Autor Thema: Stephan Harbort: Das Serienmörder-Prinzip  (Gelesen 32741 mal)

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Offline Isdrasil

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Stephan Harbort: Das Serienmörder-Prinzip
« am: 28.07.2007 23:33 Uhr »
"Die letzte Tat war die schlimmste. Aber ich war ganz normal, so wie jetzt."

Wer in seinem Leben schon zahlreichen Serienmördern gegenüber gesessen hat, ihnen in stundenlangen Interviews in die Seele blickte und die Abgründe in den Psychen der Killer beleuchtete, der mag einen Ausspruch wie diesen schon oft gehört haben. Und trotz allem stockte Stephan Harbort in diesem Moment der Atem. Man kann sich nicht an die Grausamkeit gewöhnen. Die dunkle Seite des Menschen überrascht immer wieder mit neuen Facetten. Diese Vielseitigkeit ist vielleicht ein Grund der Faszination, die auf viele Menschen wie ein Magnet wirkt - aber sie ist auch gleichzeitig ein Fluch, der verhindern möchte, das Phänomen des Bösen greifbar zu machen und auf die Verständlichkeit zu reduzieren. Eines bleibt: Nur wer Ursache und Ursprünge kennt, der findet Möglichkeiten zur Prävention und Früherkennung.

Harbort sprach in den letzten Jahren mit über 50 Serienmördern, um solch ein allgemeingültiges Prinzip zu suchen: Das Prinzip, dass Menschen zum Bösen zwingt.

Das Serienmörder-Prinzip.

Bei seinen Recherchen stiess er auf Fälle, die in ihrer Mannigfaltigkeit kaum zu überbieten sind, deren Motive völlig unterschiedlicher Natur sind und die neben der Tatsache des Mordes keine Gemeinsamkeiten zu haben scheinen - und doch gelingt es ihm, Parallelen herzustellen und die Quintessenz dieser Taten herauszufiltern. Dabei entdeckt er sieben Stufen, die aus einem Menschen einen Serienmörder machen können, eine Verkettung von Ereignissen, Motivbündeln und sozialen Strukturen. Anhand von Interviews und Beschreibungen der Täter sowie Gerichtsaufzeichnungen und psychologischen Gutachten werden diese Stufen anschaulich dargestellt und die Morde trotz ihrer Unterschiedlichkeit auf diese gemeinsamen Nenner verständlich reduziert.

Harbort selbst ist einer der anerkanntesten Serienmörderexperten Deutschlands und war neben seiner eigentlichen Tätigkeit als Kriminalhauptkommisar bereits Fachberater etlicher TV-Dokumentationen (ARD, VOX, BBC) und Kinofilme ("From Hell", "Hannibal", "Roter Drache"). Seine Fachkompetenz merkt man natürlich seinem Schreibstil an, und der Leser sollte sowohl psychologisch vorbelastet sein als auch keine Angst vor Fremdwörtern besitzen. Immerhin hält man hier ein Sachbuch in den Händen und keinen leicht verdaulichen Lesestoff.

Alles andere als leicht verdaulich gestaltet sich auch die Schilderung der Fälle. Es ist teilweise schockierend, mit welcher Teilnahmslosigkeit manche Täter ihre Taten beschreiben und von den Menschen als Objekten reden. Man erhält durch Harborts Buch einen kleinen Einblick in die Abgründe der menschlichen Seele, aber macht zwangsläufig auch eine ganz gegensätzliche und teilweise erschreckende Erfahrung: Auch hinter diesen "Monstern" steckt ein Mensch, dessen Psyche zwar in ein pathologisches Netz aus Zwang und Obession geraten ist, der aber auch helle Seiten besitzt und innerhalb seiner Welt durchaus mitfühlend sein kann. Und auch hier fallen die unterschiedlichen Tätertypen auf: Neben den wirklich kranken Geistern gibt es allen Anschein nach tatsächlich den Typus des bereuenden Täters, der während der Taten neben sich steht und sich selbst nicht erklären kann, wie es soweit kommen konnte.

Man wird merken, dass die Frage nach dem "Warum" nicht einfach aus einen bösen Charakter zu erklären und ein undurchdringbares Gemisch aus gesellschaftlicher, sozialer, persönlicher und vererbter Schuld ist. Und so erwischt man sich oft bei dem Gedanken, ob man nicht auch so einen unauffälligen Menschen kennt, in dessen Seele eine Zeitbombe tickt, die er womöglich selbst nicht kennt oder auslösen möchte. Und oftmals empfindet man beinahe so etwas wie ein "Mitgefühl" im kleinsten, rudimentärsten Sinne, und erschrocken über sein Verständnis muss man erkennen, dass eines nicht existiert: Der von Natur aus abgrundtief böse, gerissene intelligente Serienkiller Hannibal Lecter, der irrwitzige Spielchen mit seinen Opfern und seinen Verfolgern treibt. Dieses Medienprodukt hat das Phänomen Serienmord stilisiert und aus unserem Verantwortungsbereich gerückt, es unnahbar mit Merkmalen behaftet, die weitab von der gesellschaftlichen Realität liegen. Dabei geschehen solche Dinge in der Nachbarschaft. Nebenan. Wir müssen nur hinsehen...

Meine persönliche Meinung:

Das Buch kam heute morgen 10:14 Uhr Ortszeit per DHL-Express an meine Haustür. Jetzt, gerade mal 13 Stunden später, habe ich es durchgelesen. Hinter mir liegt ein Tag im Bett, an dem ich das Buch nicht aus meinen Händen geben konnte und nicht einmal zum Essen aufgestanden bin. Es fesselt auf eine seltsam erschreckende Weise, es gibt Einblicke, die man noch nicht kannte, und es ist wichtig. Wichtig für die Gesellschaft und wichtig, um das Phänomen Serienkiller etwas besser zu verstehen und das Schubladendenken abzulegen. Ich beschäftige nun erst seit einem Jahr intensiv und etwa fünf Jahre oberflächlich mit dem Fall "Jack the Ripper" (obwohl, andere haben da über das Thema schon Bücher geschrieben - wird langsam mal Zeit  :icon_wink:), und durch dieses Buch hat sich mein Verständnis zur Person hinter dem Synonym "Jack the Ripper" grundlegend verändert. Alleine aus diesem Grund empfehle ich es jedem, der sich trotz der vielen Psychologie und Fremdwörter für das Thema Serienmörder im Allgemeinen und Profiling im Speziellen interessiert.

Stephan Harbort "Das Serienmörder-Prinzip: Was zwingt Menschen zum Bösen?"
erschienen im Droste-Verlag erhältlich unter anderem bei Amazon.
« Letzte Änderung: 28.07.2007 23:47 Uhr von Isdrasil »