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Ich poste diese Zeilen bewußte ohne eigene Wertung. Möge sich jeder von euch eine selbstständige Meinung bilden.
Hellseher: Person mit der sich selbst oder durch andere zugeschriebene(n) Fähigkeit, auf „übernatürlichem“ Wege Informationen über Orte, Menschen oder Sachverhalte zu erlangen, die sie nach unserem Alltagsverständnis eigentlich nicht besitzen kann. Die Informationen können sich dabei auf ferne Orte und Begebenheiten (Hellsehen im engeren Sinne), auf vergangene (so genannte Retrokognition) oder auf zukünftige (Präkognition) Ereignisse beziehen. Die Informationserlangung kann, muss aber nicht den Rahmen des heute wissenschaftlich Erklärbaren überschreiten (auch Talente wie Einfühlungsvermögen oder Intuition können hier eine Rolle spielen). Hellseher finden seit jeher in unterschiedlichen Bezügen große Beachtung in der medialen Berichterstattung und sind deshalb Thema kultur- und sozialwissenschaftlicher Forschung. Ob ihre Fähigkeiten tatsächlich über die allgemein anerkannten menschlichen Möglichkeiten zur Wahrnehmung und Schlussfolgerung hinausgehen, ist Untersuchungsgegenstand der Parapsychologie.
Die ersten ernsthaften Versuche seitens deutscher Polizeibeamter in der Richtung lassen sich auf das Jahr 1919 datieren, als der Leipziger Polizeirat Ernst Engelbrecht „um des wissenschaftlichen Interesses der Sache willen „ein viel diskutiertes Experiment mit einem weithin bekannten „Telepathen“ inszenierte, um daraus Erkenntnisse für den Einsatz in der kriminalistischen Praxis ziehen zu können. Diese Unternehmungen stießen auf Professionalisierungsbemühungen innerhalb des Polizeiapparates, die mit der Erprobung und Einführung neuer forensischer Techniken verbunden waren. Von Österreich aus, wo 1921 in Wien unter Förderung des Wiener Landgerichts sowie eines kapitalkräftigen Mäzens für einige Monate ein „Institut für kriminaltelepathische Forschung“ operierte, verankerte sich diesbezüglich das Schlagwort „Kriminaltelepathie“ auch in der deutschen Publizistik. Nicht nur in der Tagespresse, sondern auch in kriminologischen und polizeipraktischen Fachorganen kam es daraufhin zu breit angelegten Diskussionen darüber, ob und in welcher Weise „hellseherische„ bzw. „telepathische“ Fähigkeiten in der polizeilichen Ermittlungsarbeit eine Rolle spielen dürften. Befürworter und Gegner lieferten sich diesbezüglich heftige Gefechte. Es dauerte nicht lange, bis das Thema auch zum Gegenstand akademischer Untersuchungen wurde.
Vermehrt tauchten in Deutschland nun Personen mit vermeintlichen paranormalen Fähigkeiten auf, die den Ermittlungsbehörden ihre Dienste als „Kriminaltelepathen“ anboten oder sogar eigene Detektiv- Büros gründeten. Der im Institut für Grenzgebiete Psychologie und Psychohygiene (IGGP) in Freiburg aufbewahrte Teilnachlass des Potsdamer Juristen Albert Hellwig (1880- 1951) enthält unzählige, bislang kaum erforschte Einzelfälle. Landesweite Schlagzeilen machte beispielsweise im Sommer 1921 die Frankfurter „Wahrträumerin“ Minna Schmidt. Sie hatte im Fall eines Doppelmordes an zwei Bürgermeistern in Heidelberg den späteren Fundort der Leichen bestimmt. Gerade die bekannter gewordenen „Hellseher“ wurden nicht selten von den Ermittlern direkt kontaktiert. Der Einsatz der „Kriminaltelepathie“ entwickelte offenbar zeitweise eine solch massive Verbreitung innerhalb des Polizeiapparates, dass das Preußische Innenministerium sich schließlich Anfang April 1929 gezwungen sah, sich mit einer Verfügung an seine Beamten zu wenden, und diesen untersagte, „Hellseher, Telepathen u. dgl. zur Aufklärung strafbarer Handlungen heranzuziehen“, die Beamten aber gleichzeitig dazu anhielt, „alle ihnen bekannten Tatspuren in der geeigneten Weise und ihnen gegebenenfalls selbstständig nachzugehen, auch wenn diese das Ergebnis eines von dritter Seite vorgenommenen parapsychologischen Experiments sind“. Während in der Zeit des Nationalsozialismus nach derzeitiger Kenntnis erheblich weniger in diese Richtung gearbeitet wurde, lebten Versuche der Verbrechensaufklärung mittels Hilfe von „Hellsehern“ in den ersten Nachkriegsjahrzehnten wieder verstärkt auf. Schon allein die im Archiv des IGPP dokumentierten zahlreichen Fälle belegen eine erneute häufige Verwendung der „Kriminaltelepathie“ in dieser Zeitraum. Die Folge war ein neuerlicher Verbotserlass an die Ermittlungsbeamten. Doch noch 1953 hatte die Baden-Badener Staatsanwaltschaft den Hauptvertreter der deutschen Parapsychologie, den Freiburger Psychologieprofessor Hans Bender (1907-1991), gebeten, verschiedene ihm seriös erscheinende Personen mit „hellseherischen Fähigkeiten“ für die Suche nach dem Opfer eines in der Nähe der nordbadischen Kleinstadt Gaggenau geschehenen Verbrechens einzuschalten. Im Zuge dieses – sich als erfolglos herausstellenden – Experiments sollten auch grundlegende Fragen geklärt werden. Aufgrund seiner vielfältigen Erfahrungen nahm Hans Bender, dessen wissenschaftliche Expertise bei den Polizeibehörden gefragt war, stets eine zur Vorsicht mahnende Haltung zur Verwertbarkeit der Aussagen von „Kriminalmedien“ ein: Zwar würde es durchaus bemerkenswerte Treffer geben, die Grund für eine intensivere wissenschaftliche Beschäftigung gäben; zumeist seien die Angaben jedoch nur „parapsychologisch interessant“, hingegen „für die Ermittlung nutzlos“. Das vorliegende Quellenmaterial lässt erkennen, dass sowohl die Praxis als auch die Problematik der „Kriminaltelepathie“ bis in die neuere Zeit ein Thema geblieben ist. Allerdings scheint die durchaus ergebnisoffene Haltung in Teilen des Polizeiapparats der 1950er und 1960er Jahre im Verlauf der 1970er Jahre einer zunehmend kritischeren und reservierteren Einstellung gewichen zu sein. Das am häufigsten angeführte Argument gegen eine entsprechende Kooperation war die fehlende Gerichtsverwertbarkeit der Aussagen aus dem Personenkreis der „Telepathen“.
Dass die Hilfeangebote von „Hellsehern“ von den Ermittlungsbehörden nicht immer von vornherein zurückgewiesen werden und entsprechende „Expertise“ zumindest in Extremsituationen von Ermittlungsbehörden durchaus aktiv nachgefragt wird, zeigen im Archiv des IGPP aufbewahrte Unterlagen zum Fall der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer im Herbst 1977 durch Mitglieder der RAF. In der zweiten Fahndungswoche suchten zwei Ermittler des Sonderkommandos – ein Polizeipsychologe sowie ein leitender Beamter der Bundeswehrschule für psychologische Verteidigung in Euskirchen – den Hellseher Gérard Croiset im holländischen Utrecht auf. Croiset (eigentlich: Gérard Boekbinder, 1910-1980) galt zum damaligen Zeitpunkt europaweit als einer der bekanntesten und gefragtesten „Hellseher“. Zu seinem Spezialgebiet hatte er die Verbrechensaufklärung bzw. die Suche nach vermissten Personen gemacht. Seitens der Ermittler wurde mitgeteilt, man sei in der Einsatzleitung mit BKA-Chef Herold an der Spitze „sehr wohl willens, unorthodoxe Wege zu gehen“. In der Nacht vom 14. auf den 15. September 1977 observierte die Polizei – anscheinend auf Grund der Angaben Croisets – ein bestimmtes Kölner Wohngebiet. Die Beschreibung des Ortes, so die Ermittler, habe „sehr auffällig“ gestimmt.
Der Leiter der Vermisstenstelle des Bayerischen Landeskriminalamtes, Günter Milke, schrieb nach einer in den 1990er Jahren gestellten Befragung an alle zuständigen Polizeidienststellen des Landes, dass „Hellseher“ in keinem einzigen Falle „einen brauchbaren Hinweis gegeben oder auch nur im entferntesten weitergeholfen“ hätten. Dennoch wolle man sich in den nächsten Jahren bemühen, den Erfahrungsschatz mit „Sensitiven“ zu heben, nicht zuletzt um den Beamten vor Ort wissenschaftlich fundierte Hinweise für den Umgang mit „Hellsehern" im Polizeialltag geben zu können.
(Quelle: Dr. Michael Schetsche, Privatdozent und Uwe Schellinger, M. A.)
Gruß Stordfield