Auf der Suche nach Material für eine künstlerisch-wissenschaftliche Arbeit über die „Common Lodging Houses" im Viktorianischen Whitechapel bin ich vor etwa einem Jahr auf die Sozialreportage „Ein Abend in Whitechapel“ von Max Winter (ursprünglich publiziert in der Wiener Arbeiter-Zeitung Nr. 225 vom 18.8.1907) gestoßen.
Der Text hatte letztendlich nichts direkt mit meinem Thema zu tun, ist 19 Jahre nach den Whitechapel-Morden und 6 Jahre nach dem Ableben Queen Victorias verfasst, schildert aber recht interessant, dass sich die Situation in Whitechapel bis dahin in keinster Weise verändert hat. Gerade deshalb könnte diese Reportage für Überlegungen zum Thema Jack the Ripper durchaus interessant sein.
Obwohl der Text vor drei Jahren in einem Buch publiziert wurde, habe ich eigentlich gehofft, ihn aufgrund seiner sozial- und publikationshistorischen Relevanz und Kürze (im Original etwa sieben A5 Seiten lang) dennoch irgendwo im www zu finden, um hier einen Link hereinstellen zu können, aber meine Suche verlief bisher leider erfolglos. (Ich habe auch hier bisher noch nichts darüber gefunden - sagt mir bitte, wenn ich mich irre, oder ihr ihn als uninteressant empfindet....)
Um keine Rechtsübertretung zu riskieren, fasse ich den Text hier kurz mit eigenen Worten zusammen:
Kurz zur Person: Max Winter war Sozialreformer und Journalist, später Wiener Gemeinderat und Vizebürgermeister. Für seine kritischen Sozialreportagen für die Wiener Arbeiterzeitung zog er, oft sogar als Obdachloser verkleidet (!), durch die Welt der Wiener (und, wie man an diesem Beispiel sieht, auch anderswo gelegener) Elendsklasse. 1934 musste er vor den Nationalsozialisten nach Hollywood fliehen, wo er sich auch weiterhin sozial (vor allem für Kinder) engagierte, 1937 jedoch einsam und verarmt starb.
Zum Text:
In „Ein Abend in Whitechapel“ beschreibt Winter seinen Spaziergang (als Einheimischer verkleidet und in Begleitung eines deutschen Arbeiters, der schon lange in London lebte) durch das nächtliche Whitechapel, der ihn von den Docks, über Bars in der Cablestreet und der St. Georgestreet (hier schildert er, wie vier Hooligans zur Freude einer Dirne tanzen, die ihnen Bier in einer Blechkanne reicht, und eine „deutsche Frau“, die von ihrem Sohn geschlagen wurde, kurz vor Mitternacht noch schnell ein Bier trinken will) bis hin zum „Markt der Liebe“ an der Spitalfieldchurch („Einen abstoßenderen (...) kann sich die schlimmste Phantasie nicht ausdenken.") führte, wo im Schatten der Häuser und in den engen Nebengassen die „Ausbeuter dieser ärmsten Frauen, die Hooligans, ´Schützer´ dieser Frauen, nicht selten auch die Erpresser an jenen, die hier Liebe suchen“ lauerten.
Dass die Morde in Whitechapel 19 Jahre zuvor auch 1907 sehr wohl zum Allgemeinwissen der Leser der Wiener Arbeiterzeitung gehört haben dürften, beweist Winter, in dem er erwähnt, dass er sich in der Heimat von „Jack, dem Aufschlitzer“ befindet, den er zynisch als „späteren Helden ungezählter Kolportageromane, in denen sich die ungezügelte Phantasie der Schmieranten nach Herzenslust ausleben konnte“ bezeichnet.
Im Zusammenhang mit einem Säugling, den drei betrunkene Frauen zu ihrer nächtlichen Tour mitgenommen hatten, drückt Winter sein Unverständnis über einen Policeman aus, der ruhig und teilnahmslos daneben steht. Sein Begleiter erklärt ihm, dass der Polizist nicht einschreite, weil die Frauen zu dritt sind. Würde er eine Gefahr für das Kind sehen und einschreiten, müsse die Mutter mit einer Verurteilung zu bis zu 8 Tagen Arrest rechnen. Das Kind würde in der Zwischenzeit dem Vater übergeben. Sobald sie ihre Strafe verbüßt hat, dürfe es die Frau aber wieder zu sich nehmen.
Interessant ist vielleicht noch anzumerken, dass Winter von einem „lebengefährlichen Gedränge“ am Markt in der Petticoatlane (Middlesexstreet) zu Mitternacht berichtet, das daher rührt, dass es „Samstag ist, und die Frauen ihren Sonntagsbedarf decken.“ Auch in den Nebengassen hatten sämtliche Läden zu dieser späten Stunde geöffnet. Auf dem Heimweg wurde er noch Zeuge einer Fleischlizitation in der Aldgatestreet, wo einige Fleischer feste Stände hatten und versuchten, ihre Ware „in letzter Stunde loszubringen“. Mit der past time (der gesetzlichen Sperrstunde um halb eins) verlieren sich schließlich die Abertausenden, die bis dahin die Straßen füllten. Um ein Uhr, hält Winter fest, schläft London.
Wenn der Text jemanden im Original interessiert - er ist, ein wenig deplatziert, in einem Buch über Winters Sozialreportagen aus Wien zu finden:
Max Winter / Hannes Haas (Hrsg.) : Expeditionen ins dunkelste Wien – Meisterwerke der Sozialreportage, Picus Verlag 2006
Lieben Gruß,
panopticon