Zwei Tage darauf ging ich, gleichsam um mich noch einmal zu prüfen, nach Shoreditch. Hin und her zog mich die Welt dieser kleinen Leute. Die kleinen Straßen und Häuservierecke des Berliner Nordens erstanden, aber ist man um die Ecke, so ersteht schon wieder eine ganz andere Welt. Ich War unzufrieden. Das Allmenschiiche, das in mir gemeinsam mit diesen Menschen zitterte, erwies sich als zu dünn. Ich sprach mitten im englischen Cockney plötzlich deutsche Verse vor mich hin, von jenem deutschen, jüdischen Dichter, dessen Worte damals erst ein paar Eingeweihte sprachen, und die ich aus einer Zeitschrift heraus ohne mein Zutun auswendig wußte: „O Herr, zerreiße mich“, und dann die menschlichsten Worte, in denen die ganze Welt Wie in einer Gemeinsamkeit sich um ihn sammelt und er sich für jedes Leid verantwortlich und sich in jedem Leid gedemütigt fühlt. Der Zirkusseehund, die Hure und das Arbeiterkind, das in den Fabriken „dieser elenden Zeit“ darbt, gehen ihm gleich nahe. Was gehen mich die armen Juden an? Ist es nicht dasselbe Elend, das auch die Shoreditchleute drückt? Ist ihr Hunger anderer Hunger? Und ist ihr Elend anderes Elend? Und wenn dort in einer Spelunke aus dem
Whiskygestank das ganze Elend dieser Welt strömt, ist das nicht dasselbe Elend?
Ich ging in eine kleine Kneipe. Außen stand „D. D.“ es heißt Wohl nicht so, aber die Leute jener Gegend sagten von der Kneipe „Dirty Dick“, Ich saß lange in einer Ecke. Da ich wenig trank und die übrigen viel, da ich mich leise verhielt und die übrigen laut, da ich nüchtern war und die übrigen nicht da ich mit mir beschäftigt War, Weil ich mich mit andern beschäftigte, aus allen diesen Gründen War es mit der Zeit zweckmäßig geworden zu gehen. Als ich aus der Kneipe kam, wußte ich, daß ich nie aus der jüdischen Kneipe hätte gehen müssen, weil die andern betrunken Waren. Und das Rätsel, warum jüdische Menschen so selten betrunken sind, identifizierte sich gleichsam mit der Anschauung, daß nicht jede Armut dieselbe Armut sei, identifizierte sich mit dem Glauben, daß nicht jedes Elend dasselbe sei. Was lange in mir zitterte, hier wurde es zur unbestechlichen Klarheit, daß meine Sehnsucht nach Whitechapel nicht die Sehnsucht nach der Gemeinsamkeit mit diesem Schicksal war, sondern der Schmerz, Warum es in der Welt so kam, daß sich die Trennung des jüdischen Schicksals erweisen will und auch gewissermaßen innerlich bedingt erweisen muß. So fand ich nach den Gassen Whitechapels zurück, ohne daß ich es kannte, ohne daß ich wußte, warum. So bog ich um die Ecke dieses jüdischen Schicksals, ohne die Theoreme der „Autoemanzipation“ und des „Judenstaates“ auf den Lippen zu haben und ohne in diesem Augenblick einen Zusammenhang zu empfinden zwischen diesem Gefühl und der „öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte“.
Ich suchte nicht das Judentum. Denn dieses Judentum findet man nicht auf der Straße. So Wenig man das Wesen des Kapitals erkennt, wenn man in die Organisation einer großen Fabrik hineinblickt, so wenig man das Wesen des Religiösen dadurch versteht, daß man in Gotteshäusern kniet oder sich seine Schuld und seine Menschlichkeit herunterbetet. Das Jüdische ist eine Angelegenheit so sublimer Art, daß man durch die Schärfste Dialektik immer nur sein Gebäude streift, daß durch jede noch so scharfsinnige und scharfsichtige Aussprache immer nur das Weitentfernt erscheint, was die Kernfrage bedeutet, um die sich alles sammelt und alles reift. Aber in den Straßen dieses Stadtteils weht sofort das jüdische Schicksal. Dieses Schicksal ist zwar überall, wo jüdische Menschen zusammenkommen. Und es ist nicht zu leugnen, daß das jüdische Problem, das als Problem so tief ist, daß man es manchmal in seiner erdrückenden Wucht vergißt, auch noch dort ist, wo das Judentum in jener satten und befriedigten Bürgerlichkeít verharrt, die das Problem nur verschieben, nicht aber erledigen kann. Auch in Salons, in denen Juden über Literatur reden, ist das jüdische Schicksal. Es lockt an allen Enden, und durch eine kleine Unsicherheit und einen ganz kleinen Zwischenfall erscheint das Schon vergessene plötzlich Wieder im Mittelpunkt des Interesses. Nicht daß die Schilder an den kleinen Geschäften dieser Straßen jüdisch geschrieben sind, nicht daß die in vergilbten Büchern stehenden hebräischen Laute hier sehr lebendig und mit der jeder Sprache eigentümlichen Selbstverständlichkeit klingen, nicht Kaftan und Pejes runden dieses Bild als besonders jüdisches ab, sondern daß diese Menschen ihr Schicksal als Juden erleben, gab für mich den zwingenden Grund, alle Dinge hier als jüdische Dinge zu sehen. Als Juden wurden sie in Rußland verfolgt, als Juden wurden sie in der neuen Stadt nicht in einer Ansiedlungsfreiheit aufgenommen, als Juden haben sie ihr neues Brot gesucht, jüdisches Brot vom jüdischen Bäcker haben sie Wieder gefunden. Um des Judentums Willen wurden sie beinahe totgeschlagen, um des Judentums Willen suchen sie die neue Umgebung, die durch sie wiederum jüdische Umgebung Wird. Diese Welt ist von einer wundersamen Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit zugleich. Sie ist unfruchtbar, Weil das jüdische Lebenstempo nicht neue Formen findet, in die es sich ergießt, nicht den Lebensrhythmus hat, um in einer seltsamen Anpassung an die Umstände sich neue Formen zu schaffen. Und fruchtbar zugleich, weil nur eine große innere Glut fähig ist, aus diesen alten Formen neue Lebensenergien zu schöpfen. Whitechapel ist für die Entwicklungsmöglichkeit der Menschheitsgebilde eine ungeheure Fundgrube in jener Richtung, in der sich die Treue der Menschlichkeit an die alten Formen und Gebilde erweist. Aber wenn auch Whitechapel gleichsam in seinem Gefüge steril ist, wenn auch alles darauf hindeutet, als sei hier eine Zeitlosigkeit und eine Entwicklungsunmöglichkeit gegeben, so zeigen die vielfachsten Anzeichen, daß auch diese Welt nicht stille steht. Das jüdische dieses Lebens ist das Gefäß, in das alle Formen gegossen werden und aus dem alles Leben geschöpft Wird. Das Jüdische dieser Welt ist der Mittelpunkt, von dem alles ausgeht und zu dem alles Wieder zurückkehrt. Das Judentum ist das Unvergängliche. Aber man läßt es fallen, überläßt sich der Begehrlichkeit der anderen Welt, schöpft aus einer neuen Welt neues Verlangen und neue Erregung. Die schönen jüdischen Mädchen, die die Schneiderwerkstätte, der „Sweatshop“ die ganze Woche festhält, Waschen sich am Freitagabend mit einer heiligen Zärtlichkeit. Der Arbeitsstaub entfernt sich aus den Poren ihrer Haut: sie ist noch von jener Geschmeidigkeit, die jüdische Frauen oft in den Bewegungen haben. Das Ghetto wird gleichsam abgewaschen und Wo es schon zu tief sitzt, da ist die Kunst anderer Länder, anderer Städte oder anderer Straßen schon in diese Welt geflogen. Puderquaste und Schminkstift und die spärlichen Instrumente der Manicure entfernen alle Anzeichen, die nun einmal das Proletariat auf die schönsten Frauenzüge projiziert. Der Freitagabend ist der Abschied vom alten Schicksal. Mit dem ganzen Temperament und der schnellen Vergeßlichkeít ihrer Rasse ist die ganze Vergangenheit wie ausgelöscht. Wie tief ist diese Sehnsucht, daß sie mit einer unsagbaren Lebensglut Zwischenstirnmungen und Stadien überwindet, die sonst nur langsames Vorwärtsschaŕfen überwinden kann! Der Zweck ist zunächst im Hintergrund. Es gibt keine Frau, die nicht Weiß, wie Frauen sind, wenn der ganze Zauber der Vollkommenheit und über sie hingegossen ist. Und die Sehnsucht steckt in jeder Frau, zwar nicht immer auszusehen, aber doch fühlen zu können wie jene. Die jüdischen Mädchen von Whitechapel haben aus jenem tiefen Gefühl des Sich-Steigerns ihrer Vergangenheit entsagt. Die Mädchen tragen ihre Kleider für sich, für die anderen und gegen die anderen. Als sich aber die vorübergehende Abwanderung von Whitechapel fühlbar machte, als die jungen jüdischen Männer in jenen für die keit des Juden besonders bedeutsamen Schabbesnachmittagsstunden nicht mehr in das Whitechapel, sondern in das London stürzten, da hatten die geschmückten jüdischen Mädchen bald keinen Sinn mehr. Zunächst zogen sie immer noch in langen Reihen über die Breite der Straße, und diese schönen Frauen schienen so, als suchten sie nach ihrer Bestimmung. Sie waren gleichsam da und doch nicht da, denn eine letzte Sehnsucht treibt jede Frau zur Resonanz. Immer haben sie sich dann vom Herzen ihrer Heimat entfernt. Immer Weiter haben sie sich aus Whitechapel entfernt. Und die jüdischen Mädchen haben in ihrer Buntheit die Reise angetreten in eine ihnen zunächst nicht gemäße Umgebung. An Samstagnachrnittagen traf ich oft in den Teehäusern des Westens wunderbar jüdische Mädchen, deren Bewegungen sich nicht in die müde und träge Bequemlichkeit dieser Räume einfügten. jedesmal hatte ich das Gefühl, als habe jede Verpflanzung des jüdischen die Gefahr der Zersplitterung. Das Ästhetische ist eine Gefahr. Aber es ist nicht die ästhetische Freude, die in Whitechapel sich so an diesen Mädchen blähte. Daß diese jüdischen Mädchen entwurzelt Waren, sich am Samstag und Sonntag von Kavalieren bewirten ließen, in Samt und Seide gingen, sich in den eleganten Quartieren des Westend bewegten und in der Sonntagnacht wieder zurückschlichen nach Whitechapel, nach Petticoat Lane, in die Schneiderwerkstatt, in den „Sweatshop“, das ist freilich ein Rätsel von beinahe unbegreiflicher Dimension. Aber Whitechapels Gesicht hat ein paar fremde Züge. Manche Kluft trennt eine Straße von der anderen. Manche Kluft trennt ein Geschlecht vom andern. Der über das Irren seines Kindes zürnende jüdische Vater, die Konflikte um des SichEntfernens vom Judentum willen, die Unsicherheit in der Spontaneität des Glaubens, der Form und des Inhalts des jüdischen Ursinns - all das treibt auch in das Gesicht von Whitechapel ein paar Falten, die nicht darüber hinwegtäuschen, daß aus der zweifellosen Harmonie dieser Welt ein Problem geworden ist. Das Problem allen Judentums, zu jubeln oder zu verzweifeln, zu gehen oder zu bleiben, selig oder unglücklich zu sein, das Problem jüdischer Seelenschwankung erhebt sich auch in Whitechapel, in jener Welt, die in ungetrübtem Festhalten an jüdischem Wesen dazu bestimmt War zu erhalten, festzuhalten, sich zu verbeißen in die alte Form der jüdischen Überlieferung.