Autor Thema: Robert L. Stevenson in der Wiener Abendpost vom 1.10.1888  (Gelesen 7872 mal)

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Offline academyfightsong

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Wiener Abendpost vom 1.10.1888

Ein englischer Novellist

Drei Londoner Theater streiten sich gegenwärtig um den Ruhm, Robert Louis Stevenson zum bekanntesten Schriftsteller in England zu machen.

Das Lyceum mit seiner durch Shakespeare und Goethe geweihten Stätte ging mit dem Beispiele voran. Als Henry Irving und Ellen Ferry im Juli ihre Ferien antraten, um sich von den bis zur Ermüdung wiederholten Aufführungen des „Faust“ zu erholen, wurde die classische Bühne an eine amerikanische Truppe überlassen. Diese brachte gleich am ersten Abend eine Dramatisirte Novelle von R.L. Stevenson auf die Bretter: „Dr. Jekyll & Mr. Hyde“.

Den Schauspielern widerfuhr das Unglück, daß eine Dame in einer Loge während der Aufführung in Ohnmacht fiel: das Glück der Truppe war gemacht. Seitdem spielen die amerikaner Abend für Abend dasselbe Stück vor vollem Hause, und ganz London spricht von „Dr. Jekyll & Mr. Hyde“.

Diese Glück lies den ehrgeizigen Director eine anderen Londoner Theaters nicht schlafen, und er kam auf den genialen Gedanken, die Novelle Stevensons in seiner Weise zu benützen. Dr. Jekyll wurde der Held einer Oper!

Die Amerikaner hatten darauf den guten Einfall, einen Prozeß wegen literarischen Raubes anzustrengen, der selbstverständlich dem Namen des merkwürdigen Novellisten sehr gute Dienste leistete, und nun hat die Truppe mit ihrem Drama eine solche Berühmtheit erlangt, daß ein drittes Theater mit demselben Stoffe abermals volle Häuser erziehlt: Dr. Jekyll wurde der Held einer Parodie!

Das ist der grösste Grad von Ruhm, dessen sich ein Schriftsteller erfreuen kann, und nun fragt man:
Wer ist Robert Louis Stevenson? Ein homo novus? Dem Erfolge nach wohl, aber nicht nach dem literarischen Gepäck, denn das geht ganz bedeutend ins Gewicht. Stevenson hat sich seinen Dichtertitel mit einem Bändchen Goldschnittliteratur erkauft. Die meist sehr kurzen Gedichte tragen den Gesammttitel: „Eines Kindes Liedergarten“. Aus den an eine unbekannte Dame gerichteten Widmungsversen ist zu ersehen, daß Stevenson ein Schotte ist; die prachtvolle Ausstattung läßt den sicheren Schluß zu, daß sich der Dichter bei seinem Debut in guten Verhältnissen befand. Die Kritik schwieg das kleine Büchlein einfach todt.

R.L. Stevenson ist nichts weniger als eine naive idyllische Natur. Der „Liedergarten“ ist eine Laune oder eine Maske; seine wahre Natur hatte er schon vorher in prosaischen Werken, in den „Arabischen Nächten“ und in der „Schatzinsel“, eine Seemannsgeschichte aus dem 17. Jahrhunderte, gezeigt.
Das erstgenannte Werk ist eine Sammlung von lose aneinandergereihten Erzählungen. Die erste derselben, welche den vielversprechenden Titel „Der Club der Selbstmörder“ führt, sei als Musterstück der ganzen Gattung in Kürze analysirt.

Prinz Florizel – Name und Charakter sind dem „Wintermärchen“ entnommen – weilt mit einem treuen Begleiter, dem Obersten Geraldine, in London. Da der Prinz sich öfter in der Rolle eines Harun-al-Raschid gefällt, treibt ihn die Laune eines Abends in eine ganz gemeine Schenkstube (public bar) in der Nähe des „Strand“. Die Trinkgesellschaft bietet seiner Beobachtung nichts Neues, und er schickt sich an, gelangweilt das Lokal zu verlassen, als ein junger Mann, von zwei Stadtträgern gefolgt, in den Bar stürmt (?). Er reicht die Rahmtorten, welche die Männer auf Theebrettern tragen, der Reihe nach den Gästen herum. Als die Reihe an den Prinzen kommt, stellt er die Bedingung, daß der sonderbare junge Mann auch seine, des Prinzen, Gastfreundschaft an diesem Abende annehmen möge, sonst müsse er das Geschenk zurückweisen. Der Tortenspender erkennt sofort, daß er es mit einem Gentleman zu thun hat, und sagt zu. Als die Torten zu Ende sind, zieht er die ziemlich gut gefüllte Börse, zahlt den Stadtträgern in Gold, den Rest aber wirft er mit kräftigem Schwunge mitten auf die Straße. Dann folgt er dem Prinzen und dessen Begleiter zum Souper. Beim Champagner wird das Verhältniß der drei Sonderlinge immer vertrauter, und der Prinz versteht es, dem jungen Manne sein Geheimniß zu entlocken. Er hat stärker gelebt als es sein Einkommen erlaubte. Da er sich eines Tages ernstlich verliebte und mit der Vergangenheit zu brechen versuchte, machte er die Entdeckung, daß sein Vermögen auf die Lappalie von 400 Pfund zusammengeschmolzen war. Als Mann von Geschmack, kann er natürlich mit einer solchen Summe nicht an Liebe und Ehe denken; daher hat er die vielen Thorheiten seines Lebens an jenem Abende mit der allergrößten beschlossen. Als ein Selbstmordcandidat!
Der Prinz geht auf die Stimmung des armen Teufels ein, indem er sich und seine Begleiter ebenfalls für lebensmüde ausgiebt. Das macht den Tortenspender noch vertraulicher, und nachdem er beiden das Ehrenwort auf Discretion abgenommen hat, ladet er sie ein, dem Club der Selbstmörder beizutreten, dessen Mitglied er schon sei. Der Club habe sich die Aufgabe gestellt, seine Mitglieder in unauffälliger, bequemer Weise von der Last des Lebens zu befreien. Keine schlimmen Folgen für die Nachkommen oder Verwandten, keine Aufregung, kein Scandal.

Die Neugierde des Prinzen ist aufs lebhafteste erregt. Er will sofort in den Club. Vergeblich ermahnt in der Fremde, vor dem entscheidenden Schritte noch ein Mal ernstlich mit sich zu Rathe zu gehen; vergeblich fleht der treue Geraldine seinen Herren, das verhängnißvolle leichtsinnige Experiment zu unterlassen – der Prinz will, und alle drei begeben sich zu Wagen in den Club. Vor einem mächtigen Gebäude in der Nähe der Themse machen sie Halt. Durch einen großen finsteren Hof führt der Fremde sie über eine schmale, ebenfalls unbeleuchtete Treppe in das Local; sie werden angemeldet und dann vor den Präsidenten des Clubs geführt. Nach einer kurzen Prüfung und nachdem sie je 40 Pfund gezahlt, werden sie in den Club aufgenommen. Eine Anzahl von etwa 20 Leuten sehr verschiedenen Alters – es sind alle Stufen von 18 bis 70 vertreten – unterhalten sich gruppenweise in lautem Gespräche, das von Zeit zu Zeit durch das Knallen von Champagnerflaschen unterbrochen wird. Die Unterhaltung dreht sich um die Vergangenheit der Clubmitglieder, hier und da auch um die Zukunft. Der Prinz findet die Gesellschaft sehr ...???, es freut ihn fast, unter sie gerathen zu sein. Da tritt der Präsident ein, ein Spiel Karten in der Hand. Alles erhebt sich und eilt in das anstoßende Zimmer. Man sezt sich um einen grünen Tisch, der Präsident beginnt die Karten zu mischen. Todtenstille herrscht in dem Zimmer. Der Prinz und sein Begleiter lassen sich von einem Mitgliede die Bedeutung des Spieles erklären. Wer Herz-Aß zieht, wird noch in derselben Nacht von einem Clubgenossen in irgend einer unauffälligen Weise getödtet!

Die Karten gehen herum, kalter Schweiß steht dem Prinzen auf der Stirn, das Herz schlägt ihm zum Zerspringen. Endlich ist das Spiel entschieden – weder der Prinz noch sein Begleiter haben die schrecklichen Karten gezogen. Der Mörder aber und sein Opfer sizen Sprachlos, zermalmt, todtenbleich in ihren Stühlen. Rasch verläßt der Prinz das Local, draußen aber prägt er sich die Lage des Hauses ein. Am anderen Morgen steht in der Zeitung zu lesen: Gestern Nachts stürzte der allgemein geachtete Greis R.R., als er mit einem Freunde über die Treppen von Trafalgar Square schritt, von den Stufen; der Tod trat augenblicklich ein. Die Aerzte constatiren einen Schlaganfall als Ursache des Sturzes.

Der erste Gedanken des Prinzen ist, die fürchterliche Höhle dem Gerichte zu übergeben, aber er hat mit seinem Ehrenworte Schweigen gelobt, und er – schweigt. Mehr als das. Am Abende begiebt er sich, trotz allen Flehens seines treuen Obersten, wieder in den Club. Diesmal nimmt das Spiel mit der Gefahr eine furchtbare Wendung: der Prinz zieht Herz-Aß. Während dieser halb ohnmächtig zurücksinkt, hat Geraldine rasch das Zimmer verlassen. Der Prinz hat wieder seine Fassung erlangt; festen Schrittes geht er von dannen, von seinem Mörder gefolgt. Kaum aber hat er die Straße betreten, als sich drei Männer auf ihn stürzen und ihn in einen geschlossenen Wagen schleppen – Florizel sinkt seinem getreuen Geraldine weinend um den Hals. Die Bestrafung der Höllenbande versteht sich von selbst...


Diese Stevenson’sche Geschichte ist bezeichnend für die ganze Richtung der zeitgenössischen Londoner Novelle. So wie die Londoner Tageblätter gar oft eher einem Polizeiberichte als einer politischen Zeitung ähnlich sehen, so hat der allerneueste englische Novellist, sofern er gelesen und nicht nur in den besseren Monatschriften gelobt werden will, weit eher auf recht haarsträubende Vorfälle, denn auf Wahrheit und psychologische Vertiefung zu sinnen. Gewiß die großen englischen Revuen sind weit davon entfernt, den blutdürstigen Geschmack des großen Lesepöbels zu theilen, aber wer fragt nach dem Urtheile jener aristokratischen Kritik? Das große Publicum will Unterhaltung um jeden Preis, und der Erfolg der Sensations-Novelle zeigt, was den Londoner von heute am besten unterhält. Wie sollte er an gewöhnlichen Mordgeschichten Gefallen finden, wenn das tägliche Leben im Osten von London das Schauerlichste bietet, das je die erhizte Phantasie eines Sensations-Novellisten ersonnen? Im Laufe eines einzigen Monats werden in einem der dichtesten, belebtesten Bezirke des East-End, fast an derselben Stelle vier Frauen ermordet, und unter welchen Umständen! Wie konnte das Publicum George Eliots und Thaderan’s so sehr alle literarische Ueberlieferung verleugnen? Die gegenwärtige englische Literatur leidet unter jener Krankheiten, wie sie zeitweilig ganze Völker befallen, und die Krankheit ist das Bedürfniß nach berauschenden, aufregenden Mitteln. Stevenson hat es verstanden, die großen Revuen John und Jemima Bulls am stärksten zu erschüttern, daher ist er der berühmteste Schriftsteller seiner Zeit.

Than

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Robert L. Stevenson in der Wiener Abendpost vom 1.10.1888
« Antwort #1 am: 02.02.2005 03:14 Uhr »
Ich liebe ihn! Schon seit Kindheitstagen. Ich hab alle seine Bücher hier im Schrank stehen und der Kerl iss durch und durch ein Held wie er im Buche steht - vorzugsweise in seinen eigenen  8) BTW iss seine Lebensgeschichte eine der aufregendsten, fantastischsten, die ich je gelesen hab. Der hat, obwohl er nur 44 Jahre alt wurde, sein Leben komplett ausgereizt - Orte gesehen, von denen wir nur träumen würden. /me liebt all ihre Stevenson Biographien.
Ich meine... ich könnte jetz hier nen Gospelsong auf Stevenson anstimmen, und ihn lobpreisen bis zum gehtnichmehr, aber .... :D nein. Der Kerl iss einfach nur ne saumässig geile Sau gewesen. Er hatte genau DEN Humor, der den meisten seiner Zeitgenossen fehlte. Er hatte ein Wissen im Kopp, an das meines nich in 80 Jahren ranreicht und vor allem - er hat keinen Plan von farblich zusammenpassenden Klamotten gehabt und er hatte einen Hund namens Woggs  :twisted: .... erwähnte ich schon, dass ich ihn liebe? [insert Smiley of intense Schwärmerei here]

Edit: Höhöhö... wusstet ihr btw, dass es einen Pornocomic der Serie "Young Witches" gibt, namens "London Babylon", in dem ne ganze Menge historischer Persönlichkeiten verhunnepiepelt werden? Unter anderem ist Stevenson in diesem Comic Jack the Ripper :D Wollte ich den Ferkeln unter euch mal nahelegen ;) Man kann, wenn man nich grade auf sone Art von Sauereien steht, immer noch tierisch schmunzeln über die historischen Insidergags, die darin vorkommen. Weiteres Pro iss, dass die Figuren alle verdammt originalgetreu gezeichnet sind! Eiiiigentlich wollt ich das ja garnich verraten, weil näh? Sauereien und so, und wegen schlechtes Bild von der armen Than haben und sou.... aber ich fürchte, das habt ihr eh schon, von daher - so what?  :twisted: