Antisemitismus im ´viktorianischen´ Europa´ (...)
On Saturday in several quarters of East London the crowds who had assembled in the streets began to assume a very threatening attitude towards the Hebrew population of the district. It was repeatedly asserted that no Englishman could have perpetrated such a horrible crime as that of Hanbury-street, and that it must have been done by a Jew - and forthwith the crowds proceeded to threaten and abuse such of the unfortunate Hebrews as they found in the streets. Happily, the presence of the large number of police in the streets prevented a riot actually taking place. "If the panic-stricken people who cry 'Down with the Jews' because they imagine that a Jew has committed the horrible and revolting crimes which have made Whitechapel a place to be dreaded knew anything at all of the Jewish horror of blood itself, writes a correspondent, they would pause before they invoked destruction on the head of a peaceful and law-abiding people.(...)´
(´
East London Observer
´, Samstag, 15 September 1888:
http://www.casebook.org/press_reports/east_london_observer/elo880915.html)
´(...)
Without doubt the foreign Jews in the East End of London have been in some peril - though happily averted - during the past week owing to the sensationalism of which the district has been the centre. There has been forcibly brought home to us the genesis of the anti-Jewish outbreaks which still occasionally occur abroad, and which were not unknown in England in ancient times. It is so easy to inflame the popular mind when it is startled by hideous crime, that sensation- mongers incur a fearful responsibility when they add to the excitement by giving currency to every idle rumour. (...)´
(´
Jewish Chronicle´, Freitag, 14. September 1888:
http://www.casebook.org/press_reports/jewish_chronicle/jc880914.html)
´Occasionally´, wie die ´Jewish Chronicle´ nach ersten Beschuldigungen jüdischer Bürger und damit verbundenen, ersten Aufmärschen (bereits nach den Morden an Nichols und Chapman) über die damalige Häufigkeit absurder Beschuldigungen von jüdischen Bürgern im Ausland schrieb, ist im Grunde sogar weit untertrieben:
In nahezu ganz Kontinentaleuropa, vor allem aber östlich des Rheins, wurde damals von antisemitischen Elementen – wie leider oft in der Geschichte - gerade mal wieder versucht, Juden, vor allem jüdischen Schächtern / Schlachtern / Metzgern u.a. mittels
wiederbelebter, judenfeindlicher Ritualmordlegenden nicht nur diverse ungelöste Morde, sondern auch rein erfundene bzw einfach behauptete, derartige Verbrechen oder Unglücksfälle in die Schuhe zu schieben, um Aufstände zu provozieren, die zur Verfolgung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung führen sollten – was bedauerlicherweise mancherorts auch gelang und auch mitverantwortlich für die starke Immigration von Juden in den 1880ern und 1890ern in London war –– und für die dann leider ebenfalls stattfindende Denunziation jüdischer East End Bewohner, vor allem Einwanderer aus dem Osten (besonders kurz vor den Morden im Frühjahr / Sommer 1888 ) Siehe Faden zur
Immigration >
http://jacktheripper.de/forum/index.php?PHPSESSID=f9e4c3cf868ea2b02164ee9c6f940d40&topic=1315.msg20544#msg20544). Von mindestens 79 Ritualmordbeschuldigungen zwischen 1881 und 1900 in Europa führten mindestens 14 zu Ausschreitungen.
Ich möchte hier explizit darauf hinweisen, dass es im Judentum keine Ritualmorde gibt, und heute auch sehr gut feststellbar ist, woher die absurden Behauptungen solcher stammen bzw worauf sie aufgebaut waren, und worauf man damit abzielte!:
http://de.wikipedia.org/wiki/RitualmordlegendeIch will hier nun nicht diversen widerlichen Mist, der von judenfeindlichen Elementen im Laufe der Geschichte verbreitet wurde, explizit wiederholen, aber festhalten, dass nahezu alle Verletzungen und ´Entnahmen´, die bei den Morden in London angebracht wurden, auch in judenfeindlichen Schauermärchen zu finden sind, die im Laufe der Geschichte zum Teil bewusst aus ganz anderen Kulturenkreisen übernommen und auf die jüdische Religion umgetextet wurden, und von Antisemiten gerade
ab den 1870ern nachweislich wieder einmal europaweit verbreitet wurden. Was die Bewertung der Verletzungen im Fall der Morde von Whitechapel und Umgebung aber extrem schwierig macht, ist die Tatsache, dass judenfeindliche Elemente seit dem Mittelalter auch bewusst typische Verletzungen und ´Entnahmen´ bei Sexualmorden und anderen Gewalttaten mit der jüdischen Religion in Verbindung zu bringen versuchten, indem man jüdische Bräuche und Religion bewusst falsch zu erklären versuchte oder einfach welche erfand, die gar nicht existierten oder eben von ganz anderen Religionen oder Sagen übernommene Elemente auf die jüdische Religion umtextete,
um dieser fortan jedes Gewaltverbrechen antexten zu können, und damit Stimmung gegen die jüdische Bevölkerung zu machen. Es verwundert aufgrund dieses ganzen Wahnsinns und dessen Propaganda nicht weiter, dass manche historische Mörder in judenfeindlichen Zeiten ihre posthum nach derartigen Mären zugerichteten Opfer wohl mancherorts (z. Bsp. im barocken Wien) bewusst ins jeweilige jüdische Viertel brachten (wohl aus Transportgründen im ´Pinchin Street Torso- Stil´), um von sich abzulenken, was mancherorts leider gelang und dazu führte, dass die Ermittlungen nach dem wahren Täter durch die folgenden Ausschreitungen (die u.a. bedauerlicherweise auch oft zur tatsächlichen Vertreibung der jeweiligen jüdischen Bevölkerung mit beitrugen) dermaßen beeinflusst waren, dass der wahre Täter zumeist leider nicht überführt werden konnte.
Besonders betroffen von den Ritualmordmärchen waren damals jedenfalls
jüdische Schächter / Schlachter / Metzger. Einige verloren in den 1880er und -90er Jahren in Europa eben ihre Existenz, weil damals offensichtlich einige Mörder ihren Opfern Verletzungen, Verstümmelungen und Entnahmen zufügten, die diesen Ritualmordmärchen, die eben (man kann es nicht oft genug betonen!) immer schon darauf ausgerichtet waren, Juden diverse Morde antexten zu können, ähnelten, und von judenfeindlichen Medien aufgebrachte, irre Mobs in Folge ihre Häuser und Metzgereien genauso zerstörten, wie mancherorts zusätzlich auch noch die örtliche Synagoge.
In mehreren Fällen spielte der örtliche christliche (zumeist katholische) ´Konkurrent´ eine nicht unentscheidende Rolle für diese Entwicklungen, wie u.a. gerade der Mordfall in
Skurz 1884 zeigt: Nach der Auffindung der Leiche eines 14-Jährigen, die man bei der Auffindung in etwa als eine Mischung aus der toten Catherine Eddowes und dem Pinchin Street Torso beschreiben kann, nimmt man den verarmten örtlichen jüdischen Metzger und Lumpensammler fest - zum einen, weil die Leiche neben einiger Menge brutaler auch fachmännische Schnitte aufwies, zum anderen, weil ein Zeuge behauptet, ihn mit einem auffälligen Sack nahe der Fundstelle gesehen zu haben. Auch zwei weitere Juden werden verhaftet, weil katholische Einwohner mit auffällig judenfeindlichem Unterton von einem Tumult in deren Haus berichteten. Ein katholischer Schlachter des Ortes behauptet plötzlich, die beiden letzteren haben sogar ´das Blut des Jungen´ in einem Topf daheim, das sich aber als Ochsenblut herausstellt. Die Angeklagten werden letztlich freigesprochen. Der Verdacht weist nach weiteren Ermittlungen in eine andere Richtung, und man klagt den angeblichen Zeugen wegen Meineides an, der schließlich im Verhör zugibt, nicht den jüdischen Metzger, sondern eigentlich den katholischen Schlachter gesehen zu haben, gegen den mittlerweile auch eine erdrückende Beweislast vorliegt. Im Zeugenstand aber erklärt der Zeuge wieder, sich nicht sicher zu sein, wen er da gesehen hat – und trotz diverser Beweise wird der katholische Schlachter letztlich lediglich aufgrund der Unterstützung der katholischen Geschworenen (alle Protestanten stimmten für ´schuldig´) freigesprochen, verarmt anschließend und wird dann interessanterweise von der ´Antisemiten Liga´ finanziell unterstützt. Später ist er in die USA ausgewandert, wo er den Mord am Totenbett angeblich gestanden haben soll.
Wie schnell das damals gehen konnte, dass eine von antisemitischen Schauermären und Vorurteilen beeinflusste Öffentlichkeit auf jüdische Schächter gehetzt werden konnte, beweist zum Beispiel auch der ´
Xantener Ritualmordvorwurf ´ 1891: Ein angeblich ´fachmännischer´ Kehlschnitt, und die eventuelle Möglichkeit, dass der Mord nicht in der Scheune des christlichen Gasthauses, wo man die Leiche fand, sondern vielleicht auch anderswo ausgeführt worden sein könnte (aber nicht muss!), führte nicht nur zur Falschbeschuldigung des örtlichen, jüdischen Schächters, sondern letztlich auch zur Zerstörung seiner Existenz in Xanten: Kurz beschrieben hier:
http://de.wikipedia.org/wiki/Xantener_RitualmordvorwurfWie weit verbreitet besagte Schauermären in Kontinentaleuropa damals leider waren, und wie weit reichend die schlimmen Folgen für die jüdische Bevölkerung, vor allem für jüdische Schlachter waren, will ich in Folge anhand absurdester Beschuldigungen aus den 1890er Jahren aus ganz Europa aufführen – und dabei handelt es sich vorläufig nur um solche, die mit besagter Berufsgruppe zu tun haben – Sie entstammen den ´
Mitteilungsblättern aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus ´ (online in der Sammlung der Bayerischen Staatsbibliothek hier zu finden:
http://periodika.digitale-sammlungen.de/abwehr/start.html), eines Vereins, der es sich ab 1890 (daher leider keine Beispiele aus den 1880er Jahren) lobenwerter Weise zur Aufgabe machte, den immer stärker werdenden Antisemitismus durch Aufklärung der christlichen Bevölkerung zu bekämpfen (
http://de.wikipedia.org/wiki/Verein_zur_Abwehr_des_Antisemitismus):
In Oberschützen bezichtigte man
1892 die jüdische Bevölkerung eines Ritualmordes an einem Fleischerlehrling, der gar nicht tot, sondern nur (irgendwie) verreist war, in Berlin liefen an einem Sonntagmorgen im September 1892 einige christliche Schlachtergesellen in einer Markthalle herum und brüllten nach dem ´bisher nicht entdeckten Mord in der Kaiserstraße´ (was immer das heißen mag – möglicherweise, dass man bis dahin noch gar nichts von dem Mord wusste?) herum, ´die Juden´ hätten ein christliches Mädchen getötet ´und ihr das Blut abgezapft´, in Tiflis glaubte im Juni
1893 eine Frau aufgrund der Schauermärchen das Geschrei eines gerade ´geschlachtet werdenden´ Kindes im Keller jüdischer Fleischhändler gehört zu haben, das in Wirklichkeit auf Lämmer zurückzuführen war, im August des selben Jahres behauptete ein später der Lüge überführter, notorischer Trinker in Prag, der jüdische Schächter Hermann Läwy hätte ihm gegen Geld sein ´Christenblut abgezapft´, im Oktober kommt es in Beraun zu heftigen Ausschreitungen, weil bekannt wurde, dass der jüdische Schlachter Emil Loewi sein christliches Dienstmädchen leblos in seinem Magazin fand, das nach ihrer Erholung aufklärte, dass es unter epileptischen Anfällen litt, und im Dezember floh ein Junge in Kempen am Rhein in panischer Angst aus dem Haus des jüdischen Schlachters Lampertz (wohin er einen Korb transportiert hatte), zumal er dort auch zwei weitere Metzger (der Junge hielt sie für Juden, es waren aber Christen) antraf und aufgrund aller antisemitischen Gruselmärchen, die er irgendwo aufgeschnappt hatte, befürchtete, die drei wollten ihn womöglich ´abschlachten´. In Berent kam es im April
1894 zu einem Volksauflauf, weil eine Mutter den jüdischen Fleischer Werner beschuldigte, ihr Kind zu ´rituellen Zwecken´ getötet zu haben, das in Wirklichkeit in der nächsten Seitengasse auf sie wartete, im Mai wird ein des ´Ritualmordes´ an einem Friseurlehrling angeklagter jüdischer Schächter von einem wissenschaftlichen Gutachten entlastet, im Juni berichtet eine Magd in Szenicz von einem regelrechten ´Schächter- und Rabbinerauflauf´ in Haus eines jüdischen Einwohners, weil ein christliches Mädchen, das diesem Wäsche brachte, nicht heimkam, in Wirklichkeit aber leider am Heimweg in den Bach gestürtzt und ertrunken war. Im April
1898 bezichtigt ein anonymes Schreiben an die örtlichen Behörden in Langendorf den jüdischen Schächter Translateur des Ritualmordes, weil man bei Renovierungsarbeiten Knochen in seinem Haus gefunden habe, von denen das Gericht, das später nach dem Urheber des Schriftwerkes fahnden ließ, letztlich festgestellte, dass sie zu irgendeinem Tier, ganz sicherlich aber nicht zu einem Menschen gehörten und im selben Monat wird in Chrzanow behauptet, ein jüdischer Fleischer hätte sein bei ihm angestelltes und wohnendes, christliches Dienstmädchen ´geschlachtet´, das in Wirklichkeit gekündigt hatte und ausgezogen war, da sie das Leben als Prostituierte, wie sie angab, als bequemer empfand.
Über die
Konitzer Mordaffäre 1900 kann sich jede/r selbst ein Bild machen – Dieser Fall wurde in den letzten Jahren von Historikern besonders oft herangezogen, um auf das starke Aufkommen des Antisemitismus im ausklingenden 19. Jahrhundert, seine Methoden und seine Ursprünge - und leider auch weit reichenden Folgen hinzuweisen. Auch wenn ich es selbst noch nicht ganz gelesen habe, möchte ich folgendes Buch, das auch Einblick in diverse historische Ritualmordbeschuldigungen gibt (und der Autor, ein Historiker darin auch, wenn auch nur in einem Absatz zu ´JtR´ Stellung nimmt), besonders erwähnen: Der Titel bezieht sich übrigens nicht auf die Geschichte des jüdischen Schächter Adolph Lewy, der durch diese Affäre ebenfalls seine Existenz verlieren sollte, sondern auf die zu seiner eigenen Verteidigung vorgetragene, mit antisemitischen Aussagen nur so gespickte und mittels einer antisemitischen Zeitung kolportierte Geschichte des örtlichen christlichen Metzgers (oder in seinem Namen verfasste), mit der man Lewy schwer zu belasten versuchte:
Helmut Walser Smith: ´
Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt.´ Wallstein Verlag, Göttingen 2002 -
http://www.wallstein-verlag.de/9783892446125.html Eine weitere kurze Darstellung des Falles auf Wikipedia - man beachte, den angeblichen ´Zeugen´, der nicht nur die Unwahrheit gesagt zu haben scheint, sondern dem man letztlich wohl nur aus politischen Gründen keinen Prozess mehr machte:
http://de.wikipedia.org/wiki/Konitzer_MordaffäreHinweise auf eventuell nötige Korrekturen (man kommt bei dermaßen viel Recherche wie hier hin und wieder schon mal durcheinander) – wie immer – explizit erwünscht!
Es ist mir definitiv ein Anliegen, hiermit einmal auf die damalige Situation in Europa, die für die jüdische Bevölkerung der reinste Horror war, aufmerksam zu machen, zumal man in unserem Fall hier auch nicht den gleichen Fehler machen darf, dem wohl auch einige Ermittler damals - wie auch Andersons Geschichte bei näherer Analyse vermuten lässt - aufsaßen. Auch diverse ´Profilings´, die von heutigen Kriminalisten, die sich an diesen historischen Fall wagten, gemacht wurden, nehmen auf historische Begebenheiten und auch andere Aspekte – was aber auch nicht deren Gebiet ist – kaum Rücksicht, sehr zum Leid der damaligen jüdischen Bevölkerung, deren Mitglieder mit Bezug darauf auch heute noch viel zu häufig als ´Verdächtige´ präsentiert und gehandelt werden. (Teilweise mit der allein schon aufgrund der momentanen Sachlage reichlich absurden Begründung, Kosminski und auch andere ´wären ja schizophren´ oder von ihren Erlebnissen in Kontinentaleuropa ´traumatisiert´.)
Beste Grüße,
panopticon