Hallo allesamt!
Ich hatte mir die Doku "Jack the Ripper - The missing evidence" ebenfalls angesehen, in der vom Journalisten Christer Holmgren der Nichols-Zeuge Charles Cross / Lechmere als möglicher Ripper vorgestellt wird.
https://www.youtube.com/watch?v=tndfLueunCQInsgesamt m.E. eine gut gemachte Doku, aber mir sind doch ein paar schwache Punkte aufgefallen - ihre Argumentation erscheint mir nicht immer wirklich schlüssig:
1. Die Namens-Geschichte
Es wird darin so dargestellt, als hätte Cross mit seinem Namen gelogen, und dies wird als Verdachtsmoment aufgebaut, so als er hätte er etwas zu verbergen gehabt - dabei hatte Lechmere den Namen Cross nicht erfunden, sondern von seinem Stiefvater übernommen und eine ganze Zeit lang öffentlich benutzt. Es wird in der Doku sogar explizit erwähnt, dass es praktisch genausoviele Dokumente über ihn unter dem Namen Cross wie Lechmere gibt. Den Nachnahmen des neuen Familienoberhauptes anzunehmen ist per se noch nicht verdächtig, sowas kam und kommt häufig vor, und kann ganz triviale Gründe haben: Distanzierung vom leiblichen Vater, Respektbezeugung gegenüber dem neuen Vater, oder die opportunistische Überlegung, vom Namen des Stiefvaters profitieren zu können...
Unabhängig davon wäre es völliger Blödsinn gewesen, ausgerechnet den Namen des Stiefvaters zu nennen, wenn er etwas hätte verbergen wollen, und dann auch nur beim Nachnamen zu lügen, aber nicht beim Vornamen und bei der Adresse - doch beides gab er korrekt als Charles Allen und Doveton Street 22 an. Somit hätte ihm die Nennung eines falschen Nachnamens überhaupt nichts genützt. Es ist auch wohl niemand so dumm zu glauben, dass in einem Mordfall nicht gegen ihn ermittelt würde, nur weil sein Stiefvater Cross ein Cop ist.
2. Arbeitswege und Zeiten
In der Doku wird dargestellt, dass mehrere Morde auf seinen Wegen zu Arbeit lagen und damit der Verdacht einer möglichen Täterschaft nahegelegt.
Das Problem dabei ist nur: Die Arbeit von Cross in der Broad Street begann laut der Doku um 4 Uhr morgens, damit lägen die Morde an Chapman und Kelly außerhalb seines Zeitfensters - es sei denn er hätte sich folgenlos und ohne aufzufallen um jeweils mehr als eineinhalb Stunden mit dem Arbeitsantritt verspäten dürfen, was im frühkapitalistischen England eher unwahrscheinlich ist.
So wird in der Doku der Tatzeitraum beim Mord an Chapman im Hinterhof der Hanbury Street 29 angegeben mit 4.30 - 6.30 Uhr - dies ist nicht korrekt:
Gegen 4.45 Uhr war John Richardson noch im Hinterhof, und gegen 5.30 Uhr wurde Chapman zum letzten Mal lebend gesehen von der Zeugin Elizabeth Long, und zwar direkt vor der Tür zum Hof mit einem Mann (vermutlich der Ripper). Gegen 5.15 Uhr erwachte Albert Cadosch aus dem Nachbarhaus Nr. 27 und ging ein paar Minuten später in seinen Hinterhof zur Toilette, und als er danach ins Haus zurück wollte, hörte er vom Hof nebenan zunächst ein leises "No" und kurz darauf bei seinem Aufbruch zur Arbeit etwas gegen den Zaun stoßen. Somit lag die Tatzeit gegen halb Sechs.
Wäre Cross der Ripper gewesen, wäre er folglich mehr als eineinhalb Stunden zu spät zur Arbeit gekommen.
Auch beim Mord an Mary Jane Kelly hätte es für Cross als Mörder zeitliche Probleme gegeben:
Der Zeuge George Hutchinson sah Kelly gegen 2 Uhr mit einem Kunden zurück auf ihr Zimmer gehen. Er wartete bis gegen 3 Uhr gegenüber dem Miller's Court, und erst zwischen 3 Uhr und 4 Uhr hörten die Zeuginnen Sarah Lewis und Elizabeth Prater einen leisen, unterdrückten Schrei vom Hof her: "Mord!" Korrekterweise legt auch die Doku die Tatzeit auf zwischen 3 und 4 Uhr.
Aber laut forensischen Einschätzungen hätte der Ripper gut eineinhalb bis zwei Stunden bei Kelly zubringen müssen (was sich mit der Aussage der Nachbarin Marie Ann Cox deckt, die gegen 6 Uhr Schritte im Hof gehört haben will).
Auch in diesem Fall wäre Cross also mehr als eineinhalb Stunden zu spät zur Arbeit gekommen, und das schon zum zweiten Mal am Morgen eines Mordes, nachdem er bereits als ein Zeuge des Nichols-Mordes öffentlich bekannt geworden war. Irgendwie gar nicht auffällig...
Es bleibt daher mein Fazit:
Cross war als erster und allein am Nichols-Tatort, bis Paul kurz darauf dazustieß. Somit hätte Cross der Mörder gewesen sein können, zumal auch alle Tatorte JTRs auf den Wegen zwischen seiner Adresse in der Doveton Street 22, seiner Arbeit als Fleisch-Auslieferer in der Broad Street und dem Wohnort seiner Mutter in der Nähe der Berner Street liegen.
Allerdings hätte Cross, als er die Schritte von Paul hörte, einfach nach Westen verschwinden können, ohne erkannt zu werden, statt auf ihn zu warten: Es sind rund 100 Meter vom östlichen Ende der Buck's Row bis zum Tatort und es war noch dunkel. Bis zu den Querstraßen im Westen als Fluchtwege sind es nur wenige Meter, bei einer Flucht nach Süden wäre er schnell im Verkehr der Whitechapel Road untergetaucht. Stattdessen wartete er auf Paul, wies ihn erst auf den am Straßenrand liegenden Körper hin und ging mit Paul einen Polizisten suchen.
Weder die Polizei noch der Untersuchungsrichter hielten ihn irgendwie für verdächtig, und auch auf der Arbeit wäre wohl aufgefallen, dass ausgerechnet der Nichols-Zeuge an zwei weiteren Mord-Tagen zu spät zu Arbeit kam.
Außerdem war er nicht nur vor den Morden ein unbescholtener Mann und Familienvater, der 20 Jahre lang zuverlässig denselben Job innehatte, er lebte auch noch mehr als 30 Jahre nach dem Ende der Serie als freier und gesunder Bürger weiter, ohne irgendwie einschlägig aufzufallen. Daher war Cross wohl eher nicht der Ripper.
MfG, Arthur Dent