Autor Thema: Geographisches Täterprofil  (Gelesen 12526 mal)

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Stordfield

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Geographisches Täterprofil
« am: 28.03.2009 13:36 Uhr »
Hallo !

Als bekennender Anhänger des Täterprofilings und der Tatortanalyse möchte ich hier mal einen kleinen Mosaikstein dieses ziemlich komplexen Gebietes vorstellen. Wie gesagt, es ist nur ein ganz kleines Stückchen, das bei der Erstellung einer Analyse Verwendung finden kann und immerhin auch schon zu expliziten Erfolgen geführt hat („Railway Rapist“). Ich denke nicht im Entferntesten daran, so den Wohnort des Rippers ermitteln zu können, aber vielleicht gibt dieser Beitrag ein wenig Stoff zum Diskutieren und Grübeln. Das würde mich freuen. Meine Quellen sind Hoffmann/Musolff- Fallanalyse und Täterprofil, Fink-immer wieder töten.

Geographisches Täterprofil

Der britische Psychologieprofessor und Profiling – Forscher David Canter und seine Kollegen der Universitäten Liverpool und Guildford haben sich in zahlreichen Studien mit dem Zusammenhang zwischen Tatort und dem Tatverhalten beschäftigt.
Als erster Anhaltspunkt diente ihnen die Hypothese, daß Menschen prinzipiell bevorzugt in ihren vertrauten Gegenden agieren. Dies ist ein vielfach bestätigter Leitsatz aus der Psychologie (kognitive Landkarten), die sich mit der subjektiven Wahrnehmung des Raumes beschäftigt. Etliche Untersuchungen zeigen, daß auch Kriminelle ihre Taten oftmals in einer Umgebung begehen, die ihnen von ihrer Lebensgeschichte her vertraut ist. Wenn wahrscheinlich auch nicht für alle Deliktarten gültig, fand diese Hypothese doch u. a. bei Stichproben von Sexualtätern Bestätigung. Canter und seine Gruppe erstellten daraufhin ein prototypisches Schema für das räumliche Verhalten von Serientätern.
Zu Beginn der Tatserie werden demnach die Täter relativ nahe an ihrer Basis (dies kann ihre Wohnung sein, möglicherweise aber auch die des Partners oder die Arbeitsstelle; diese Orte werden auch als „Ankerpunkte“ bezeichnet) Verbrechen begehen, da sie nach der Tat das Bedürfnis haben schnell wieder an einen sicheren Ort zu gelangen. (m.A.: Deshalb wird von vielen Experten der erste Tatort einer Serie auch als der wichtigste für die Ermittler angesehen.) Dabei halten sie jedoch zumeist einen Sicherheitsabstand („kriminalitätsfreie Zone“, auch „Pufferzone“) zu ihrer Basis ein, um zu vermeiden, daß sie von einer Person aus ihrem alltäglichen Umfeld erkannt werden können. Jetzt folgt die „Komfortzone“, in der sich der Täter sicher fühlt, da er sich hier gut auskennt ( Wenn er seine Wohnung verläßt und zu seiner Arbeit geht, benutzt er eigentlich immer wieder die selben Straßen und entlang dieser Strecke auch die selben Geschäfte und Örtlichkeiten.) Mit dem Fortschreiten der Serie erweitert sich der kriminelle Aktionsradius der Täter, denn sie gewinnen an Sicherheit und Selbstvertrauen. Bisher waren ihre Überfälle ohne Konsequenzen geblieben, so wagen sie es, in immer größeren Abständen von ihrer Basis zu operieren. Allerdings muß einschränkend hinzugefügt werden, daß Canters Schema bei weitem nicht für alle sexuell motivierten Serientäter gültig ist. Oftmals entsprechen deren geographische Tatmuster eben nicht einer sich immer mehr erweiternden Kreisfigur, sondern die Tatorte erscheinen weitaus zufälliger und willkürlicher gestreut. Zudem erfaßt Canters Modellvorstellung offenbar nur einen Ausschnitt des räumlichen Handelns von Serientätern. So ist beispielsweise gelegentlich zu beobachten, daß Sexualtäter zu einem späteren Zeitpunkt ihrer Tatserie zu früheren, nahe an ihrem Wohnort liegenden Tatorten zurückkehren, um neue Überfälle zu begehen.
Ein gröberes, dafür aber zuverlässigeres Modell für die Bestimmung des Wohnortes von Serientätern liefert Canter mit seiner Kreis-Hypothese:
Die Kernannahme hierbei ist simpel. Definiert man bei einer Tatserie die beiden am weitesten auseinander liegenden Tatorte als Endpunkte des Durchmessers eines Kreises (m.A.: in unserem Fall also Buck`s Row und Mitre Square), so soll der Täter mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb dieses Kreises leben. Diese These fand allerdings nur in europäischen Ländern Bestätigung ( Zu den USA besteht durch kulturelle Unterschiede, andere Besiedlungsdichte, Infrastruktur und dem verschiedenartigen Gebrauch von Verkehrsmitteln eine Differenz.); bei Stichproben in England lebten immerhin 87% der Täter innerhalb der vorhergesagten Region, in Deutschland noch 73%.
Aus diesen Erkenntnissen heraus, leiten Canter und Kollegen die sogenannte Abstandshypothese ab. Demnach besteht ein Zusammenhang zwischen den Abständen der Tatorte zueinander und den Abständen der Tatorte zum Wohnort des Deliquenten. Das Gebiet, in dem der Serientäter wahrscheinlich lebt, läßt sich so mit den statistischen Mitteln der Regressionsrechnung weiter präzisieren. Dadurch kann ebenfalls eine Prognose über die Größe der sogenannten Sicherheitszone erstellt werden, die der Täter zu seinem Wohnort einhält, um nicht erkannt zu werden. Canter und seine Mitarbeiter entwickelten nach eigenen Angaben ein Computerprogramm, welches durch Anwendung von mathematischen Modellen bei konkreten Ermittlungen den wahrscheinlichen Wohnort des Täters eingrenzen und so vorhersagen kann.
Wie bereits angedeutet, greifen die Canter-Hypothesen nicht in allen Fällen. Es gibt bsw. Gruppen von Serientätern, die mehr oder weniger zielstrebig bestimmte Gebiete ansteuern. Hier ist der Wohnort nicht Zentrum sternförmig gestreuter Tatorte, sondern der Täter pendelt sozusagen zwischen der Gegend, in der er lebt und dem Gebiet, in dem er seine Taten begeht. Zum einen können diese Tatorte dem unbekannten Verbrecher von seiner Biographie her vertraut sein, etwa weil er früher einmal in der Gegend gelebt hatte, das Tatumfeld gut kennt und sich deshalb sicher fühlt. Vor allem scheint es sich bei pendelnden Tätern um Personen zu handeln, die ihre Opfer nach speziellen Merkmalen aussuchen, indem sie bsw. nur Prostituierte überfallen. (m.A.: Läßt das auch den umgekehrten Schluß zu, nämlich, daß Prostituiertenmörder hauptsächlich zwischen Tat- und Wohnort pendeln?) Das geographische Verhalten solcher Täter wird augenscheinlich von dieser Präferenz geleitet, da sie darauf angewiesen sind, Gebiete aufzusuchen, in denen sich Personen aufhalten, die ihrem Opferschema entsprechen.
Zum Thema geographische Profilerstellung schreibt bsw. der von mir schon anderweitig zitierte Peter Fink : „Kriminalität, wie jede menschliche Handlung, hat ihre geographische Logik; sie geschieht nicht zufällig. Diese geographische Logik, die die Auswahl der Tatorte und der Opfer betrifft, unterscheiden sich nicht allzu sehr von den Entscheidungen, die Menschen treffen, wenn sie bsw. einen Supermarkt aussuchen, um ihre Einkäufe zu tätigen. Auf diese Logik baut das geographische Profiling auf.“
Der Grundgedanke des geographisches Profiling basiert auf kriminalistischen und kriminologischen Erfahrungen über die Art und Weise, wie Verbrecher von ihren Wohn-, Aufenthaltsorten oder Arbeitsplätzen an ihre späteren Tatorte gelangen und dem Versuch, diese gewonnenen Erkenntnisse und Informationen umzukehren, wenn zunächst nur die Tatorte bekannt sind. Geographisches Profiling ist demnach eine Idee, die auf die Umkehrung einer anderen Idee aufbaut.
Meines Erachtens ist es wichtig, daß stetig empirische Studien durchgeführt werden, um auch auf diesem (für mich) äußerst interessanten Gebiet weiter Erfolge erzielen zu können.

Gruß Stordfield

Offline Isdrasil

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Re: Geographisches Täterprofil
« Antwort #1 am: 30.03.2009 09:58 Uhr »
Hi Stordfield

Die Hypothese von Canter finde ich sehr interessant.
Besonders bei sexuell motivierten Serientätern dürften Rückschlüsse hinsichtlich geografischer Verhältnisse erlaubt sein, denn es ist erwiesen, dass in dieser Gruppe der Serientäter eine persönliche Beziehung zwischen Täter-Opfer äußerst selten ist – und damit unterliegt die Tatortwahl schon einmal keiner Vorbelastung durch diese Tatsache.

Dass der erste Tatort der dem Wohnort des Täters am nähesten Gelegene ist, darüber lässt sich diskutieren. Zumindest aber ist eine „Bewegungstendenz“ innerhalb der Tatorte wahrscheinlich – sei es nun vom Wohnort weg, zum Wohnort hin, oder um den Wohnort herum.

Interessant finde ich den Absatz mit der Ausnahme einiger Täter. Ich persönlich denke, dass genau dies auf den Ripper zutrifft:

Wie bereits angedeutet, greifen die Canter-Hypothesen nicht in allen Fällen. Es gibt bsw. Gruppen von Serientätern, die mehr oder weniger zielstrebig bestimmte Gebiete ansteuern. Hier ist der Wohnort nicht Zentrum sternförmig gestreuter Tatorte, sondern der Täter pendelt sozusagen zwischen der Gegend, in der er lebt und dem Gebiet, in dem er seine Taten begeht. Zum einen können diese Tatorte dem unbekannten Verbrecher von seiner Biographie her vertraut sein, etwa weil er früher einmal in der Gegend gelebt hatte, das Tatumfeld gut kennt und sich deshalb sicher fühlt. Vor allem scheint es sich bei pendelnden Tätern um Personen zu handeln, die ihre Opfer nach speziellen Merkmalen aussuchen, indem sie bsw. nur Prostituierte überfallen. (m.A.: Läßt das auch den umgekehrten Schluß zu, nämlich, daß Prostituiertenmörder hauptsächlich zwischen Tat- und Wohnort pendeln?) Das geographische Verhalten solcher Täter wird augenscheinlich von dieser Präferenz geleitet, da sie darauf angewiesen sind, Gebiete aufzusuchen, in denen sich Personen aufhalten, die ihrem Opferschema entsprechen.

Doch auch die sternförmige Streuung der Tatorte um den Wohnort des Täters spricht mich an, denn nach wie vor zählt Tabram für mich einfach dazu. Der Täter könnte in der Tat in den Georg Yard Buildings oder in unmittelbarer Nähe gewohnt haben. In diesem Fall würden mich aber (trotz eventueller Arbeit des Täters) die zeitlichen Aspekte der Taten etwas wurmen. Die Regelmäßigkeit an arbeitsfreien Tagen spricht meiner Meinung nach für einen Täter, der seinem Mordmilieu auch nur dann begegnete.

Grüße, Isdrasil
« Letzte Änderung: 30.03.2009 11:42 Uhr von Isdrasil »

Lou Cifer

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Re: Geographisches Täterprofil
« Antwort #2 am: 30.03.2009 22:15 Uhr »
Die Regelmäßigkeit an arbeitsfreien Tagen spricht meiner Meinung nach für einen Täter, der seinem Mordmilieu auch nur dann begegnete.

Oder aber, dass er nur an diesen Zeit hatte.
Denn wenn jemand von Morgens früh bis spät arbeitet, und das körperlich, dann ist er schlicht und ergreifend vom körperlichen her nicht in der Lage nächtelang durch die Straßen zu schleichen und sich Opfer für seine Triebe zu suchen.
An freien Tagen jedoch kann er seiner Lust freien Lauf lassen.

Offline panopticon

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Re: Geographisches Täterprofil
« Antwort #3 am: 21.07.2010 00:51 Uhr »
Hallo zusammen!

(1) Ich weiß nicht, wer es schon kennt und habe auch noch keinen Link dazu im Forum gefunden (Sorry, wenn´s schon mal gepostet wurde!). Der Link unten führt direkt zu einem geographischen Profil von ´Jack the Ripper´, erstellt von Wesley English mit einer von ihm selbst erstellten Applikation für geographisches Profiling von Serienverbrechern. Infos über den Autor, seinen Background, seine Vorgehensweise und Software ist ohnedies der Seite zu entnehmen. Generell hat er, der zwar forensischer Psychologe ist, aber explizit darauf hinweist, kein Ripperologe zu sein, die Goulston Street nicht mit einbezogen, freundlicherweise aber unter der Anleitung einiger aus dem Casebook-Forum weitere Szenarien erstellt, die ich im Anschluss auch anfüge: 

Zunächst der Link zum klassischen Profil mit den Tatorten der kanonischen Fünf:
http://www.wesleyenglish.com/geoprofile/infamous-cases/jack-the-ripper

Hier findet sich ein Profil ohne Liz Stride:
http://www.wesleyenglish.com/wp-content/uploads/2010/02/Jack-the-Ripper-Alt-Geographic-Profile.png

Und hier eines der kanonischen Fünf inklusive Martha Tabram:
http://www.wesleyenglish.com/wp-content/uploads/2010/03/Jack-the-Ripper-Updated-6-Victims.png



(2) Hier ein weiteres geographisches Profil von ´Jack the Ripper´, erstellt  von D. Kim Rossmo, das in seinen Ergebnissen in etwa auch dem obigen ähnelt (Bild rechts zum Vergrößern klicken!): http://www.txstate.edu/gii/geographicprofiling.html



(3) Und noch ein anderer Link zu einem Bericht, der sich um die Viggell Technologie, Jack the Ripper und Gary Ridgeway dreht, in meinen Augen aber nicht wirklich was aussagt. Um zum Beispiel allein die Nordost-Nordwest-Südost-Südwest-Vorgehensweise des Rippers  zu erkennen, braucht es eine derartige Technologie eigentlich nicht – dazu reichen die Tatorte, deren Reihenfolge und ein Stadtplan, insofern wären eigentlich nähere Infos über Viggell interessant gewesen:
 http://www.friendsrevolution.com/2009/08/jack-ripper-and-gary-ridgeway.html


Insgesamt, würde ich sagen, stützen die Links wohl das, was wir ohnedies auch schon annahmen. Ein wenig skeptisch bin ich bei heutiger Software aufgrund der unterschiedlichen Stadtplanung/-topografie /-morphologie von damals und heute, die unbestreitbar Einfluss auf das Verhalten von Personen hat - aber zumindest meinen Recherchen zufolge, kommt es trotzdem ziemlich hin. Was meint ihr?

In Anschluss hänge ich noch einen meiner Pläne an, auf dem ich die Stadtteile auf dem Gebiet des Rippers unterschiedlich eingefärbt habe, weil es diesbezüglich doch noch öfter Fragen gibt (Basis: Ord. Map von 1894). Etwaige Ungenauigkeiten in der genauen Grenzführung bitte zu verzeihen!


Grüße,
panopticon

KvN

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Re: Geographisches Täterprofil
« Antwort #4 am: 21.07.2010 09:31 Uhr »
Morgen zusammen!

Sehen wir mal von MJK, unserer ewigen Ausnahme, ab, hat der Ripper also in jedem Stadtteil nur 1x zugeschlagen, schön gleichmäßig verteilt...Verbinden wir diese Tatorte, so kommen wir zu einem nahezu erstaunlich exakten Parallelogramm...Und das alles hilft mir geistig ned weiter :icon_question:

Grüße

Offline Lestrade

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Re: Geographisches Täterprofil
« Antwort #5 am: 21.07.2010 11:20 Uhr »
Morgen! Am meisten Dank für deine eigene, angehangende Karte panopticon.

Interessante Sache das geographische Profil. Diese "Kreisverteilung" der K5 ist schon auffällig. Ich will hier aber keine Geraden für eckige Figuren benennen. Wir wissen nicht, ob Tabram mit dazu gehört hat, als 6. Opfer, aber wenn man sich diese Verteilung der K5 anschaut, könnte man meinen, der Ripper bewegt sich stets aus einem Zentrum heraus. Nahe an diesem Zentrum, befindet sich dann aber eben auch Tabram, was sie dann zum ersten Opfer machen könnte. Da wir ja wissen, das Serientäter oftmals zuerst an ihrem Wohn- bzw. Arbeitsort zuschlagen...
Der Täter "überquerte" ja, bis auf Stride, niemals davor oder danach, die "Hauptstraße"- Aldgate High Street, Whitechapel High Street/ Road. All die Tatort könnten auch die "geographischen Grenzen" in seinem Kopf gewesen sein. Von denen er wieder sicher und schnell in sein Versteck oder seine Wohnung zurück kommen konnte. Unter Umständen mit Blut am Körper oder gar mit Organen. Im großen und ganzen denke ich, wie schon oft erwähnt, an die Mitte dieser Tatorte, nördlich der "Hauptstraße". Und da ist die Old Montague Street mein Fokus. Ein Täter, wenn er denn ein Lokalist war und keiner von außerhalb, konnte nur in einem kleinen Radius agieren. Er limitierte sich selbst durch das Risiko des Blutes und der Organe. Eher mehr durch letztere. Damit hatte er bestimmt nicht vor, ab mehr wie 25-30 Minuten durch die Gegend zu laufen.
Jemand, der sich irgendwo einquartiert, geht das Risiko ein, durch solche Dinge, "merkwürdigem Verhalten" und den damaligen Geschehnissen, besonders aufzufallen. So wie Joseph Isaacs oder der "amerikanische Gast" (möglicherweise Tumblety) in der Batty Street (The Lodger).
Bleibt die geringe Wahrscheinlichkeit, eines weiterwegwohnenden Täters.

Es grüßt,

Lestrade.

Wer wartet mit Besonnenheit, der wird belohnt zur rechten Zeit...