„Es zahlt sich aus, die richtigen Zeitungen zu lesen“, so Gavin Bromley in „Is There An Echo Around? An Addendum to 'Mrs Kuer´s Lodger'“, seinem zweiten der beiden auf Casebook nachzulesenden Artikel zu diesem überaus mysteriösen Thema (Links zu den Artikeln am Ende dieses Posts). Dummerweise, vor allem für all die Ripperologen, die einen Verdächtigen zu verkaufen haben und die deshalb eine Verbindung – so mickrig und konstruiert sie auch immer sein mag – zu dieser Geschichte überaus begrüßenswert finden, ist die ganze Angelegenheit nach einer kleinen Recherche in der „Press Media“ Sektion auf Casebook.org gar nicht mehr so mysteriös. Zum ersten Mal findet dieses kleine Mysterium um den verschwundenen Lodger mit seinem blutbeflecktem Hemd Erwähnung in „The Echo“ vom 15. Oktober 1888. Interessant zu erwähnen ist hierbei, dass diese Zeitung eine Abendzeitung ist, allen anderen Blättern also in der Regel um 12 Stunden voraus. Gerade in den Fällen also, wenn der Echo über eine Exklusivgeschichte verfügt, sind alle anderen Zeitungen dazu verdammt, dem Blatt hinterherzuschreiben, und so ist es kaum verwunderlich, dass die Ausgaben der anderen Tageszeitungen vom 16. Oktober, im Grunde nichts anderes sind, als mehr oder weniger genaue Nacherzählungen des Echo-Exklusivberichts vom Abend davor. Dies ändert sich erst am 17. Oktober, hauptsächlich wohl aus dem Grund, da für eigene Recherchen keine Zeit blieb und die Angabe des Straßennamen im Echo in der Abendausgabe vom 15. fehlerhaft ist, es heißt dort nämlich Batley Street statt Batty Street. Ab nun also wissen die anderen Londoner Zeitungen, wo sie zu suchen haben und tragen eigene Rechercheergebnisse zu der ganzen Angelegenheit bei, wenn auch teils fehlerhaft. Ein Teil des Echoberichts vom 15. Oktober nämlich, der für das Verständnis der Geschichte wesentlich ist, schafft es nämlich, aus welchen Gründen auch immer, nie in eines der anderen Blätter. Wer den Batty Street Vorfall mit einem Verdächtigen in Verbindung bringen will (Tumblety, Koz, sind beide ganz einfach möglich, wie wir ja gerade erst gelernt haben), der möge nun die Zeitungsberichte der Tage vom 15. bis zum 19. Oktober etwa durchforsten, alle möglichen Querverbindungen her- und Theoretisierungen anstellen. Wichtig hierbei ist nur eines: Finger weg vom Echo, am Ende bricht noch eine Welt für euch zusammen. Also, wie genau ist es nun zu diesem 123-jährigen Verwirrspiel um einen mysteriösen Lodger oder nächtlichen Besucher gekommen? Aufgepasst, die Geschichte geht so (Übersetzungen sind inhaltsorientiert und nicht wortwörtlich – bei Fehlern bitte Bescheid sagen. Für den Artikel im Original Zeitungsnamen klicken):
The Echo, Montag, 18. Oktober 1888East End Tragödien.
Ein mysteriöser Lodger.
Seine slutbefleckte Kleidung.
Was seine Vermieterin sagt.Die Polizei überwacht, schreibt ein Korrespondent, mit großer Mühe (anxiety im Original, kann auch Besorgnis, Angst und Beklemmung heißen)
ein Haus im East End, welches, so glaubt man, von jemandem als Unterschlupf benutzt wurde, der in Verbindung zu den East End Morden steht. Wie aus diversen Aussagen von Nachbarn hervorgeht, hatte die Landlady einen Lodger, der seit dem Sonntagmorgen nach den Morden verschwunden ist. Es sieht so aus, den Angaben zufolge, die die Landlady ihren Nachbarn gegenüber machte, als wäre ihr Lodger früh am Sonntagmorgen nach Hause zurückgekehrt und habe sie aufgeschreckt (disturbed by his „movings about“, man kann hier auch aufgeweckt oder gestört hineinlesen)
„durch seine Bewegungen im Haus. Sie ist selbst sehr früh aufgestanden und bemerkte dann, dass ihr Lodger einige seiner Kleider gewechselt hat. Er erzählte ihr, er würde für einige Zeit fortgehen, und bat sie darum, sein Hemd, dass er gerade abgelegt hatte, für ihm fertig zu machen, bis er wieder zurück sei.Als sie das Hemd an sich nahm, war sie ganz verwundert, als sie feststellte, dass Ärmel und Manschetten druchtränkt von nassem Blut waren.“ Auf den Ratschlag einiger ihrer Nachbarn hin, informierte sie die Polizei und übergab dieser das blutbefleckte Hemd. Diese nahm das Hemd an sich und erhielten von der Landlandy eine genaue Beschreibung des Lodgers. Ein Reporter hat das Haus heute am frühen Morgen aufgesucht. Er hatte eine Unterhaltung mit der Landlady, einer Deutschen, die sehr zurückhalten zu sein schien. Wie auch immer, sie erzählte dem Reporter, dass, seitdem sie die Informationen an die Polizei weitergegeben hat, ein Detective und zwei Officers im Haus gewesen seien.Deutscher verhaftet und wieder auf freien Fuß gesetzt.Ein seltsamer und verdächtiger Vorfall in Verbindung mit den Whitechapel Morden ereignete sich am späten Samstagabend, als die Polizei einen Deutschen verhaftete, bei dem gute Gründe für den Verdacht vorlagen, er sei in irgendeiner Weise in den Mord an Elizabeth Stride in der Berner Street verwickelt. Die Affäre unterlag bisher strengster Geheimhaltung; doch die Angelegenheit, so wird behauptet, wurde als so wichtig eingestuft, dass Inspector Reed, Inspector Abberline und die anderen mit dem Fall befassten Officers glaubten, in Besitz eines äußert wichtigen Hinweises gekommen zu sein. Es sieht so aus, als hätten die Detective Seargents W. Thicke und S. White vom Criminal Investigation Department, eine Haus-zu-Haus-Befragung in der Gegend um den Berner Street Mord durchgeführt. Dabei haben sie herausgefunden, dass am Tag nach den Morden ein Deutscher ein blutbeflecktes Hemd bei einer Wäscherin in der Batley [sic] Street 22 – nur wenige Yards vom Tatort entfernt – abgegeben hat und erklärte: „Ich sollte in zwei bis drei Tagen wieder vorbeischauen“, und sich dann eilig entfernte. Sein Benehmen wurde als höchstverdächtig erachtet. Die Detective Seargents Thicke und White, die wohl mehr über die Kriminellen im East End wissen als irgendwer sonst, verhafteten den Verdächtigen Samstagnacht. Er wurde zur Leman Police Station gebracht, und Ermittlungen wurden sofort eingeleitet. Diese führten zur Freilassung des Mannes heute Morgen. Unser Representant führte eigene Nachforschungen in der oben erwähnten Angelegenheit durch und fand heraus, dass das Hemd vorne und an beiden Armen blutbefleckt war. Es gibt noch einen dritten Absatz, wo von einer weiteren Verhaftung in der Brick Lane die Rede ist. Einige Lodger dort scheinen das Benehmen eines Mitbewohners verdächtig gefunden zu haben und informierten deshalb die Polizei. Wie auch immer, der Mann wurde nach einer halben Stunde wieder freigelassen, weil er die Behörden wohl davon überzeugen konnte, dass er nichts mit den Morden zu tun hat.
Sehen wir uns doch den Echo Artikel etwas genauer an. Liest man die beiden Absätze, dann scheinen diese sich nämlich durchaus zu widersprechen. In Absatz 1 ist von einem mysteriösen Lodger die Rede, der spät nachts heimkam und seine Vermieterin aufweckte. Dieser Absatz ist wohl der Nährboden für die Geschichte um den Lodger, der sich umzog, ein blutiges Hemd zurückließ und dann auf Nimmerwiedersehen verschwand. Absatz 2 aber ist doch schon wesentlich interessanter. Dort wird von einem Deutschen berichtet, der in der Batty Street Nummer 22 ein blutbeflecktes Hemd abgab und zudem überaus in Eile zu sein schien. Noch interessanter aber ist, dass hier erstmals der Beruf von Mrs Kuer auftaucht: Die gute Frau ist Wäscherin. Ich denke mal, jetzt dürfte den meisten schon dämmern, worauf diese ganze Geschichte hinauslaufen könnte. Ein weiterer Grund für die ganzen Verwirrungen, die danach entstanden, wird in den nächsten Tagen aufgedeckt. Man wird dann nämlich darüber informiert, dass das Englisch von Mrs Kuer in etwa auf dem Niveau von Israel Schwarz gewesen sein dürfte. Da wurde, gerade in den ersten Berichten, die sich hierzu finden, sehr viel falsch verstanden und interpretiert, womöglich ein Grund, warum sämtliche Zeitungen sich so uneins darüber sind, was von der Angelegenheit denn nun genau zu halten ist.
Zur Zeit der Morde lebten zwei Männer bei Mrs Kuer. Einer dieser beiden, ein Mann namens Carl Noun, wurde auch tatsächlich „vermisst“. Allerdings gab es dafür eine ganz unschuldige Erklärung: Der Mann arbeitete auswärts und kehrte nur jedes Wochenende oder jedes zweite Wochenende nach Hause zurück. Der gute Mr Noun kommt schließlich seiner Vermieterin zu Hilfe, die sich vor Presseanfragen scheinbar gar nicht mehr retten kann und zudem mit dem Englischen deutlich überfordert zu sein scheint. Am 18. Oktober findet sich in der Evening News ein Brief von Hernn Noun, in dem er die Angelegenheit klarzustellen versucht (wenn man sich seinen Brief ansieht, dann dürften die ganzen Spekulationen der letzten Tage ziemlich an den Nerven aller Beteiligten gezerrt haben und zudem scheint es auch so, als hätte er genug von den ganzen Räuberpistolen, die durch die Gazetten geistern):
SIR – bezugnehmend auf ihre Ausgabe Nr. [2227]: Ich ersuche sie um eine Gegendarstellung zu ihrem Artikel betreffend die Whitechapel Morde; Tatsache ist, ihr Reporter wurde schlecht informiert oder hat eigene Vermutungen angestellt.
Die Polizei befindet sich nicht in unserem Haus, auch hatte Mrs Kuer keinen Lodger, der nun vermisst wird, sondern ein Fremder hat das Hemd abgegeben, und als er es abholen wollte, wurde er von der Polizei verhaftet und schließlich nach einigen Untersuchungen wieder freigelassen. Und was unser Haus betrifft, so ist es keineswegs so, wie ihr Reporter es beschreibt, es ist ein überaus respektables Haus und in sehr gutem äußeren Zustand; auch wenn es natürlich nicht Windsor Castle ist. Es wohnen hier zwei Lodger, einer ist ein Drayman, ein Mann namens Joseph (Aufgemerkt liebe Barnett- oder Fleminganhänger), der für die Norwegian Lager Beer Company arbeitet, der andere ist Bäcker und heißt Carl Noun, der in Margete bei der Arbeit war und erst am 6. dieses Monats zurückkehrte, nachdem die Saison beendet war. Ich vertraue darauf, dass sie diese Zeilen so weitergeben, wie ich sie ihnen zukommen ließ, um das Geschäft der armen Frau nicht weiter zu schädigen. - Hochachtungsvoll
Carl Noun (ein Lodger in dem Haus)
22, Batty Street, Commercial Road, E., 17. Oktober
Ich denke, damit dürfte die Geschichte um den abgängigen Lodger vom Tisch sein, dabei scheint es sich wohl nur um ein Missverständnis aufgrund von Verständigungsproblemen gehandelt zu haben. Schade für alle Tumblety-Enthusiasten.
Bleibt noch der Kunde, der ein Hemd zur Reinigung bei Mrs Kuer hinterließ. Mir ist es jetzt ein bisschen zu viel der Mühe, hier einen eigenen Zettelkasten mit Querverweisen anzulegen, also werde ich die ganze Sache abkürzen und nur noch zusammenfassen, wie die Geschichte aufgelöst wird. Wers genau wissen will, liest einfach die Bromley Artikel (Links wie gesagt am Ende des Posts), und wers noch genauer wissen will, darf sich gerne selbst durch die Artikel auf Casebook graben.
Es gibt Interviews mit Mrs Kuer, in denen sie selbst darlegt, was sich genau ereignet hat. Interessant dabei ist, dass der guten Frau der ganze Rummel sehr unangenehm ist und sie von sich aus auch nie die Polizei verständigt hätte. Das Ganze sei überhaupt nur so ausgeufert, weil sie so indiskret war und eine Bemerkung zu dem Hemd zu einem Nachbarn gemacht hat. Der Kunde, der das Hemd am Tag nach dem Mord abgegeben hat, ist Mrs Kuer durchaus bekannt. Er hat wohl schon öfter Wäsche bei ihr machen lassen, ist von Beruf
Schneider, arbeitet für einen Laden im West End, und wohnt nicht im Bezirk. Hier kann man schön Kosminski hineinmischen, man muss nur darauf achten, welche Informationen man weglässt. Die Wendung im ursprünglichen Artikel, wonach der Mann „die Kleider gewechselt“ hat, kann man mit Sprachschwierigkeiten hier recht gut erklären. Eventuell hat er einfach Wäsche abgeholt und neue abgegeben. Wie kam es zu den Blutflecken? Mrs Kuer gegenüber erklärte der Mann das so: „Ein Freund von ihm habe sich beim Schneiden von Korn verletzt und das Hemd benutzt, um die Blutung zu stillen.“ Nicht besonders aufregend, oder? Als der Mann das Hemd abholen wollte, wurde er von der Polizei am Samstagabend verhaftet und am Montagmorgen wieder auf freien Fuß gesetzt, befand sich also für etwa 36 Stunden in Polizeigewahrsam. Schach werden sie da wohl nicht gespielt haben und es ist deshalb davon auszugehen, dass die Angaben des Mannes sehr genau überprüft wurden und besagter Freund ebenfalls befragt wurde. Wahrscheinlich, während der Mann noch in Polizeigewahrsam war, um sicherzustellen, dass er keine Gelegenheit erhält, sich mit dem andern abzusprechen – aber das ist nur eine Vermutung von mir, ich würde es jedenfalls so machen.
Fazit: Die ganze Geschichte scheint doch ziemlich harmlos gewesen zu sein, wurde zudem wohl von der Polizei sehr genau untersucht und erst später von einigen Ripperologen, die darüber stolperten und eventuell auch nicht alle Artikel, die es zu dem Vorfall gab, gelesen haben, aufgeblasen. Der erste Artikel dazu von Bromley erschien im Juni 2007, und erst im zweiten Artikel hatte er Zugang zum Echo, der offenbar die Primärquelle der Geschichte ist. Erst dann gelang es ihm, einigermaßen zu rekonstruieren, was sich genau in der Batty Street abgespielt hat. Der fairnesshalber sei für alle Verschwörungstheoretiker erwähnt, dass sich in den Echo Artikeln der Nebensatz findet „Die Polizei ermittelt weiter“, was aber im Grunde nicht viel heißen muss. Es heißt in jedem Fall nicht, dass an dieser Geschichte mehr dran ist, als das gerade von mir beschriebene. Auch eine andere Stelle aus dem Ursprungsartikel finde ich interessant. Nämlich die, in der es heißt, das Hemd sei am Tag nach den Morden abgegeben worden. Ich tippe hier eher auf den 1. Oktober als auf den 30. September, denn bei letzterem Datum würde die Formulierung „Wenige Stunden nach den Morden“ wesentlich mehr Sinn ergeben, zumindest meiner Meinung nach. Mit am Tag nach den Morden nimmt man der Geschichte eigentlich schon einen Gutteil ihrer Dramatik. Aus meiner Sicht spricht jedenfalls nichts dafür, dass der Batty Street Vorfall irgendwie bemerkenswert war, es scheint eher ein Vorfall unter vielen gewesen zu sein, der aufgrund von blutbefleckter Kleidung zu großer Aufmerksamkeit gelangte (wobei hier natürlich die Tatsache, dass sich die Batty Street in unmittelbarer Nähe zur Berner Street befand, zusätzlich für Zündstoff sorgt). Den Vorfall mit einem der Verdächtigen in Verbindung zu bringen, ist bestenfalls Spekulation. Kein verschwundener Lodger, kein nächtlicher Besucher, der von Mrs Kuer überrascht wurde, sondern nur ein Kunde einer Wäscherin, der am Tag nach den Morden sehr früh den Laden von Mrs Kuer aufsuchte und ein blutbeflecktes Hemd abgab. Der daraufhin von der Polizei verhaftet und ausführlich befragt wurde. Und dann, da sich offenbar nichts inkriminierendes gegen ihn feststellen ließ, wieder auf freien Fuß gesetzt wurde.
Die Links zu den Bromley-Artikeln:
Mrs. Kuer´s LodgerIs There An Echo Around Here? An Addendum to Mrs. Kuer´s Lodger