Autor Thema: People of the Abyss  (Gelesen 4976 mal)

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Irene Adler

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People of the Abyss
« am: 19.07.2005 21:13 Uhr »
"Es gibt keine Straße in London, wo man den Anblick der Armut meiden kann, weil etwa fünf Minuten von jedem beliebigen Punkt ein Armenviertel liegt; die Gegend aber, durch die mein Wagen jetzt fuhr, war eine einzige große Spelunke. Die Straßen waren mit Menschen einer anderen Rasse bevölkert, von kleinen Menschen, die erbärmlich elend oder aufgedunsen aussahen.

Wir rollten dahin durch die Meilen von Mauersteinen und Schmutz und jede Querstraße zeigte eine ebenso lange Straße von Mauern und Elend. Hier und dort torkelte ein betrunkener Mann oder eine betrunkene Frau, und die Luft war unrein von Streit und Zank. Auf einem Platz suchten alte Männer und Frauen tastend im Schmutz nach Gemüseabfällen, verfaulten Kartoffeln und Bohnen, während kleine Kinder wie Fliegen um einen Haufen verfaulten Obstes schwärmten und ihre Arme bis zu den Schultern in die breiige Masse bohrten, um kleine Stücke herauszufischen, die nur teilweise in Fäulnis übergegangen waren, und die sie sofort verzehrten." (S. 11)

"So weit ich sehen konnte, erblickte ich nur die grauen Steinmauern, die schleimigen Bürgersteige und die staubigen Straßen; und zum ersten Mal in meinem Leben überkam mich die Furcht vor der großen Masse. Man kann sie mit der Furcht vor dem Meer vergleichen, die elenden Schwärme straßauf und straßab erschienen mir wie die Wogen eines unermesslichen, übelriechenden Meeres, das um mich her wogte und über meinem Kopf zusammenzuschlagen drohte." (S. 12)

Soweit Jack London's Impressionen vom Eastend (aus: People of the Abyss, 1903). Seit den Taten (oder besser Untaten) des Rippers 15 Jahre zuvor dürfte sich nicht allzuviel verändert haben. Interessant daran ist m.E., dass selbst für J.London, der die Bewohner des Eastend doch mit einem eher mitleidigen Auge betrachtet haben durfte, dieses Gemisch aus Armut, Sittenlosigkeit und Gewalt das einzelne Individuum zu "hässlichen, verlorenen Geschöpfen, die entwürdigter und elender sind als die Tiere des Feldes" macht.

Nun meine These - die natürlich nach Herzenslust zerpflückt werden darf, deswegen stelle ich sie ja hier zur Diskussion ;-) :
Warum sucht sich JTR ausgerechnet den "Auswurf der Menschheit" als Opfer aus? Alle seine Opfer - bis auf die Kelly vielleicht, aber auch sie sollte man nicht zu romantisierend sehen - sind Huren der untersten Kategorie, unansehnlich, alkoholkrank und von ihrem sicher nicht leichten Leben entsprechend gezeichnet. Will er seinen bigotten viktorianischen Zeitgenossen vielleicht genau diese "Schwestern des Abgrunds" deutlich in ihrer ganzen Hässlichkeit und Verzweifelung vor Augen führen? Indem er sie als das darstellt, was sie im Grunde auch vor ihrer Begegnung mit ihm waren: Schlachtvieh, eine Art amorphe biogene Masse ohne Anspruch auf Mitleid und Anteilnahme. Ich gehe nicht soweit, eine revolutionäre Botschaft in seinen Morden zu sehen - natürlich war seine Psyche absolut verdreht und seine Handlungen in höchstem Maße psycho- oder soziopathisch und krankhaft. Aber er lenkte immerhin durch die blutige Spur, die er in Whitechapel hinterließ, die Augen der Gesellschaft dorthin.
Um noch einmal J. London zu bemühen:

"Wir ließen die Leman-Straße liegen, bogen links in die Spitalfield-Straße ein und kamen hierauf in die Fryingpan-Gasse. Ein Haufen Kinder kroch auf dem schlüpfrigen Bürgersteig herum, wie Frösche auf dem Grunde eines ausgetrockneten Teiches.

In einer schmalen Haustür saß eine mit einem Säugling an der Brust, die so entblößt war, dass es der Mutterwürde alle Heiligkeit raubte. Wir mussten über sie hinweg schreiten, um hineinzugelangen, und in dem finsteren, engen Gang hinter ihr mussten wir gleichsam durch ein Gewimmel kleiner Kinder waten, bis wir eine noch engere und finsterere Treppe erreichten."

Netter Gegensatz zum Frauenbild des Viktorianers, würde ich sagen. Parallel zur keuschen, anmutigen Schönheit, die von Dingen wie Sexualität, geschweige denn Prostitution noch nicht einmal etwas ahnen darf, existiert dieser allzumenschliche Teil des Menschen doch weiterhin, und das in abstoßendster Form mit allen zugehörigen Widerwärtigkeiten. Da kann man schon schizophren werden... oder muss man es vielleicht sogar?

nikurt

  • Gast
People of the Abyss
« Antwort #1 am: 19.07.2005 22:17 Uhr »
Freundliches Servus aus Wien erstmal! :)

Jack als irregeleiteter Sozialrevolutionär? Hmmm....
Natürlich, es war in sozialen Belangen eine äusserst turbulente Zeit; Die Gründung der ersten marxistischen Arbeiterparteien, Bloody Sunday...
Es wurde auch schon gelegentlich hier im Forum darüber debattiert dass die Rippermorde das unbeschreibliche Elend im East End a la longue gesehen zumindest ein wenig milderten.
Persönlich halte ich das aber eher für einen Nebeneffekt, nicht für das Motiv. Das Elend war ja auch so offenbar, die Morde lenkten eher davon ab. Zumindest anfangs...

Uninteressant ist der Gedanke aber allemal nicht, hoffentlich verfolgst ihn noch hier im Forum weiter!
nikurt

michael

  • Gast
People of the Abyss
« Antwort #2 am: 21.07.2005 13:53 Uhr »
Hallo,

ich weiss jetzt nicht genau, wie der Spruch am Anfang von "From Hell" war, aber ist der in der Art wirklich irgendwo im Ripper-Umfeld gefallen?

Weil, dieser impliziert schon, dass durch die Morde grundlegende Veränderungen stattgegfunden haben.

Scharfnase

  • Gast
Taten sind sinnlos!
« Antwort #3 am: 21.07.2005 14:10 Uhr »
Hi Irene,

ich halte es für äußerst bedenklich, in die triebgesteuerten Taten eines Serienmörders einen auch nur irgendwie gearteten, allgemein gültigen Sinn hinein zu interpretieren. Die bestialischen Morde machen genau für eine Person Sinn - nämlich den Mörder selbst. Für alle anderen werden sie immer brutal, menschenverachtend und in letzter Konsequenz sinnlos bleiben.

Für die Veränderungen im Eastend waren die Morde sicher nicht allein ausschlaggebend. Das Viertel war als Slum weithin bekannt und irgendwann musste da etwas geschehen.

Gott zum Gruße,
Scharfnase

Irene Adler

  • Gast
People of the Abyss
« Antwort #4 am: 21.07.2005 18:42 Uhr »
Ich würde Dir ja tendenziell zustimmen, Scharfnase. Allein die unglaubliche Brutalität und Menschenverachtung, mit der die Taten ausgeführt wurden, spricht jedem "sozialkritischen" Anspruch Hohn. Wie gesagt halte ich den Ripper auch nicht für einen irregeleiteten wahnsinnigen Sozialreformer, aber ...

"Während wir konventionellen Sozialdemokraten unsere Zeit an Erziehung, Agitation und Organisation verschwendeten, hat irgendein unabhängiges Genie die Sache in die Hand genommen und dadurch, dass es einfach vier Frauen tötete und ausweidete, die das Privateigentum vertretende Presse zu einer Art von unvernünftigem Kommunismus bekehrt. Die Geschichte ist recht hübsch, und die Rebellen, die Dynamitverschwörer, die 'Unbesieglichen' und die äußerste Linke der anarchistischen Partei werden nicht zögern, die Moral daraus zu ziehen ...
Jedes gesprengte Zuchthaus, jedes zerbrochene Fenster, jeder geplünderte Laden, jede ausgeweidet gefundene Leiche bedeutet weitere zehn Pfund Sterling als 'Lösegeld'."

So George Bernard Shaw, damals zwar Musikkritiker und (noch) recht erfolgloser Literat, aber auch politisch engagiert in der radikalsozialistischen "Fabian Society", in einem Brief an den STAR. Und es geht noch weiter:

"Wenn es die Gewohnheiten von Herzoginnen nur zuließen, diese in die Hinterhöfe von Whitechapel zu locken; denn ein einziges Experiment in Schlachthausanatomie an einem aristokratischen Opfer könnte durchaus eine runde halbe Million einbringen und es überflüssig machen, vier Frauen aus dem Volk zu opfern."

Der STAR selbst schreibt dazu:

"Schließlich besteht noch die entfernte Möglichkeit - zu entsetzlich, sie auch nur auszudenken - , dass hier ein Sozialexperimentator in Freiheit lebt, der entschlossen ist, den Vornehmen zu zeigen, wie die Massen leben."

allerteuerste

  • Gast
Re: People of the Abyss
« Antwort #5 am: 27.07.2005 21:06 Uhr »
Zitat von: "Irene Adler"
  ... Warum sucht sich JTR ausgerechnet den "Auswurf der Menschheit" als Opfer aus? Alle seine Opfer - ... - sind Huren der untersten Kategorie, unansehnlich, alkoholkrank und von ihrem sicher nicht leichten Leben entsprechend gezeichnet. ...

wie immer bei solchen oder ähnlichen fragen, lasse ich mir gleich mehrere möglichkeiten durch den kopf gehen, wobei ich mich persönlich auf keine festgelegt wissen will.

möglicherweise 1) ist die gegend einfach sein jagdrevier gewesen. er wohnte / arbeitete / kannte sich dort aus.
2) fiel er selbst in dieser umgebung einfach nicht auf und war somit sicher
3) wohnte er dort / in der nähe und konnte somit schnell und sicher nach hause gelangen
3) die damen waren auch noch zu später stunde verfügbar
4) vielleicht brauchte er gerade diesen "abschaum" (meine ich nicht persönlich!!!), um sich aufzuputschen - eine zarte englische rose hätte seinen mordtrieb eventuell eingebremst
5) möglicherweise löste eben genau dieser typ frau seine persönliche wut - oder was immer sein motiv war - aus
6) und dann hätten wir immer noch die theorie, dass sich diese art von täter prinzipiell an "wehrlosen" Opfern vergreift, d.h. an alten / schwachen / kleineren frauen (kindern) oder eben an prostituierten, die nun wirklich in der auswahl ihrer klienten nicht wählerisch sein könne.