Drei Quellen aus Polizeikreisen sind bekannt, die davon sprechen, dass ein Verdächtiger von den Behörden observiert wurde. Da finde ich es doch durchaus an der Zeit, dass wir diese drei Quellen einmal in einem Thread zusammenfassen, die einzelnen Aussagen auflisten und dann mal sehen, ob wir zwischen dem einen oder anderen dieser Berichte nicht eventuell eine Verbindung herstellen können. Die erste der Quellen ist zugleich wohl die heute bekannteste, es handelt sich um die Swanson Marginalia, die zugleich auch die einzige Quelle ist, in der der observierte Verdächtige beim Namen genannt wird – Kosminski. Dann hätten wir noch zwei in verschiedenen Zeitungen veröffentliche Berichte zweier City-Police Beamter, namentlich Henry (oder Harry) Cox sowie Robert Sager. Ich hab mich nicht allzu tief in den Recherche-Dschungel begeben sondern einfach das Casebook-Wiki benutzt, die Auflistungen dort über die Ereignisse sind, wie ich finde, durchaus ausreichend für unsere Zwecke. Naja, dann mal los.
Swanson Marginalia:Auf den leeren Seiten am Ende seines Exemplars der Biografie seines guten Freundes Sir Robert Anderson - „The Brighter Side Of My Official Life, 1910 - hält Donald Sutherland Swanson handschriftlich folgendes fest:
... Fortsetzung von Seite 138, nachdem der Verdächtige im Seaside Home identifiziert wurde, wohin er von uns mit erheblichen Schwierigkeiten geschickt wurde, und er wusste, er wurde identifiziert. Nach der Rückkehr des Verdächtigen ins Haus seines Bruders in Whitechapel, wurde er von der Polizei (City CID) Tag und Nacht überwacht. Innerhalb einer sehr kurzen Zeit wurde der Verdächtige, mit auf den Rücken gefesselten Händen, ins Stepney Workhouse gebracht und danach nach Colney Hatch, wo er kurze Zeit später starb – Kosminski war der Verdächtige – DSSSoweit so gut, die Unterschiede von Swansons Angaben über „Kosminski“ und der tatsächlichen Lebensgeschichte von Aaron Kosminski, soweit wir sie heute kennen, sind ja bekannt, also machen wir mit Mr. Cox weiter.
Harry (oder Henry) Cox:Cox Bericht über die Überwachung eines Verdächtigen findet sich in der Thomson´s Weekly News vom 1. Dezember 1906. Cox erklärt, dass man zur Zeit der Morde diverse Leute überwachte, es aber erst nach dem Mord an Kelly den Anschein hatte, als käme man dem Täter auf die Spur, als die Ermittlungen von „diversen unserer klügsten Detectives“ den Schluss nahe legten, dass es bei einem Mann, der im East End lebte, nicht „unwahrscheinlich war, dass er mit den Morden in Verbindung stand“. Er fügt hinzu, dass es die Meinung von sehr vielen der Offcers war, die den Mann überwachten, dass er „etwas mit den Morden zu tun hat“. Cox ist weiters davon überzeugt, dass es bei den Morden um Rache an Frauen ging, nicht um einen Durst nach Blut, und das der Mörder, genauso wie seine Opfer, zur untersten Klasse gehörte.
Cox beschreibt den Verdächtigen so: „Der Mann, den wir verdächtigten, war etwa 5 Fuß und 6 Inches groß, hatte kurzes, schwarzes, gelocktes Haar und die Gewohnheit, spät nachts Spaziergänge zu unternehmen. Er (belegte, bewohnte, besaß*) mehrere Shops im East End, aber von Zeit zu Zeit wurde er verrückt und war gezwungen, Teile seiner Zeit in einer Anstalt in Surrey zu verbringen.“
Der Satz im Original: „He occupied several Shops in the East End, but from time to time he became insane, and was forced to spend a partion of his time in an asylum in Surrey.“ Es ist schwierig, diesen Satz richtig zu deuten. Nur: Falls es so gemeint ist, dass er die Shops besaß, gehört der Verdächtige dann wirklich zur untersten Klasse? Hatte er mehrere Shops über einen längeren Zeitraum und jeden einzelnen davon gegen die Wand gefahren? Oder ist es so gemeint, dass er die Shops nachts als Wohnstatt zur Verfügung gestellt bekam, weil er keine eigene Unterkunft hatte? War der Mann Nachtwächter?
Vielleicht wird’s jetzt klarer, vielleicht auch nicht. Cox fügt an, dass er Dienst tat in der Straße, in der der Verdächtige sein Geschäft hatte, und zwar für drei Monate nach dem letzten Mord (da er zuvor angibt, nach dem Kelly Mord seien sie auf die Spur des Mannes gekommen, wird wohl der gemeint sein). Die Officers zerstreut die Verdächtigungen der jüdischen Einwohnerschaft, indem sie sich als Fabriks-Inspektoren ausgaben, die die Ausbeutung von Kindern bei Schneidern und Capmakers untersuchten. Sie hatten ein Haus gegenüber des Geschäfts des Verdächtigen zur Verüfgung und suchten das Geschäft des Mannes häufig in Verkleidung auf und gaben sich als Kunden aus.
Dann ein Bericht darüber, wie er dem Mann eines nachts folgte. Er folgte ihm zur Leman Street, wo er (der Verdächtige) einen Shop aufsuchte, der bekannt war als Unterschlupf für einige bekannte Kriminelle, dann weiter nach St. George´s in The East, wo er eine Frau ansprach respektive anpöbelte, dann in die Umgebung von „the model lodging-house“, wo er eine weitere Frau traf, ein Stück mit ging und sie dann wegstieß, bevor er nach Hause zurückkehrte.
Cox berichtet weiter, dass sobald der Verdächtige unter Überwachung gestellt wurde, die Verbrechen aufhörten und der Verdächtige kurz darauf von seinem gewöhnlichen Aufenthaltsort wegzog und seine nächtlichen Streifzüge aufgab. Weiter gibt er an, dass nie auch nur der Funken eines Beweises gegen den Mann gefunden werden konnte und die Polizei den Fall noch lange danach weiter untersuchte. Er schließt damit, dass die Polizei noch genauso im Dunkeln tappt wie 15 Jahre zuvor, die Theorie der Amateurdetektive auf nichts anderem als Mutmaßungen beruhen und der Täter nur gefasst werden könne, wenn er gestehe oder bei einem weiteren Mord inflagranti erwischt würde. Er selbst habe keinen Beweis dafür, ob der Mörder tot oder lebendig sei.
Früher im Artikel gibt er Auskunft über die Morde an Tabram, Nichols, Chapman, Stride, Eddowes und Kelly. Er weist kurz darauf hin, dass die Daten der Morde die Theorie stützen, der Täter sei ein Seemann, der die Daten so plante, dass sie mit der Abfahrt seines Schiffes zusammenfielen. Außerdem weist er Behauptungen zurück, wonach der Mörder in einem ihrer Majestäts Zuchthäuser säße, von der Tower oder Blackfriars Bridge gesprungen sei (MJD wahrscheinlich), oder in einer privaten Irrenanstalt untergebracht sei.
Cox gibt zwar die Überzeugung seiner Kollegen wieder, die den Mann als sehr wahrscheinlichen Kandidaten für die Morde hielten, ist selbst aber scheinbar nicht dieser Ansicht oder hat keine spezielle festgelegte Meinung dazu. Wenn man sich einzelne Bereiche seiner Darlegung ansieht (Schneider, das Haus gegenüber des Geschäfts des Verdächtigen), dann könnte man durchaus auf die Idee kommen, dass der Mann, der hier überwacht wurde, Aaron Kosminski ist, auch wenn einige der Angaben dies auch widerlegen könnten. Kosminski ist hier jedenfalls eine sehr gute Möglichkeit.
Robert Sager:Anlässlich seiner Pensionierung hat Sager der Presse gegenüber ein bisschen aus dem Nähkästchen geplaudert. Insgesamt finden sich 4 Artikel dazu, die in einigen Punkten differieren und zudem einige Fehler aufweisen, die eventuell der unsauberen Arbeit eines Reporters oder Sagers Gedächtnis geschuldet sind. Die Artikel im Überblick:
City Press, 7. Januar 1905
Morning Leader, 9. Januar 1905
Daily News, 9. Januar 1905
Seattle Daily Times, 4. Februar 1905
Vor ein paar Wochen habe ich in einem Thread über Sager im Casebook-Forum folgenden Link gefunden, in dem die Artikel nebeneinander abgebildet sind (wer also möchte, kann sich die Unterschiede selbst angucken):
Klick michIch übernehm hier einfach die Auflistung aus dem Casebook-Wiki mit der Angabe der Unterschiede:
Kurz vor der Entdeckung des Leichnams von Catherine Eddowes (die in allen vier Artikeln Kelly genannt wird), traf ein Police Officer auf einen Mann mit jüdischer Erscheinung, der gerade aus dem Platz kam. In einem Artikel ist der Officer ein Constable, und zwei wird behauptet, er habe die Leiche kurz danach gefunden. Der jüdisch erscheinende Mann wird in einem Bericht als „gut bekannt“ angegeben, in einem anderen als „gut angezogen“.
Zwei Berichte verweisen auf schwächer werdende Fußspuren, die bis zum Kings Block in den Model Dwellings in Stoney Lane (Artizans Dellings) verfolgt werden konnten.
Auch das Goulston Street Graffito findet Erwähnung, das zweimal mit „The Jewes are not the people that will be blamed for nothing“ und zweimal mit „The Jews shall not be blamed for this“ angegeben wird. In zwei Artikeln wird behauptet, es habe sich unter der Treppe in einem gewöhnlichen Lodging House in der Dorset Street befunden.
Zur Überwachung eines Verdächtigen selbst. Obwohl erklärt wird, dass es nie einen wirklichen Beweis gegeben hat, wird von einer moralischen Überzeugung gesprochen („ein Mann, der ohne jeden Zweifel der Mörder war“, „Ich bin sicher, wir kannten den Täter“, „die Polizei ist sicher, den Täter identifiziert zu haben“). Zwei Berichte behaupten, der Mann habe in der Butcher´s Row in Aldgate gearbeitet. Einer der Berichte behauptet, er habe dort als Metzger gearbeitet. (In einem Bericht zu Sagers Tod Jahre später heißt es: Er war in der Butcher´s Row angestellt, das könnte aber auch von einem früheren Bericht abgeschrieben sein.) Der Mann wird als verrückt oder teilweise verrückt beschrieben und wurde sehr genau von der Polizei überwacht. Drei von 4 Berichten sagen, er wurde in eine Irrenanstalt eingeliefert (einer erwähnt eine private Anstalt) und dass die Morde danach aufhörten. Ein Bericht spricht davon, dass er nach Australien ausgewandert und dort gestorben sei, „aber was genau aus ihm wurde, wissen wir nicht“.
Aufgrund der so unterschiedlichen Angaben in den Artikeln, ist es ziemlich schwer, Sagers Aussagen wirklich einzuordnen. Interessant ist aber, wie ich finde, der Teil mit dem Polizisten (ob nun Officer oder Constable), der einen jüdisch aussehenden Mann aus dem Mitre Square kommen sah. Da kommt einem doch McNaghten in den Sinn, der über Kosminski schrieb: "Er ähnelte sehr stark dem Mann, der von einem City PC in der Nähe des Mitre Square gesehen wurde“. Alles sehr komisch. Und keine der Geschichten stimmt wirklich mit der anderen überein.