Puh, zwei Tage nicht richtig on und schon hat man einen Haufen Arbeit hier, unerhört!
Ich kann mich grundsätzlich mit der Berichtigungstheorie abfinden, finde es aber nach wie vor ärgerlich, dass Swanson es dabei belassen hat. Zu wissen, was jemand, der an den Ermittlungen beteiligt war, von dem Verdächtigen hielt wäre interessant gewesen. 1895 jedenfalls schien Swanson von der Täterschaft Kosminskis überzeugt gewesen zu sein, schließlich äußerte er sich in dem Interview ja dahingehend, dass er festen Glaubens sei, dass der Ripper jemand wäre, der in einer Anstalt gestorben sei. Also geh ich der Einfachheit halber mal davon aus, Swanson hielt den Verdächtigen auch für schuldig.
Zum PC:Wie wäre es, wenn wir McNaghten in seinem Memorandum einen weiteren Fehler unterstellen, einer mehr oder weniger dürfte da ja auch nicht mehr weiter auffallen. Angenommen, er hätte sich mit dem "PC near Mitre Square" vertan und der PC, den er meinte, wäre William Smith, der Stride in der Berner Street mit einem jungen Mann gesehen hat, etwa 10 Minuten vor dem Schwartz-Zwischenfall. Die Sichtung wäre zeitnah an dem einzigen Ereignis, bei welchem wirklich ein tätlicher Angriff auf eines der Opfer beobachtet wurde - zumindest, wenn man Schwartz Aussage glauben will und/oder es sich bei seinem "Angriffsopfer" wirklich um Stride handelte. Wenn wir davon ausgehen, dass Schwartz Aussage stimmt und Smith vorher, als er an dem Mann und Stride vorbeilief, den Anfang der "Verhandlungsphase" (oder wie immer man so etwas nennen will) mitbekam, ließe sich wohl ein ungefährer zeitlicher Ablauf konstruieren, der halbwegs stimmig ist und in dem keine allzu großen Lücken klaffen, die zu erklären schwer fallen würde. Aber wie ernst nahm die Polizei Schwartz Aussage? Swanson schildert sie in seinem Bericht vom zu faul um nachzusehen recht genau, eine weitere Version davon findet sich auch in der Zeitung, wobei hier aber die Pfeife durch ein Messer ersetzt wurde, was wohl der Dramatisierung im Hinblick auf eine angestrebte Auflagenerhöhung geschuldet ist. Im anschließenden Inquest sagte Schwartz nicht aus, was zu erklären ich jetzt aber gar nicht so schwer finde wie viele andere. Schon während seiner Aussage schien es ja Verständigungsschwierigkeiten gegeben zu haben, da Schwartz wohl kein bisschen Englisch sprach und alles über einen Dolmetscher ablief (bei dem sich eventuell auch der ein oder andere kleinere Patzer eingeschlichen haben mag). Vielleicht trat er ja nur wegen der Sprachprobleme nicht beim Inquest auf, wichtig war seine Aussage dafür ohnehin nicht.
Rüber zur Identifizierung:Okay, wir haben William Smith, den wackeren PC aus der Berner Street, der Stride und einen Mann zusammen gesehen hat, zehn Minuten bevor Schwartz seine viel diskutierte Beobachtung machte. Ich greife hier mal einen Gedanken von Lestrade auf: Irgendwann im Laufe der Zeit verdichten sich gewisse Hinweise gegen jemanden, der während der Haus zu Haus Untersuchungen nach dem Eddowes Mord irgendwie ins Radar der Ermittler geraten ist, ohne sich dabei aber wirklich so verdächtig zu machen, dass die Polizei genauer nachforschte. Was machen die Ermittler? Natürlich, sie haben Schwartz, Lawende und Levy, aber eventuell wollen sie sich vorher etwas absichern, ehe sie ihren Verdächtigen mit einem der Zeugen zusammenbringen. Also wird PC Smith in die Nähe des Verdächtigen gebracht. Smith sieht sich den Mann an, ist unschlüssig. Er hat selbst ausgesagt, dass er Mann, den er mit Stride sah, mit dem Rücken zu ihm stand und er seine Gesichtszüge deshalb nicht beschreiben kann. Die Klamotten, die Statur, ein Schnurbart... Ja, der Verdächtige da, der sieht schon ein bisschen so aus, aber... identifizieren kann er ihn nicht, da er sein Gesicht nicht gesehen hat, aber aufgrund der anderen körperlichen Merkmale, die ihm in Erinnerung geblieben sind (Größe, Statur, Alter usw), bestätigt er den Ermittlern, dass es durchaus der Mann sein könnte. Bei den Ermittlern dürfte sich hier durchaus etwas Hochstimmung breit gemacht haben. Ihr Kollege konnte zwar keine positive Identifikation liefern, stimmte sie mit seiner Aussage aber durchaus zuversichtlich, dass sie ihren Mann hatten. Also muss es einer der Zeugen richten. Auftritt Schwartz...
Nach allem, was uns Schwartz in seiner Aussage mitgeteilt hat, dürfte der gute nicht gerade zu den mutigsten Geschöpfen männlichen Geschlechts gezählt haben, schließlich hat ihn ein einziges Wort in die Flucht geschlagen. Gut möglich, dass er, angesichts der Aufgabe, die er da jetzt zu bewältigen hatte, wieder ordentlich Muffensausen bekam und erst bereit zur vollständigen Kooperation war, als die Beamten ihm ein ausführliches Sicherheitspaket angeboten haben. Hierbei kommt der zweite Mann ins Spiel, der entweder eine Pfeife oder ein Messer hatte. Die Polizei erzählt Schwartz, dass sie einen Verdächtigen haben. Schön, aber was ist mit dem andren, denkt Schwartz. Aus seiner Sicht dürfte die Situation ausgesprochen brenzlig gewesen sein, denn wenn die Polizei nur einen der beiden Männer hatte, dann lief der andere noch frei herum und wenn wir bedenken, dass er sich von dem Pfeifenmann durchaus bedroht gefühlt hatte, dann können wir hier wohl unterstellen, dass ihm das ganze ordentlich Magenschmerzen bereitet haben könnte. Okay, Schwartz macht seine Bedingungen klar, er will weg aus London, fürchtet Repressalien durch den Komplizen. Die Polizei, mit den Hufen scharrend, weil sie endlich eine heiße Spur zu haben glauben und nach all den Prügel auch mal positive Publicity gebrauchen könnten, willigt ein und schafft ihn fort. Zunächst einmal ins Seaside Home, wo sie den Zeugen erstens schützen und zweitens fürs Erste unauffällig unterbringen können, bis die Identifikation gelaufen ist. Von dort aus würde Schwartz dann, wenn alles so lief, wie geplant, endgültig untertauchen können, um fortan an den Küsten Devons ein Pilschersches Leben zu führen. Somit wäre die Voraussetzung geschaffen, jetzt gilt es nur noch, den Verdächtigen ebenfalls dorthin zu schaffen. Doch dabei ergeben sich gewisse Schwierigkeiten, die genau zu benennen unmöglich ist. Entweder war der Verdächtige gewaltätig und äußerst schwer in den Griff zu bekommen, oder es hatte mit irgendwelchen Dingen zu tun, die sich innerhalb der Behörden abgespielt haben. Ich tu mich selbst ein bisschen schwer, Swansons Aussage diesbezüglich zu deuten, er spricht schließlich nur von Schwierigkeiten. Wenn man Anderson hier noch hinzuzieht, der sinngemäß geschrieben hat, dass der Ripper seiner Strafe zugeführt worden wäre, wenn der Yard die Möglichkeiten der französischen Polizei gehabt hätte, halte ich ein bürokratische Hindernis hierbei durchaus für möglich. Aber wie gesagt, alles Interpretationssache... Ich entscheide mich für diese Hypothese hier für Lestrades Ansicht, dass der Verdächtige sich mit Händen und Füßen wehrte. Warum? Zwei Möglichkeiten: 1. Er war schuldig und wusste deshalb, dass es ihm bald an den Kragen gehen würde. 2. Er war schuldig, aber nicht des Mordes, sondern nur des Angriffs zuvor und wusste daher, dass die Polizei zu vollkommen falschen Ansichten kommen würde und er am Ende eventuell für ein Verbrechen baumeln würde, mit dem er nichts zu tun hatte.
Wie dem auch sei, unter Aufbietung aller Mittel gelingt es den Beamten schließlich, den Mann, der später als Kosminski bekannt werden sollte, ins Seaside Home zu schaffen und mit Schwartz zu konfrontieren. Beide stehen sich gegenüber, blicken einander in die Augen. Sowohl für Verdächtigen und Zeugen als auch für die anwesenden Beamten ist gleich klar, dass die beiden sich erkannt haben. Ich nehme an, der Verdächtige, sollte er zuvor mit Gewalt reagiert haben, dürfte auch jetzt nicht gerade ein Ausbund innerer Ruhe gewesen sein und vielleicht fühlte Schwartz sich ja dadurch wieder bedroht, selbst wenn die Polizisten die Situation eigentlich im Griff hatten. Vielleicht hat der Verdächtige aber auch rumgebrüllt, verzweifelt geschrien, zu erklären versucht, dass das doch alles ein entsetzliches Missverständnis sei, er habe zwar eine Auseinandersetzung mit Stride gehabt, doch sei diese nicht tödlich geendet. Wie dem auch sei, aus irgendeinem Grund wird Schwartz unsicher. Entweder, weil er sich trotz Polizei immer noch bedroht fühlt, oder weil er der Beteuerungen des Verdächtigen wegen selbst ins Grübeln kommt. Immerhin hat er den Mord selbst nicht gesehen, also was, wenn der Mann die Wahrheit sagt? Wenn er Stride wirklich nicht ermordet hat, sondern das Ganze nur eine Verkettung äußerst unglücklicher Umstände war? Schwartz ist klar, das Leben dieses Mannes hängt von ihm ab. Wenn er aussagt, wird der Verdächtige wohl am Galgen landen, nicht nur wegen seiner Aussage, sondern auch, weil die Stimmung der Polizei gegenüber äußerst angespannt ist und die Beamten ein Erfolgserlebnis brauchen. Er hat gesehen, was in ihnen vorgeht, wie begierig sie darauf sind, jemanden für die Taten zur Rechenschaft zu ziehen. Er hat gesehen, wie viel sie von ihm erwarten, dass er ihre einzige Hoffnung ist. Doch Schwartz schwankt, ist sich gar nicht mehr so sicher. Auf jeden Fall will er nicht verantwortlich sein, dass jemand seinetwegen an den Galgen wandert und möglicherweise am Ende doch unschuldig ist. Eventuell appelliert der Verdächtige auch an religiöse Gefühle und Schwartz erkennt, dass er ebenfalls ein Jude ist. Ein Umstand, der seine Zweifel vielleicht noch einmal bestärkt hat...
Naja, genug phantasiert... Irgendwie lässt sich in dem Fall aber auch aus allem eine Theorie stricken, wenn man sich nur ein bisschen Mühe gibt.