Autor Thema: Kisch: Reportage aus Whitechapel  (Gelesen 13614 mal)

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Offline esm

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Kisch: Reportage aus Whitechapel
« am: 17.04.2008 21:41 Uhr »
Folgendes in meinen Augen beeindruckendes Stück Literatur (kein Roman, sondern eine Reportage) stammt aus der Feder von Egon Erwin Kisch, den der ein oder andere vielleicht kennt. Ich weiss allerdings nicht, wann Kisch in London war, es muss so ca. 20 Jahre nach den Ripper-Morden gewesen sein. Scheint sich nicht viel geändert zu haben.
Ich vermute, dass ein derartig authentischer Einblick in das zeitgenössische East End in deutscher Sprache mehr oder weniger einzigartig ist.

Ist über OCR gelaufen - daher Fehler wahrscheinlich.


"Auch die Männer und Burschen, die in schmutzigen Fetzen in den Haustoren und Fenstern der Lumpen quartiere Ost-Lon­dons zu sehen sind, sind schon bedauernswert genug. Aber sie haben wenigstens ihre Schlafstelle, sie haben doch das Glück, sich in den niedrigen Stuben mit einigen andern Schlafgenossen auf den Fußboden betten zu dürfen, sie haben also immerhin ein Heim. Sie sind reich gegen die Obdachlosen, die sich müde durch die Schlammdistrikte schleppen; hoffnungslos hoffen sie von den anderen Armen einige Pence zu kriegen, damit sie nicht auf dem Embankment an der Themse im Froste nächtigen müssen.
Und diese Allerelendsten der Elenden sind noch in Gesellschaftsschichten geteilt, noch unter diesen Obdachlosen bestehen Vermögensunterschiede. Wer sieben Pence erbettelt hat und sie für das Nachtlager zu opfern bereit ist, kann in einem der fünf Lord-Rowton-Lodging-Houses oder in einem der vom Londoner Country-Council errichteten Bruce-Houses ein Kämmerchen mit Bett und Stuhl mieten; wem der Tag nur sechs Pence beschert hat, kann im Volkspalast Logis beziehen und sich bei etwas Phan­tasie in einen Klub versetzt glauben. Allein wer selbst diese spär­liche Zahl von Pfennigen am Abend nicht beisammen hat und gar nicht daran denkt, in den „Casual Wards" das bißchen Nachtquartier am Morgen mit harter Steinklopfarbeit zu be­zahlen, der zieht in eines der acht Londoner Heilsarmee-Nacht-Asyle, von denen natürlich das Whitechapler die traurigsten Gäste beherbergt. Allabendlich wankt ein Zug, mühselig, schmutz-starrend, frierend, altersschwach und notgebeugt in die Middle-sex-Street, die am Sonntag der Tandelmarkt mit lautem Gewoge erfüllt. Hier steht an einer Straßenecke das Asyl der Heilsarmee. Mein Kostüm war mir fast übertrieben zerfetzt erschienen, als ich es angelegt hatte. Ein Blick auf meinen Nachbar belehrte mich eines besseren. Der Mann, der hier vor der Eingangstür in seinen Lumpen den Dienst eines Heilsarmee-Funktionärs ver­sah, hielt mich auch noch der Frage wert:
„Bett oder Pritsche?"
„Um drei Pence."
„Also Pritsche. Die Treppen hinunter." So steige ich denn die Stufen zur Unterwelt hinab, während die Reichen, die im Ver­mögen von fünf Pence waren, es sich oben im Schlafsaal gut­gehen lassen können. Am eng vergitterten Schalter, wo mein Name in das Logierbuch eingetragen wird, bezahle ich meine Miete und erhalte eine Quittung darüber mit der Bettnummer 3o8 zu­gewiesen. Dann trete ich in den Versammlungssaal ein: ein drei­eckiger, großer Kellerraum, von Reihen grob gezimmerter Bänke erfüllt. An der Wand ein Podium mit einem von Wachsleinwand bedeckten Harmonium, — anscheinend ist der Abendgottesdienst schon vorbei. Die Kellerdecke ist von sechs Eisenträgern gestützt, längs der Wand verlaufen Heizröhren.
Was die Stadt in ihren tiefsten Abgründen nicht mehr zu halten vermochte, was selbst Whitechapel, dieses Asyl der Despe­rados aller Weltteile nicht mehr aufzunehmen gewagt hatte, was zu Bettel und Verbrechen nicht mehr geeignet ist, scheint hier abgelagert worden zu sein. Da sitzen sie und verderben die warme Luft. Der eine schnallt seinen Holzfuß ab und lehnt ihn an die Bank. Der andere macht Inventur, einige hundert Ziga­retten- und Zigarrenstummel neben sich ausbreitend. Einer holt aus seinem Schnappsack die Dinge hervor, die er wahllos aus dem Rinnstein aufgelesen : Stücke alten Brotes, den Rumpf einer Puppe, zusammengeballte Zeitungen (er glättet sie sorgfältig), den Rest einer Brille, das Rudiment eines Bleistiftes. Einer bindet sein Bruchband zurecht, einer wickelt seine Fußlappen ab, einer verdaut hörbar, — alle Sinne werden gleichzeitig ge­foltert.
Die Mehrzahl der Gäste sind Greise, mit grauen Haarsträhnen, zerzaustem Bart und Augen, die sich nicht mehr zu der Arbeit aufraffen können, einen Blick zu tun. Teilnahmslos starren sie ins Leere. Nur wenn ein Essender oder etwas Eßbares in den Bannkreis dieser Augen kommt, flackert in den matten Pupillen Leben auf, und sie richten sich gierig, neidisch, sehnsüchtig auf den Schmaus.
Am Schalter der Kantine hängt ein Zettel, auf dem steht, zu welcher Stunde Mahlzeiten erhältlich sind, jedoch man kann die Schrift nicht lesen, denn eine Armee von Mauerasseln hockt auf dem Papier. Der Kantineur ist einäugig. Vielleicht ist er — wie die meisten Funktionäre der Heilsarmee — früher selbst ein Ob­dachloser gewesen und hat in einer der blutigen Schlachten, die im Bereich des einstigen Jago-Gourt noch heute manchmal ent­brennen, sein Auge verloren. Nun reicht der bekehrte Polyphem den Hungrigen Speise und Trank. Ein Stück Brot kostet einen Farthing — die Scheidemünze, die man im übrigen England gar nicht mehr kennt, hat hier ihren Geldwert. Jede der übrigen Speisen ist für einen halben Penny zu haben. Auf Tassen aufge­schichtet liegen geräucherte und gesalzene Heringe, aus einem Kessel wird ein Blechgefäß mit Suppe gefüllt, aus einer Schüssel reicht man dem Käufer eine Portion Haferschleim, und aus einem an der Wand stehenden Kupfersamowar strömt beim Auf­drehen des Hahnes fertiger Tee. Von Zeit zu Zeit schreitet ein Asylbediensteter die Bankreihen ab, um die geleerten Schalen zu sammeln.
Ich hatte schon gehofft, auf meiner Bank angekleidet schlafen zu können. Aber es sollte schlimmer kommen. Um halb neun Uhr abends schrillt ein Pfiff, und es wird verkündet: „In die Schlafsäle." Barfüßig, die zertrümmerten Stiefel in der Hand, verlassen alle das Lokal. Der Einbeinige macht sich nicht erst die Arbeit, seinen Holz fuß wieder anzuschnallen : mühselig hüpft er auf einem Bein hinaus. An der Stiege müssen wir einem Kon­trolleur unsere Zettel vorzeigen. „Beds No. 211—321" steht auf einer Tür. Wir sind also zu Hause. Der Raum, den wir betreten, ist genau über unserem bisherigen Aufenthaltsort gelegen und diesem vollständig kongruent. Jetzt aber haben wir nicht mehr das Gefühl, in der Hölle zu sein ; jetzt sind wir in einer Gruft. Vom Gewölbe brennen zwei oder drei Lämpchen düster und ge­spenstisch auf lange Reihen schwarzer Särge herab, die auf nied­rigen Katafalken ruhen. Das sind — um sich des auf die Türe geschriebenen Euphemismus zu bedienen — die „Betten". (Der Mann am Eingang halte mir von Pritschen gesprochen.)  Ich rechne im Kopfe: 321 minus 211 = 110. Hundertzehn enge ruhen, mit einem Überzug aus schwarzer Wachsleinwand bedeckt. Darunter ein Bettuch und ein Polster aus Dreileinen, dessen unheilvolles Grau möglicherweise nur davon herrührt, daß es zu oft gewaschen wurde.
Und schon beginnt der Totentanz. Meine Zimmerkollegen haben ihre Lumpen von sich geworfen, nun stehen die vielen, vielen Gerippe nackt oder in Totenhemden an ihren Särgen und lupfen ihr Bahrtuch zurecht. Dann schlüpfen sie in ihre Ruhe­stätte. Manche suchen erst mit einem brennenden Streichhölzchen ihr Lager ab. Haben diese von tausendfältigen Bissen und Stichen des Lebens zerfleischten Leiber noch aus längst ver­gangenen besseren Tagen den Abscheu vor dem Ungeziefer ge­rettet? Oder aber wollen sie diese Empfindlichkeit nur vor­täuschen? Es wird kaum mehr als „Hochstapelei" sein. Denn alle die Suchenden legen sich schließlich in die ihnen zugewiesene Schachtel zur Ruhe, und es bliebe ihnen ja doch auch dann nichts anderes übrig, wenn ihr Suchen von noch so großem Er­folg begleitet gewesen wäre.
Ich möchte gern warten, bis das Licht verlöscht, damit ich un­bemerkt in Kleidern und Stiefeln ins Bett schlüpfen kann. Aber leider hat sich zwischen meinem Nachbar zur Linken, einem ungefähr zwanzigjährigen Rowdy, und einem etwas älteren Kolle­gen ein Gespräch entsponnen, das sich neben meinem Bette ab­spielt.
„Woher kenne ich dich?" fragt der Ältere, „ich kann mich nicht erinnern."
„Aus Pentonville." Der Junge sagt das ostentativ laut. Anschei­nend will er, es mögen auch andere vernehmen, daß er schon im Zuchthaus war.
„Bist du schon lange draußen?"
„Oh, seither war ich wieder im Police-Court."
„Wie kamst du heraus?"
„Danny Rowlett stood bail for me."
„Weshalb?"
„Er brauchte mich." Das ist noch stolz gesagt, und mehr ver­rät der Junge nicht.
Der Ältere gibt sich keineswegs mit der Auskunft zufrieden, daß Danny Rowlett sein Vorrecht, steuerzahlender Bürger Lon­dons zu sein, zur Bürgschaft für den jungen Kriminellen nur verwendet habe, weil er diesen brauchte. Das hatte auch ich nur schon gedacht, obwohl ich nicht die Ehre habe, den Mister Danny Rowlett zu kennen, dessen Diminutiv-Taufname darauf schlie­ßen läßt, daß er in den Kreisen derer von Pentonville eine ge­wisse Popularität genießt. Wozu jedoch hat er meines Bettnach­barn so dringend bedurft? Ich werde es nie erfahren. Wohl aber erfährt es der Zuchthauskollege. Mein Anrainer hat ihn wichtigtuerisch mit einem längeren Blick geprüft, und nun be­ginnen sie zu tuscheln. Ich sehe mich gleichermaßen um die Fortsetzung des Gespräches wie um meine Nachtruhe in Kleidern betrogen. Warten kann ich nicht gut, denn das Geschäft am Nebenbett mag noch lange dauern. Wahrscheinlich hat Danny Rowlett durch seine Bürgschaft den jungen Mann aus der Zelle im Polizeigefängnis nicht deswegen befreit, um ihn hier, im Massenquartier von Whitechapel. nächtigen zu lassen. Der opfer­willige Bürge hätte ihm doch leicht auch ein schöneres Nacht­lager verschaffen können. Der Grund, weshalb der gute Boy zur Armee des Heiles zu Gaste kam, wird also ein geschäftlicher sein. Er sucht einen Kompagnon.
Ich muß mich dazu bequemen, dem älteren der Burschen den Tausch unserer Lagerstätte vorzuschlagen, damit er besser mit seinem Associe verhandeln könne und mich nicht weiter störe. Der Mann nimmt an. ohne meine Freundlichkeit besonders zu quittieren — er empfindet sie zweifellos als einen Akt des Respekts, der ihm. dem Absolventen von Pentonville, von Rechts wegen zukommt. Mit einer knappen Handbewegung zeigt er mir sein Bett, das von nun an meines ist.
Meine neuen Nachbarn sind längst in den Chor des Schnar­chens eingefallen, der den Saal hundertstimmig erfüllt. Der eine hat die schwarze Wachsleinwandflecke über den Kopf gezogen, des andern zerzauste Gehirnschale lugt aus dem grauen Grob­linnen schaurig hervor. Die Lichter verlöschen, und nur das schwerfällige Knarren von hundert Sägen sagt mir, daß ich in Gesellschaft bin. Manchmal dringt ein Anfall von verzweifel­tem Husten zu der Truhe herüber, in der ich, auf meinen Arm gestützt, gerne einschlafen möchte.
Früh um sechs Uhr : ein Pfiff. In den Särgen zuckt es, dann tauchen Schädel auf. Knochen recken sich empor, von Strahlen des Morgens fahl beleuchtet. Wie Lebende reiben sich diese Toten die Augen und strecken sich. Dann stehen sie auf und ziehen die Lumpen an, die sie abends über den Stuhl gelegt haben. „In den Waschraum", heißt das Aviso. Nur wenige leisten der Auf­forderung Folge. Sie sind keine Gecken mehr, sie haben beim Fechten ums Dasein die menschlichen Eitelkeiten abzulegen ge­lernt. Im Waschsaal, an den braunirdenen Wasserbecken, stehen meist nur jüngere Kollegen, die der kosmetischen Wirkung des Waschwassers in ihrem Berufe als Geliebte ihrer Geliebten nicht entraten können. An Rollen hängen lange, hellgraue Handtücher für viele. Nun geht es wieder hinunter in den Kellerraum, woher wir abends gekommen sind. Ein Mann von der Heilsarmee liest ein Gebet, es folgt eine kurze, fromme Ansprache und wieder ein Gebet. Jetzt kann man um einen Halbpenny Tee und um einen Farthing Brot erhalten, und das Tor öffnet sich. Endlich, denke ich, und atme der Luft entgegen. Die andern aber, ducken sich vor dem ersten Hieb der Kälte."

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London ist anders. Nicht nur anders, als es in den landläufigen Vorstellungen lebt, auch ganz anders als alle andern Städte der Welt. In Paris kann sich niemand mehr verirren, der einen Stadtplan mit den beiden konzentrischen Boulevardkreisen ge­sehen; mit den Körut in Budapest, der Ringstraße und dem Gürtel in Wien, mit den Boulevards in Brüssel ist es ziemlich ähnlich; in Berlin orientiert man sich, da die Gattung der Straßennahmen in jedem Viertel einer bestimmten Begriffsgruppe entnommen ist. Ja, selbst in Städten, deren Sprache man nicht versteht, findet man sich schneller zurecht als in London. In Griechenland, wo die Aufschriften neugriechisch sind, in den Dörfern Südungarns und des slawonischen Istrien, im Konstanti­nopel des alten Regimes und drüben im wildesten Kleinasien, wo keine Menschenseele eine Kultursprache versteht, ist man rasch heimisch. Aber hier in London — nirgends gehen Straßen und Plätze so wirr durcheinander, nirgends sind Sitten und Lebensweise so verschieden von denen des übrigen Europa wie in London. In den ersten Wochen muß man Angst haben, irgend­wo in Hendon oder in Blackheath oder in Walham Green aufzu­tauchen, von wo kein Bus und keine Tube nach der City Proper führt, wo die Fragen nach den Straßen des Westend mit ver­ständnislosem Achselzucken beantwortet werden. Es ist schwer für jemand, der es nicht von Kindheit an gewohnt ist, sich um sechs Pence von dem mitten in .der Straße auf dem Wagen hockenden Weibe ein Dutzend Austern zu kaufen und diese auf dem Trottoirrand sitzend zu verspeisen, es ist nicht jedes Kon­tinentbewohners Sache, in den Topf mit „snacks and shrimps", der am Bareingang hängt, zu greifen und eine Handvoll von Krabben und Schnecken zum Munde zu führen. Auch die „Kid­neys Pies", die Nierenpasteten, zu zwei Pence verträgt nur der Zehnte. Und in einer Bar des Black-Lion-Yard, wo wir Weißfisch bestellten, mißverstand der Barkeeper und brachte Whist­karten. Fast alles wird stehend gegessen, und wenn man sich einmal nach einem ruhigen Abendbrot sehnt und in ein Hotel am Piccadilly einkehren will, so macht der Portier darauf auf­merksam, daß man einen Frack haben müsse.
Bereits bei der Ankunft merkt man, daß es in London ganz anders ist als anderswo. Der Bahnhof ist eigentlich eine Straße, der Stand der Droschken ist an der Plattform der Züge, man reicht, den Träger ersparend, das Gepäck aus dem Waggon direkt in die Kutsche. Keine Bahn ist staatlich, keine ist privi­legiert. Das Bahnhofsgebäude ist ein vierstöckiges Hotel. Im Hansom, der zweirädrigen Sänfte, fährt man ins Boarding House ; der Kutscher sitzt hinter den Passagieren und führt über deren Kopf die Zügel. Von den Türmen schlägt es 8 Uhr morgens; jeder Glockenschlag ist ein vierfacher Akkord. Das Frühstück wird serviert: Tee mit Toast und einem unförmigen Brot (oder ist's die Mißgeburt einer Riesensemmel?), mit Marmelade und Butter und mit drei Gängen, Fische, ein Fleischgericht und Bacon and Eggs.
In den Straßen tobt der Verkehr. Knaben lenken Fuhrwerke, Frauen Automobile, die Kondukteure der Omnibusse preisen ihre Linie an, haarscharf fahren Autotaxi und Motoromnibusse aneinander vorüber, die trabenden Pferde berühren den Kopf der Fußgänger. Überall steht „Bobby" wie ein Fels im Meer, nicht Federbusch noch Waffe leihen ihm Respekt; er stellt sich mit dem Rücken unmittelbar vor den sausenden Motorwagen, hebt die Hand und hinter ihm stauen sich fünfzig Wagen. Da er den Arm sinken läßt, geht sie weiter, die wilde, verwegene Jagd. Mitten im Trubel, ganz nahe vom Hydepark-Corner, zwischen dem königlichen Buckinghampalast und der feudalen Picadillystraße, weiden Schafe in idyllischer Ruhe, als ob sie nicht im Greenpark, sondern in biblischer Landschaft lebten. Vor dem Kino stehen Menschen in etwa zweihundert Meter langer Reihe ; niemand drängt sich, man steht in bequemen Intervallen und liest die Zeitung oder läßt sich von dem Burschen belustigen, der — er sieht aus wie ein heruntergekommener Oskar Wilde —• auf dem Asphalt der Fahrbahn einen Niggertanz aufführt; die Wagen weichen dem Tänzer aus, und Schutzleute schauen ihm zu, bis der Tanz zu Ende ist und der Künstler einsammeln geht. Draußen in östlicheren Bezirken nehmen ein Dudelsackpfeifer oder ein bemaltes Kurbelklavier die Stelle des Tänzers ein. Am Yiktoria-Embankment malt ein fußloser Mann Porträts euro­päischer Staatsmänner mit Buntstiften aufs Pflaster, damit ihm der Passant einen Halfpennv hinwerfe. Von 9 Uhr früh an ver­schleißen Kolportcure die Abendblätter, die von da ab fast jede Stunde erscheinen, immer um Meldungen und an Umfang ver­mehrt, bis das Blatt um 7 Uhr abends dreimal so stark ist. In offenen Läden der City wird von morgens bis abends alles in privater Auktion versteigert. Kaffeehäuser, wo man in Ruhe Zeitungen lesen könnte, gibt es nicht. Die Rechnungen erhält man in dreierlei Münzsorten, Pfund, Shilling und Pence, präsen­tiert. Auch Meter- und Litermaß bestehen für den Engländer nicht, er rechnet nach Feet und Busheis. Zigaretten werden nach Gewicht verkauft, es gibt keine Nachttischchen in Hotelzimmern, die Stubenmädchen sind unnahbar. Um halb 1 Uhr nachts schließen die Restaurants, fahren die letzten Untergrundzüge und es wird fast leer in der bevölkertsten aller Städte.
Nur draußen, am Ostende der Stadt, lebt auch die Nacht. Der Jago-Court, dessen Greuel Morrisons Feder schildert, ist gefallen, seine Greuel leben fort. Schon hinter Iloundsditch, dem Partiewarenhändlerviertel, das in den Schilderungen der großen Anarchistenschlacht von Sydncystreet ärger dargestellt wurde als es ist, und hinter den Minories, deren Trödlerläden bis zum Tower führen, beginnt sich's zu zeigen, daß hier die Not wohnt, — ganz, ganz nahe der Bank von England, der Londoner Börse, den Lloyds, dem Cornhill, dem Lombard und der Fenchurch Street, den Straßen des Waren-, des Wechsel- und des Gcld-verkehrs und denen des Kolonialgroßhandels. Vor den Buden der Fleischer überschreien sich die Ausrufer, an den Wagen der Gemüsehändler feilschen Frauen mit schmutzigen Haaren, und bis auf die Fahrbahn hinaus drängen sich Greise, Männer, Mäd­chen und Kinder in dem Laden, dessen Auslagsschild besagt: „Hier werden Kartoffeln gebraten." Aber noch brennt in Aldgate High Street und in Whitechapel Road scheuchendes Licht elektrischer Lampen, noch stehen Polizeimänner mit Laternen am Gurt und eingerolltem Mackintosh in der Hand an Straßenecken. Erst rechts und links von der Hauptstraße herrscht das Dunkel. An der Sprache kann man den Fremden nicht erkennen, denn hier wird überall Kauderwelsch gesprochen. Der Jargon „jiddisch", ein russisch-deutscher Dialekt, der mit hebräischen Lettern ge­schrieben wird, dominiert. Wer ihn nicht beherrscht, wird als Engländer angesehen, doch in den Nachbarbezirken hält man den, der nicht den „Slang", das Volksenglisch, zu sprechen weiß, für einen russisch-jüdischen Emigranten. „Four Pence-Diningrooms" laden zum Eintritt. Jedes dritte Geschäft ist eine Kneipe. Gin, Whisky, Rum. Brandy, Port, Oatmeal stouts und Pale-Ale aller Sorten werden in Aufschriften angepriesen. Hinter einem Hufeisenschalter re­giert der Barkeeper, umgeben von seinen Gesellen männlichen und weiblichen Geschlechts. Der Wirtshausraum ist durch drei von der Wand bis zur Bar führende Verschalungen in drei Teile geteilt, damit sich das Gedränge nicht auf einen Punkt konzen­triere. An jedem der drei Eingänge hängt ein Topf mit tüchtig gesalzenen Krabben und Schnecken, unentgeltlich zu genießen, denn es bringt Durst. Schmutzige Hände greifen tief in die Gefäße. „Noch einen Brandy!" Der Wirt schiebt das leere Glas hinter das Pult auf eine Metallrinne, zieht an einem schwarzen Kolben, der oberhalb des Glases auf dem Tisch steht, und durch einen Hahn fließt Brandy in des Glas. Etwa dreißig solcher Kolben sind auf dem Tisch angeschraubt: für jedes Tränklein einer. Auch Bier wird ausgeschenkt, in Holzgefäßen und in Zinnkrügen. Man kann sie auf Konsolen stellen, wenn man die Hände frei haben will, um in den Schneckentopf zu langen. Weiber zechen hier (sie tragen Männermützen, mit Hutnadeln festgesteckt), Neger, Söldner in roten Röcken, Inder, Chinesen und Knaben. Auf der Straße vor dem Eingang bläst ein Trompeter eindring­lich ein Lied in das Wirtshaus hinein, um das Spiclhonorar ein-zuheben, wenn die Gäste herauskommen. Weiter gegen Südosten : Whitechapel ist zu Ende, die dunklen Gassen, deren Bezeichnungen nicht mehr zu entziffern sind, gehören zu Stepney und sind südliche Parallelstraßen zu Mile End Road. Niedrige Häuser, vor denen noch spät in der Nacht Kinder spielen und die armen Passanten anbetteln. Durch den Flur blickend, sieht man mitten in die matterleuchtcten Wohn­stuben, wo Leute bei Tisch sitzen oder im Bett liegen. In kleinen Verbindungsstraßen brennt überhaupt kein Licht, und man ist froh, daß man niemandem begegnet.
Aus einer schlecht beleuchteten Schankstube, die auch der lockenden Aufschriften enträt und demnach wohl nur auf ihre Stammgäste reflektiert, wird ein Zerlumpter mit Fußtritten aufs Pflaster geworfen. Sein Weib drängt sich mit seinem Hute aus der Wirtsstube zu ihm, sie stößt schrille Schimpfworte, Flüche und Drohungen aus, paritätisch gegen die Insassen der Bar und gegen ihren Mann. Der wälzt sich auf dem Pflaster und speit. Immer lebhafter wird es, je mehr man sich der Themse nähert. Wie Sperrbäume stehen schlampige Frauenzimmer inmitten der schmalen Gäßchen, an der Ecke lauern ihre Ritter. Die Taver­nen tragen einladende Namen : „Zum guten Freund des Schif­fers", „Zum durstigen Bootsmann", im Innern rasseln Orche-strions. Vor einer Laterne ist eine Menschenansammlung: zwei wütende Burschen von kaum sechzehn Jahren trageneinen Boxkampf aus, die Fäuste prasseln auf Nase und Bauch, die Knöchel auf Kinn und Schläfe, oft so heftig, daß der Angreifer angeknockt zurücktaumelt und zu Boden stürzt, die Kämpfer begleiten ihre Schwinger mit Todesdrohungen und wüstem Geschimpf, das Publikum schürt durch anfeuernde Zurufe das Match, Blut fließt, ein Polizist kommt vorüber und schaut dem Kampfe höchst interessiert zu. Auf Drehbrücken geht es über die Docks, an den endlosen Mauern der Lagerplätze, der Packhöfe und der Warenschuppen vorbei bis zu den Werften, die die Themse umsäumen. Einstmals waren die Rundtürmc des Tower Weltwunder der Höhe; jetzt werden sie überragt von Kranen, Schloten und Masten, die sich in rauchig-dunkler Luft kreuzen. An den Rampen fünfstöckiger Wharps flüstern Stimmen beiderlei Geschlechts, liegende Körper bewegen sich ungeniert. Auch Malaien sitzen da mit baumelnden Beinen ; sie lassen die nächtlichen Fußgänger Revue passieren, und ihr Sinn steht gleichermaßen nach Liebe wie nach Geld. Ihre Augen funkeln unheimlich aus gelbem Gesicht. Ach was, hier gibt's auch wieder mehr Schutzleute. England schützt seinen Handel, und Millionenwerte sind in diesem Bezirke aufgespei­chert. Freilich, die Zahl der Hafendiebstähle ist trotzdem unge­heuer groß und die Polizisten sind sehr gefährdet. Jährlich werden hier dreihundert „Blaue" im Dienst verletzt. Überall ist Gesang in den Schenken, Gegröhle an den Mauern der Häuser, überall verrichten Männer und Frauen ihre Not­durft, überall torkeln bezechte Matrosen, breitschultrige Aus­lader, Nigger und Kulis, die die Schiffe waschen, Gehilfen der Schiffsbauern, Vaganten und Hafenhuren durch verwahrloste Häuserreihen. Ein ungeheurer Hafenbezirk ist es, der von Wapping über Shadwell, Limehouse und Poplar zu durch­schreiten ist, bevor wir durch Bromley wieder auf die Höhe Whitechapels kommen.
Die Gestalten hier haben schwermütigere Gesichtszüge als die im Hafenviertel, wo im Reiche der Millionenware schließlich doch auch Geld unters Volk kommt, wo doch Löhnungen vom Schiff und Laderaum verpraßt werden können. Hier aber, in Spitalsfield, in Shoreditch, in Bethnal-Green und in Hoxton trinkt man nicht, um den Aufenthalt am Festland genießend auszunützen, hier trinkt man, um Schmerz und Not nicht zu fühlen. Durch Fensterläden sieht man in Wohnstuben-Werk­stätten, wo beim Schein von öllämpehen die bärtigen Schneider und Schuster arbeiten, die russischen Schirmmützen auf dem Kopfe. Frauen helfen und Kinder nähen Knöpfe an. Es sind sehr viele Kinder in jedem der Stübchen ; quittengelb und rhachi-tisch, mit dem Stempel des Hungers gezeichnet. An manchen Häusern kauern Arbeiter und rauchen; es sind Bedienstete der Möbelfabriken. Vor den vereinzelten „Hannoveran-houses" für Arbeiterwohnungen, deren Stiegenhäuser gegen die Straße zu offen sind, sitzen Menschen wie Schwalben auf dem Telegraphen­draht. Fast in jeder Gasse wird das Einerlei der Armseligkeit von einem Gebäude unterbrochen, dessen Fensterläden freund­liche Blumentöpfe zieren und deren Plakate in hebräischen Let­tern zur Taufe laden und dafür Seelenheil, lohnende Arbeit, Ge­sundheit, Bildung. Zukunft und Geld für Männer, Frauen und auch für Kinder versprechen. Aber die Armen rackern sich in Krankheit, Schmutz und Sorge und schauen gar nicht hinüber.
Die Lokomobile des Kartoffelbraters umlagern Kinder und Frauen. In einer Ecke unterhandeln zwei Männer, die nicht hier­her passen, wo die weltberüchtigten ,,mad-god ruffians" die Hoch­schule ihrer Räuber- und Messerstechkünste haben ; die beiden sehen wie vollendete Gentlemen aus. Ihre Unterredung ist erregt, aber so leise, daß man keine Silbe aufschnappen kann. Das achhindaehtzigste Haus der Hantrury Street ist geweiht für alle Zeiten: jeder weiß es im Londoner Osten, daß hier Jack der Aufschlitzer ruhmreich gelebt hat. In einigen Gassen werden Abendmärkte abgehalten ; die Gaso­linflammen der Stände flackern unruhig und fahl nach allen Seiten. Von einem Wagen, der die Transparentaufschrift „Syndicalists" trägt, redet ein Mann laut zu ein paar Versammelten: "Abschaffung des Privateigentums an Erwerbsmitteln, dirckle Aktion, the mistakes of Charles Marx, individuelle Selbsthilfe" imd dergleichen. Mit ungeheuren Wohltätigkeitsbauten haben einige Millionäre Englands ihr Gewissen beruhigt, von der Melodramatik der Dickensschen Romane und den Predigten der Revercnds bewegt, sind hier philantropische Institutionen erstanden, der Volkspalast, das Hospital, Dr. Bernardos Homes, Toynbee Hall, Volksbiblio­theken, Museen, Parks und Schulen — aber überall wächst neues Elend und neues Verbrechen aus dem Dünger der Gosse und der Wohnungen empor 1Tschinellenklänge, Trompetenstöße, Trommelwirbel in der Winkelgasse, mitten in der doppelten Nacht? Es ist die Musik­kapelle der Heilsarmee, von einer Kompanie uniformierter Knaben begleitet und von einem ihrer Offiziere, der an einer nahen Straßenecke die Menge in einer Predigt zur Einkehr, zur Mäßigkeit und Buße mahnen wird. Die Großen und die Kleinen au» der Armengasse lassen die Jazzband Jesu Christi vorbei­marschieren. Sie haben keine Zeit, dem Marsch zu folgen, sie haben keine Hoffnung. Hier über dem Osten liegt der Schatten der Stadt, über der nur im Westen die Sonne leuchtet."



Offline Chris Jd

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Re: Kisch: Reportage aus Whitechapel
« Antwort #1 am: 18.04.2008 07:24 Uhr »
Klasse Fund!
bitte noch um Quellenangabe (wo Kisch das veröffentlicht hat)
Danke

Christian

Offline academyfightsong

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Re: Kisch: Reportage aus Whitechapel
« Antwort #2 am: 18.04.2008 21:58 Uhr »
Sehr interessant.  :icon_thumb:

Btw, welcome back... Newbie.  :icon_wink:

Offline thomas schachner

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Re: Kisch: Reportage aus Whitechapel
« Antwort #3 am: 19.04.2008 02:12 Uhr »
klasse!!!
auch von mir...WB!
<~> any propaganda is good propaganda, as long as they spell your name right <~>

Offline Isdrasil

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Re: Kisch: Reportage aus Whitechapel
« Antwort #4 am: 19.04.2008 13:57 Uhr »
Hi

Endlich mal durchgelesen...sehr interessant  :icon_thumb:

Die "Willkommensgrüße" lasse ich mal außen vor...es ist ja mehr eine Art "Comeback" :icon_aetsch:

Grüße, Isdrasil

Alexander-JJ

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Re: Kisch: Reportage aus Whitechapel
« Antwort #5 am: 19.04.2008 18:19 Uhr »
Nicht schlecht, nicht schlecht.

  :icon_thumb:

Offline esm

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Re: Kisch: Reportage aus Whitechapel
« Antwort #6 am: 04.05.2008 13:40 Uhr »
Klasse Fund!
bitte noch um Quellenangabe (wo Kisch das veröffentlicht hat)
Danke

Christian



Kisch: "Der rasende Reporter"

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