, aber direkt, als er in die Commercial-Street kam, nahm er seine Geschwindigkeit zurück und SPRACH DIE ERSTE FRAU AN,
die er allein traf, wurde aber zurückgewiesen. Nahe der Thrawl-Street erschien plötzlich ein dort diensthabender (´on point duty´, Anm.) Polizist. Der Mann erschrak offensichtlich. Für einen Moment erschien es so, als ob er umkehren oder die Straße überqueren würde. Allerdings erholte er sich wieder und ging weiter. Dann informierte ich den Constable über das, was ich gesehen hatte und wies auf die außergewöhnliche Ähnlichkeit mit dem Individuum, das Cox beschrieben hat, hin. Der Constable weigerte sich, den Mann festzunehmen und sagte, er sucht nach einem Mann mit einer äußerst (´very´) anderen Erscheinung."War die Polizei zu diesem Zeitpunkt so stark auf Hutchinsons Verdächtigen-Beschreibung fixiert, dass sie alle anderen Hinweise einfach ignorierte? Hat sie den Mann mit dem fleckigen Gesicht zu diesem Zeitpunkt aus irgendwelchen anderen Gründen aus den Ermittlungen ausgeschlossen? In welchem Verhältnis stand dieser nun wohl zu Kelly? Wirklich "nur" ein Freier? Und eben die oben bereits erwähnte Frage, was er und Kelly nun in Kellys Raum gemacht haben könnten, während Kelly sang?
Was meint ihr dazu?
Best regards,
panopticon