Wir scheinen hin und wieder ein wenig aneinander vorbei zu schreiben, denn grundsätzlich sind unsere Standpunkte ja gar nicht so verschieden. Schöner Beitrag.
So unernst nehmen muss man das gar nicht, es ist durchaus ein plausibles Szenario, das eine Möglichkeit aufzeigt, wie es zu dieser strikten Meinung der Herren Anderson und Swanson kommen konnte, der jüdische Zeuge habe sie ins Unglück gestürzt, um es etwas dramatisch auszudrücken. Natürlich ist es, wie du sagst, "nur" eine Geschichte, allerdings ist es eine, die eine recht plausible Erklärung für gewisse Haltungen liefert, die sich im Laufe der Zeit bei einigen Mitgliedern der Polizei etabliert haben - und das ist schließlich der Zweck aller guten Geschichten, etwas, was man nicht begreift, durch einen eher spielerischen Umgang damit, erklär- und begreifbar zu machen. Ich denke, du dürftest im Kern der Wahrheit recht nahe gekommen sein, die Überzeugung, dem jüdischen Zeugen die Schuld daran anzulasten, dass der Ripper nie gefasst wurde, dürfte sich bei den beiden erst mit dem Fortschreiten der Jahre so unumstößlich festgesetzt haben. Swanson und Anderson sollen ja auch privat sehr gut miteinander gekonnt haben, da ist es durchaus möglich, dass sie sich auch nach Dienstschluss häufiger mal zusammengesetzt und über die verschiedensten Dinge diskutiert haben. Bei so einer Zusammenkunft kann ich es mir gut vorstellen, dass sie da zusammen saßen - eventuell mit dem einen oder anderen Glas Hochprozentigem in der Hand - und kopfschüttelnd Revue passieren ließen, wie ungünstig sich die Nachforschungen im Ripperfall doch entwickelt haben. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich dabei ein gewisser Wunsch in beiden breit gemacht hat, die Verantwortung für die verfahrene Situation etwas von sich wegzuschieben - und was ist dabei praktischer als ein Zeuge, der den Verdächtigen, den beide offenbar ganz oben auf ihrer Liste hatten, nicht identifizieren konnte oder wollte. Ja ja, denken sie, wäre das doch mal anders gelaufen.
Aber weil das Leben nun mal kein Möbelmarkt ist, in dem sich viktorianische Kriminalbeamte einen schönen großen Tisch aus Holzimitat aussuchen können, der perfekt in die schmucke Essecke passt, sitzen wir hier und müssen spekulieren, wie was wo genau gewesen sein könnte und wie man einzelne Aussagen interpretieren soll. Es mag ja eventuell schon aufgefallen sein: Ich bin jemand, der sehr genau hinsieht, wenn es darum geht, wie gewisse Menschen in einer gewissen Situation gewisse Dinge formulieren. Tut mir leid, aber da werde ich zum Paragraphenreiter und abheftenden Beamten. Besonders, wenn es sich dabei um Dinge handelt, die der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Dinge, wie Andersons Biographie zum Beispiel. Als hohem Polizeitier, der im Laufe seiner Karriere wahrscheinlich unzählige Berichte abgefasst hat und wohl auch der Presse gegenüber regelmäßig über sein Tun Rechenschaft ablegen musste, dürfte ihm mehr als vielen anderen klar gewesen sein, wie vorsichtig man sein muss, wenn man Informationen weitergibt oder einen Bericht darüber ablegt, wie weit oder wie wenig weit man nun denn eigentlich ist. Das von dir in deinem Post angeführte Beispiel finde ich dabei ganz schön: "His people". Bei so einer Formulierung dürfte zuvördert wohl dem verschwörungsfreundlichen Ripperologen das Herz übergehen, ist diese Bezeichnung inhaltlich doch so vage, dass sie ihm unzählige Deutungsmöglichkeiten liefert. Der nüchterne Betrachter natürlich ist etwas verärgert, er würde sich etwas mehr wünschen, etwas Handfesteres, etwas, das ihm sagt: Genau das mein ich. Sei es wie es sei, Anderson wollte uns den Gefallen nicht tun, und deshalb müssen wir versuchen, der Sache spekulativ auf den Grund zu gehen. Also... Was oder wen kann er damit gemeint haben?
Im Zusammenhang damit, dass bei Swanson und Anderson die Behauptung auftaucht, der Zeuge habe eine Aussage verweigert, weil der Verdächtige ein Mitjude war und er folglich nicht dafür verantwortlich sein wollte, dass er gehängt wird, könnte man annehmen, dass es in Whitechapel eventuell eine starke jüdische Gemeinschaft gegeben haben könnte, die sich durch einen brüderlichen Zusammenhalt auszeichnete. Der Verschwörungstheoretiker wird an dieser Stelle wohl in Jubelgeschrei ausbrechen. Dem Rationalisten wird an dieser Stelle eher auffallen, dass diese Erklärungsweise wohl am Ehesten dem entspricht, was man ein Vorurteil nennt. Die Idee vom weithin vernetzten Judentum, das hinter den Kulissen die Fäden für was auch immer zieht, ist ja ein recht beliebtes Propagandamittel antisemitischer Gruppierungen, um für negative Stimmung zu sorgen. Und falls es tatsächlich eine jüdische Gemeinde gegeben haben sollte, die auch über den religiösen Aspekt hinaus miteinander verbunden war, dann lag das wohl eher an der generellen Stimmung den Juden gegenüber, aber dass diese Gemeinde dann so stark sein sollte, dass es ihr mühelos gelang, den gefährlichsten Mörder jener Tage seiner gerechten Bestrafung zu entziehen, muss man doch eher bezweifeln. Und selbst wenn: Ist es wahrscheinlich, dass eine Gemeinde in der Gemeinde, welcher Art auch immer, so etwas tun würde? Ich sage mal, eher nicht. Denn wenn auch nur ein Wörtchen davon an die Öffentlichkeit dringen würde, wäre das Geschrei unter der Bevölkerung wohl entsprechend groß und der Mob würde wohl an einige Türen klopfen. Somit würde sich das eigentliche Ansinnen - nämlich die jüdische Bevölkerung vor Hass und Anfeindung zu schützen - schlagartig in sein Gegenteil verkehren. Strategische Schlappe würde ich sagen. Zudem es auch reichlich gewagt ist, einer Gruppe zu unterstellen, sie würde einen gefährlichen Irren decken, nur weil dadurch eventuell verhindert wird, dass ein schlechtes Licht auf alle Mitglieder dieser Gruppe fällt. Insofern ist Andersons Formulierung nicht nur vage, sondern in dem Fall auch gefährlich, da sie etwaige vorhandene Ressentiments noch zusätzlich schürt und ich kann durchaus verstehen, dass ihm auf Grund dieser Lesart vorgeworfen wird, eventuell selbst Antisemit zu sein.
Die andere, etwas plausiblere Möglichkeit ist, dass sich Anderson damit auf Familie und Freunde bezog. Wenn das aber der Fall sein sollte, wieso schreibt er dann nicht Family & Friends? “His people” wirkt, wie vieles in dem Fall, sehr ungenau. Und ein bisschen werde ich da den Verdacht nicht los, dass der gute Anderson, sehr überzeugt von der eigenen Theorie, schwer nachprüfbare und generell recht gemein gehaltene Informationen zum Besten gibt, die seine eigene Sichtweise untermauern. Wären da nicht Swansons Notizen, würde nach Andersons Anschauungen wohl heute kein Hahn mehr krähen. Die ganze Ermittlung scheint irgendwie vom Pech verfolgt gewesen zu sein, und Schuld daran war jeder - nur eben nicht Andersons Abteilung. Aber mit Familie und Freunden lässt sich wenigstens eine Hypothese aufstellen, die weniger gewagt und ganz frei von irgendwelchen zwielichtigen Gestalten ist, die aus dem Dunkel heraus Intrigen spinnen. Denn in diesem Fall muss man für einen Grund, warum der Verdächtige von seinen Leutchen geschützt wurde, nicht lange suchen. Mehr noch: Man muss nicht mal irgendwelche niederen Motive suchen (was einige aber irgendwie immer tun, da ist dann gleich von Schande für die Familie und so weiter die Rede). Hier kann man einfach beim Naheliegendsten bleiben. Der gute Anverwandte wird irgendwann früh morgens, als er sich im Bett gerade noch einmal herumdrehen wollte, von ein paar kräftigen Uniformierten abgeholt, um ihn fernab der großen Metropole dem identifizierungsunwilligen Zeugen gegenüberzustellen. Die Identifikation scheitert (aus welchem Grund auch immer), der Delinquent wird wieder in die Obhut seines Bruders oder Schwagers oder Sonstwases übergeben und die Familie reagiert, wie eine Familie in solchen Fällen eben meistens reagiert. Der Verdächtige wird zwar von seinen Verwandten mit etwas Besorgnis betrachtet, da er in letzter Zeit vielleicht den ein oder anderen Aussetzer hat, in fremden Zungen redet und sich die Schuhe nicht mehr selbstständig zubinden kann, aber dass der nachts losziehen und Frauen aufschlitzen soll? Nein, das geht doch ein bisschen zu weit. “Die spinnen doch, die Römer.” Gut möglich, dass der Verdächtige dann erst im Laufe der Zeit auch andere, vielleicht etwas mehr in Richtung Gewalt (besonders gegen Frauen) tendierende Neigungen gezeigt hat. Gut möglich, dass das dann der Auslöser war, der die Verwandtschaft bewog, einen ruhigen, sicheren Ort für den Verdächtigen zu finden, wo er in Sicherheit ist und - vor allem - keine Gefahr mehr, ob nun für sich oder andere. Gut möglich auch, dass der eine oder andere aus der Familie dann zu dem Schluss kommt, an den Behauptungen der Polizei könne am Ende doch etwas dran sein - auch wenn ich eher geneigt bin anzunehmen, dass die meisten die Realität ( so sie denn eine war) weiter geleugnet hätten, einfach weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Wie gesagt, würde uns heute nur Andersons Machwerk zur Verfügung stehen, würde ich mich damit wohl nicht groß beschäftigen. Erst Swanson sorgt mit seinen Notizen dafür, dass die ganze Sache ein Fundament erhält. Außerdem gibt es dann ja noch die Aussagen von Cox und Sagar, die eventuell vom selben Verdächtigen sprechen, auch wenn wir da nicht sonderlich sicher sein können. Der grundsätzliche Knackpunkt aber ist, dass man eigentlich für jede uns bekannte Theorie, einem oder mehreren aus dem Polizeikreis, die uns irgendwelche Ansatzpunkte hinterlassen haben, einen oder mehrere Fehler unterstellen muss. Das wäre für sich genommen ja noch nicht weiter tragisch, allein die Frage, wer genau der Fehlerteufel ist (oder besser gesagt der größte Fehlerteufel, denn der ein oder andere Schnitzer dürfte jedem unterlaufen sein), bringt mich immer wieder zum Grübeln. Keine einzige Theorie bringt wirklich alle Aussagen unter einen Hut. Ich habs ja schon mal erwähnt, am ehesten tendiere ich in dieser Angelegenheit dazu, Swanson das größte Vertrauen entgegenzubringen, aber andererseits wird er zu 100% auch nur von Anderson gedeckt… Und dabei, den einzuordnen, hab ich wirklich Schwierigkeiten.