Hallo Lestrade,
ich möchte mich im Voraus für den folgenden Marathon-Text entschuldigen, aber mir schoss gerade einiges zu den verschiedenen angesprochenen Aspekten durch den Kopf.
Du hast ja selbst mal gesagt, falls ich mich recht erinnere, ob sie vielleicht schon getrennt lebten (oder zumindest zeitweise). Jacob war Syphiliskrank aber Sarah bekam noch Kinder und zwar 6 Stück zwischen 1884 und 1890. Zumindest zum Schluß ging sie ein ordentliches Risiko ein, würde ich sagen.
(...)
Wie konnten die eigentlich ein Geschäft führen? Er krank, verurteilt, Gefängnis, Anstalt, sie stets schwanger... Ärger mit Sampson und dann doch Nachbarn mit ihren Shops... da fragt man sich, ob Sarah was mit Sampson hatte und er ihr half, während sie versuchten Jacob loszuwerden...
Levy muss ja Neurosyphilis gehabt haben, die das Hirn befiel und ihn dadurch schließlich psychotisch machte. Und bei Tracy Ianson habe ich gelesen, dass diese Form der Syphilis nur in ihrer ersten Phase für ein paar Monate infektiös war. Sobald Jacob in die zweite Phase der Erkrankung kam, stellte er für seine Frau keine Ansteckungsgefahr mehr da.
Aber natürlich wissen wir nicht, ob tatsächlich alle Kinder von ihm stammten - Kuckuckskinder sind ja nicht selten. Sampson dürfte es m.E, aber wohl eher nicht gewesen sein, denke ich, der starb auch irgendwann zwischen 1887 und 1890, wenn ich mich recht erinnere.
Mit Jacobs fortschreitender Erkrankung brauchte Sarah jedenfalls irgendwann sicherlich Hilfe, ihre ältesten Kinder waren dazu schon alt genug und laut Census 1891 wohnte ja auch spätestens ab 1890 zusätzlich ihre kleine Schwester "Flora Abrahams, aged 23, born Whitechapel - Tailoress" bei ihnen.
North Eastern Daily Gazette, 18. September 1889: "He is a curious sort of fellow; in business, but not doing much to keep it going. His wife and daughter see to it, and he is out at all hours of the night." Vielleicht hielt da jemand Sarahs jüngere Schwester für ihre Tochter?
Und vermutlich gab es ja auch noch Unterstützung, die nicht dort wohnte: Man denke an Jacobs Bruder Isaac direkt um die Ecke in der Goulston Street. Er könnte Jacob zeitweise bei sich aufgenommen haben, um Sarah zu entlasten. Wie schreibt Swanson zur misslungenen Seaside Home Identifizierung: Sie brachten den Verdächtigen ZURÜCK in das Haus seines Bruders, wo er Tag und Nacht überwacht wurde.
Das würde doch dazu passen, dass Sarah und Jacob am Ende schon zeitweise getrennt lebten.
Und nicht zuletzt vergessen sollten wir unsere kühne Spekulation mit Aaron Kozminski bei den Levys... Die zwei verrückt gewordenen Juden, die vielleicht verwechselt wurden, und beide der Ripper gewesen sein könnten... ;-)
Zum Macnaghten Memorandum denke ich, dass es jener schon auf gewisse Weise recht ernst nahm. Er war interessiert an der ganzen Sache und vielleicht sogar sehr fasziniert. Er selbst schwor irgendwie auf Druitt, gleichzeitig sprach er dann aber von dem "überzeugenden Verdächtigen" Kosminski, der sehr wahrscheinlich einer der, wenn nicht gar der Hauptverdächtige (für eine Reihe bzw. bestimmte Beamte) gewesen war.
Gegenüber Macnaghtens Memorandum bin ich nach wie vor skeptisch:
Er war der Polizeichef und hatte theoretisch Zugriff auf alle Akten und konnte von den Ermittlern zusätzlich Info aus erster Hand erfragen.
Dennoch strotzt das Memorandum - mit dem er explizit falsche Informationen widerlegen will - vor Ungenauigkeiten und Fehlern insbesondere bei seinen drei aufgeführten Verdächtigen.
So erscheint ausgerechnet Druitt als einer seiner Kandidaten (weil er angeblich irgendwelche privaten Informationen von dessen Familie hatte). Niemand sonst hielt Druitt ernsthaft für den möglichen Ripper - Inspektor Abberline äußerte sich später abfällig darüber, das einzige was Druitt mit den Morden verbinde, sei die Tatsache, dass er zufällig kurz danach Selbstmord begangen habe.
Und Kosminski soll schon im März 1889 eingeliefert worden sein, obwohl er noch bis 1891 frei herumlief? Hätten sie ihn beobachtet, hätte der Zeitraum und das Einlieferungsdatum in den Akten gestanden.
Macnaghten hatte mit den Ermittlungen im Ripper-Fall nichts zu tun gehabt und musste sich auf das verlassen, was die involvierten Beamten in Akten geschrieben oder ihm gesagt hatten, und seine eigenen Schlüsse daraus ziehen.
Er behauptete ja auch: Niemand sah je den Ripper. Das klingt so, als wüsste er von der Seaside Home Identifizierung nichts oder wollte sie verschweigen!
Mir kommt das so vor, als hätten Anderson und Swanson die misslungene Identifizierung nie in den Akten aufgenommen und mit allen Beteiligten Stillschweigen über diesen skandalträchtigen Reinfall vereinbart.
Die für uns unangenehmere Alternative wäre, dass Macnaghten recht hatte und tatsächlich niemand jemals den Ripper sah. Dann hätten aber Anderson und Swanson lediglich als späte Rechtfertigung ihres Versagens irgendeine unbedeutende Ermittlungs-Sackgasse einer weiteren misslungenen Identifizierung als Teilerfolg aufgeblasen, um nicht ganz so schlecht in der Geschichte dazustehen. Denn dafür, dass ein Zeuge seine Aussage zurückzieht, können die Polizisten ja nichts.
Nach dem Motto: Wir hatten ihn eigentlich, aber der Zeuge brach ein und so mussten wir ihn zähneknirschend gehen lassen, obwohl wir wussten dass er es war. Glücklicherweise landete er schließlich im Irrenhaus...
Ich finde die sich widersprechenden Informationen der Polizeispitze frustrierend.
Ich nehme wie du die Aussagen von Anderson und Swanson zur Identifizierung eines Verdächtigen sehr ernst, kann aber dem Macnaghten Memorandum aus den genannten Gründen nur skeptisch gegenüber stehen.
Und dass es in dem Fall auch zu Verwechslungen kam, ist ja leider evident. Robert Anderson veröffentlichte seine Memoiren "The Lighter Side of My Official Life", in die Swanson seine Anmerkungen machte, erst 1910 und nannte keinen Namen. Vielleicht hatte Swanson nach 20 Jahren auch wegen des Macnaghten Memorandums irrtümlicherweise den Namen Kosmiski im Kopf, als er seine Anmerkungen schrieb? Möglich wäre das.
Kurz und gut: Nach allem, was ich bisher über den Fall weiß, sind für mich derzeit zwei ernsthafte Kandidaten im Rennen: Aaron Kozminski und Jacob Levy.
Wenn wir Pech haben, steht der wahre Ripper nirgendwo namentlich in den erhaltenen Quellen, und wir ackern uns hier an ein paar Unschuldigen ab.
Lass uns sehen, was die Zukunft vielleicht noch an interessanten neuen Details bringt, und in welche Richtung sie weisen. :-)
MfG, Arthur Dent