"Es gibt keine Straße in London, wo man den Anblick der Armut meiden kann, weil etwa fünf Minuten von jedem beliebigen Punkt ein Armenviertel liegt; die Gegend aber, durch die mein Wagen jetzt fuhr, war eine einzige große Spelunke. Die Straßen waren mit Menschen einer anderen Rasse bevölkert, von kleinen Menschen, die erbärmlich elend oder aufgedunsen aussahen.
Wir rollten dahin durch die Meilen von Mauersteinen und Schmutz und jede Querstraße zeigte eine ebenso lange Straße von Mauern und Elend. Hier und dort torkelte ein betrunkener Mann oder eine betrunkene Frau, und die Luft war unrein von Streit und Zank. Auf einem Platz suchten alte Männer und Frauen tastend im Schmutz nach Gemüseabfällen, verfaulten Kartoffeln und Bohnen, während kleine Kinder wie Fliegen um einen Haufen verfaulten Obstes schwärmten und ihre Arme bis zu den Schultern in die breiige Masse bohrten, um kleine Stücke herauszufischen, die nur teilweise in Fäulnis übergegangen waren, und die sie sofort verzehrten." (S. 11)
"So weit ich sehen konnte, erblickte ich nur die grauen Steinmauern, die schleimigen Bürgersteige und die staubigen Straßen; und zum ersten Mal in meinem Leben überkam mich die Furcht vor der großen Masse. Man kann sie mit der Furcht vor dem Meer vergleichen, die elenden Schwärme straßauf und straßab erschienen mir wie die Wogen eines unermesslichen, übelriechenden Meeres, das um mich her wogte und über meinem Kopf zusammenzuschlagen drohte." (S. 12)
Soweit Jack London's Impressionen vom Eastend (aus: People of the Abyss, 1903). Seit den Taten (oder besser Untaten) des Rippers 15 Jahre zuvor dürfte sich nicht allzuviel verändert haben. Interessant daran ist m.E., dass selbst für J.London, der die Bewohner des Eastend doch mit einem eher mitleidigen Auge betrachtet haben durfte, dieses Gemisch aus Armut, Sittenlosigkeit und Gewalt das einzelne Individuum zu "hässlichen, verlorenen Geschöpfen, die entwürdigter und elender sind als die Tiere des Feldes" macht.
Nun meine These - die natürlich nach Herzenslust zerpflückt werden darf, deswegen stelle ich sie ja hier zur Diskussion ;-) :
Warum sucht sich JTR ausgerechnet den "Auswurf der Menschheit" als Opfer aus? Alle seine Opfer - bis auf die Kelly vielleicht, aber auch sie sollte man nicht zu romantisierend sehen - sind Huren der untersten Kategorie, unansehnlich, alkoholkrank und von ihrem sicher nicht leichten Leben entsprechend gezeichnet. Will er seinen bigotten viktorianischen Zeitgenossen vielleicht genau diese "Schwestern des Abgrunds" deutlich in ihrer ganzen Hässlichkeit und Verzweifelung vor Augen führen? Indem er sie als das darstellt, was sie im Grunde auch vor ihrer Begegnung mit ihm waren: Schlachtvieh, eine Art amorphe biogene Masse ohne Anspruch auf Mitleid und Anteilnahme. Ich gehe nicht soweit, eine revolutionäre Botschaft in seinen Morden zu sehen - natürlich war seine Psyche absolut verdreht und seine Handlungen in höchstem Maße psycho- oder soziopathisch und krankhaft. Aber er lenkte immerhin durch die blutige Spur, die er in Whitechapel hinterließ, die Augen der Gesellschaft dorthin.
Um noch einmal J. London zu bemühen:
"Wir ließen die Leman-Straße liegen, bogen links in die Spitalfield-Straße ein und kamen hierauf in die Fryingpan-Gasse. Ein Haufen Kinder kroch auf dem schlüpfrigen Bürgersteig herum, wie Frösche auf dem Grunde eines ausgetrockneten Teiches.
In einer schmalen Haustür saß eine mit einem Säugling an der Brust, die so entblößt war, dass es der Mutterwürde alle Heiligkeit raubte. Wir mussten über sie hinweg schreiten, um hineinzugelangen, und in dem finsteren, engen Gang hinter ihr mussten wir gleichsam durch ein Gewimmel kleiner Kinder waten, bis wir eine noch engere und finsterere Treppe erreichten."
Netter Gegensatz zum Frauenbild des Viktorianers, würde ich sagen. Parallel zur keuschen, anmutigen Schönheit, die von Dingen wie Sexualität, geschweige denn Prostitution noch nicht einmal etwas ahnen darf, existiert dieser allzumenschliche Teil des Menschen doch weiterhin, und das in abstoßendster Form mit allen zugehörigen Widerwärtigkeiten. Da kann man schon schizophren werden... oder muss man es vielleicht sogar?