Autor Thema: verkehrt gelaufene Barmherzigkeit  (Gelesen 5147 mal)

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Offline Stordfield

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verkehrt gelaufene Barmherzigkeit
« am: 05.11.2018 02:12 Uhr »
Hallo!

Obwohl Frederick Charrington seine Aktion sicher in bester Absicht startete, hätte er vielleicht vorher die davon Betroffenen über ihre Meinung dazu befragen sollen. Und hiermit meine ich nicht die Zuhälter und Bordellbetreiber, sondern die bedauernswerten Prostituierten. Ich rechne ihm seinen Aktionismus hoch an, denn es gab viel zu viele Leute in London, die eventuell etwas gegen das Elend im Eastend hätten tun können, es aber einfach ignorierten.
F. Charrington wurde 1850 in der Bow Road im Osten Londons geboren. Er war der Erbe einer der größten Brauereien in London, der Charrington Brewery. Eines Tages ging er durch Whitechapel, als er auf eine Frau in zerlumpten Kleidern traf, die mit ihren ebenso zerlumpten Kindern vor einer Kneipe stand. Die Frau steckte ihren Kopf durch die Tür der Spelunke und rief ihren Mann, der drinnen trank. Er möge ihr etwas Geld geben, damit die Kinder in dieser Nacht essen konnten. Plötzlich stürmte der Mann in rasender Wut heraus und schlug die Frau zu Boden. Charrington intervenierte und versuchte, den Mann daran zu hindern, seine Frau weiter anzugreifen, aber er selbst wurde mit Schlägen zu Boden befördert. Als er aufschaute, sah er zu seinem Entsetzen den Namen Charrington über der Kneipentür. Später schrieb er: "Hier war die Quelle meines Familienvermögens, und es erzeugte vor meinen eigenen Augen ungeahntes menschliches Elend. Ich versprach Gott, dass kein weiteres Geld dieses Vermögens in meine Tasche fließen sollte."
Er ging sofort nach Hause und sagte seinem Vater, dass er nichts mehr mit dem Familienunternehmen zu tun haben wolle und dass er sich von nun an der Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen im East End widmen werde. Im folgenden Jahr eröffnete er eine Schule im Bezirk und ließ sonntags in der Großen Versammlungshalle in Mile End an die ortsansässigen Bedürftigen Tee und Nahrung ausgeben. Im gesamten Winter 1887/88 stand Frederick Charrington an der Spitze einer entschlossenen Kampagne, um das East End vom Laster zu befreien. Mit einem großen schwarzen Buch bewaffnet, lief er durch die Straßen und schrieb alle Häuser auf, in denen er Geschäfte mit der käuflichen Liebe vermutete. Auf Grund des Criminal Law Amendment Act von 1885 gab er diese Adressen an die Polizei weiter, was dazu führte, dass in kurzer Zeit mehr als 200 Bordelle schließen mussten.
Als er erfuhr, dass in einem bestimmten Gebäude ein Mädchen gegen ihren Willen festgehalten wurde, machte er sich in Begleitung zweier Detectives, die als Wasserinspektoren verkleidet waren, auf den Weg dorthin und befreite die junge Frau. Zu seinem Erstaunen bemerkte er in der Hauptempfangshalle ein großes Porträt von sich selbst von der Wand herabstarren. Einer der Polizisten informierte ihn darüber, dass in vielen "Hurenhäusern" solche Bilder hingen, damit die Betreiber den Mann, der ihnen so viel Schaden zugefügt hatte, rechtzeitig identifizieren konnten.
Ein Zeitungskorrespondent: "Seine Kampagne hatte, wenn auch in gutem Sinn, eine schlimme Konsequenz für die vertriebenen Prostituierten, die entweder gezwungen waren, in andere Gebiete zu ziehen, oder bei jedem Wetter auf die Straße zu gehen, um die moralische Ansteckung zu verbreiten."
Charringtons Engagement stieß in den Briefen an die Lokalzeitungen auf große Kritik. Ihm wurde vorgeworfen, zum Unglück von Frauen beigetragen zu haben, die bereits "von Männern schwer misshandelt" worden waren und die im Herbst 1888 ihr Leben riskieren mussten. Die Bordelle, so schäbig die Mehrzahl davon auch waren, hätten doch einen gewissen Schutz vor Gewalt und vor allem vor Jack the Ripper geboten.

(Quelle: Richard Jones JtR 1888)

Gruß Stordfield
Du kannst fliehen, wohin Du willst; Du nimmst Dich immer mit.