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Reisetagebuch
18. April 1909
Armut in London
Durch Whitechapel
Abgängig von den vielen Ländern, in denen sie auftritt, nimmt Armut unterschiedliche Formen an. In Russland z. B. ist es ein sozialer Zustand, eine ererbte Tradition, in Italien ist es ein Laster, in Frankreich ein Unfall in England ist es ein System: Massenarmut.
Die Feudalherrschaft hat Spuren in Albion hinterlassen; eine Aristokratie, zusammengesetzt aus Großgrundbesitzern , besitzt fast die ganze Insel. Die unteren Klassen sind ärmer als anderswo. In London überholt die niedrige und finstere Armut alles, was in den anderen europäischen Hauptstädten zu beobachten ist.
Whitechapel, das soll hier noch einmal erwähnt werden, war der Schauplatz der erstaunlichern Verbrechen von Jack the Ripper, der Organe seiner Opfer mitnahm, die später in Gläser gefüllt und in Spezialgeschäften als Anatomische Muster verkauft wurden.
Arme Anarchisten finden in Whitechapel Schutz. Es ist bekannt, dass die Küsten Englands besonders gastfreundlich zu Revolutionären jeden Landes sind; allerdings existiert ein ungeschriebenes Gesetz: Die, die an Propaganda durch die Tat glauben dürfen ihre mörderischen Neigungen niemals auf Englands Boden begehen, und bisher haben die Anarchisten diese Verabredung geachtet.
Die, die nicht wissen, wie man sich den Lebensunterhalt verdient, und die, die sich gut verstecken wollen, weil sie einen Mordanschlag oder einen Aufstand planen, leben in der stinkenden Düsternis von Whitechapel. Dort mischen sie sich mit der wimmelnden Masse von Taschendieben, Gin-Trinkern, Halsabschneidern, Dieben, Mördern, unter denen man Laster und Verbrechen alle Formen annehmen (wörtlich. ...alle Sprachen sprechen hört)
Manche werden vielleicht denken, dass die englische Polizei nur einen Blick auf diesen immensen Wunderhaufen werfen muss, damit das Licht auf einmal scheint und sie Kriminellen an Kragen gepackt werden; wir möchten gern an die Ausflüge des legendären Sherlock Holmes glauben. In Whitechapel kann man in aller Sicherheit stehlen und töten. Von den meisten Diebstählen und Morden hört die Polizei nicht einmal. Trunkenbolde und Mörder schlitzen sich gegenseitig die Kehlen mit ergreifender Diskretion auf. Sie brauchen nicht die Kampfeslaute und den Anflug von überladener Ausschmückung, den unsere Pariser so lieben und der meistens die Polizei anzieht. Die Whitechapel-Schurken gleiten diskret in die Schatten, erheben ihre Messer in Stille, werfen dich hinterhältig in die Themse, falls ihr Verbrechen sie nicht zu weit fortgeführt hat. Am nächsten Morgen erwacht London; von ein paar Verbrechen wird in den Zeitungen berichtet, aber nicht von den meisten der Whitechapel im Schutz der Nach begangenen, die für immer unbekannt bleiben. Einige freundliche Geister, einige gemeinnützige Seelen wie man sie in der Heilsarmee und ähnlichen Organisationen trifft, haben versucht dieses barbarische Land zu bekehren, diesen extrem wilden Bereich, der Whitechapel ist. In gut geheizten Räumen liest ein vortrefflicher Gentleman oder einen noch bessere Lady eine kleine Ansprache und unterrichtet über die Bibel und die Geschichte von England. Es gibt Zuhörer auf den Bänken; aber nur wenige. Sie sind gekommen, weil es warm ist und sie auf Suppe oder eine Tasse Tea hoffen.
Außerdem repräsentieren sie die Armen, nicht das kriminelle Element Whitechapel. Zwischen ihnen sind manchmal welche, die wichtige Positionen besetzten. Auf einem niedrigeren Level dieser ungewöhnlichen Einwohnerschaft findet man das verworfene und unmäßige Laster der Alkoholiker und Gin-Trinker. Männer und Frauen, schleppen sich, wenn sie nicht gerade an den mit Zink überzogenen Tresen stehen, taumeln die schmutzigen Straßen entlang bis sie zusammenbrechen und auf einer der Bänke einschlafen, die so zahllos sind, das man glauben könnte, sie seien zu diesem Zweck aufgestellt worden.
Da habt ihr Whitechapel: Anarchisten, Mörder, Gestrauchelte und Trunkenbolde. Die Heilsarmee hat alle Hände voll zu tun. Außerdem war London schon immer der Rückzugspunkt für geächtete Bösewichte, und Whitechapel ist sogar weniger schrecklich und berüchtigt als das Whitefriars der vergangen Jahrhunderte.
Zur Zeit Charles II, war Whitefriars Schauplatz eines Sportes, der heute nicht so freigiebig toleriert würde; tatsächlich kamen englische wie fremde Lords nach Whitefriars um sich damit zu amüsieren, Passenten zu töten. Sie verbargen ebenfalls ihre ungezügelten Ausbrüche. Niemand belästigte sie (auch: Niemand kümmerte sie )
Wenn heute Lords für eine Tötungsparty nach Whitechapel kämen darf man annehmen, dass König Edward, weniger nachgiebig als sein Vorgänger Charles II, Whitechapel von diesen allzu bunten Besuchern reinigen würde.
Leon Charpentier
Bild-Unterschriften
Ein Gin-Trinker
Eine der Hauptstraßen Whitechapels
Eine erfrischende Pause
Armut in London. Bietet man diesen abgelehnten Ausgestoßenen eine Tasse Tee oder einen Teller Suppe zu einem Penny an, so kommt ein Spärliches Publikum in diesen Zufluchtsort um die Unterweisungen der hingabevollen Seelen der Heilsarmee zu hören.
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Soweit dazu. Die Bilder sind klasse!!
Was mich gewundert hat, ist die Erwähnung der "vielen Bänke" . Nun ist dieser überaus objektiv abgefaßte und akkurate, kaum wertende
Bericht ja schon von 1909 - sind die zwischenzeitlich gebaut worden?? Weiß jemand wann ungefähr der Bänke-Boom einsetzte? Vielleicht nach Veschwinden der Doss Houses?? Hat zwar nicht direkt mit dem Fall zu tun, würde mich aber mal interessieren.