Hallo zusammen!
@ Sir Boss: Gute Frage!
Die soziologischen Fragen, welche die Morde im Herbst 1888 aufwerfen, finde ich persönlich ja eigentlich sogar wesentlich interessanter, als die Frage nach dem Täter selbst!
Zunächst einmal muss ich Raison-d-eatre leider recht geben: Wie u.a. „
Menschen der Tiefe“ oder auch der Essay von Max Winter über Whitechapel (über den ich vor kurzem eine Zusammenfassung hier gepostet habe:
http://jacktheripper.de/forum/index.php/topic,1179.msg17688.html#new ) zeigen, hat sich dort in den Jahren nach dem Mord nicht wirklich viel verändert. Dennoch hat sich, wie Larkin richtig schreibt, doch einiges getan – hier also schon mal ein paar
Fakten (Ask and thou shalt be given!
), die zeigen, dass es sogar bereits vor den Morden Personen gab, die die Situation verbessern wollten:
Leider fußten die meisten der ohnedies wenigen Verbesserungen in erster Linie auf Initiativen von sozial engagierten Privatpersonen. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang das Beispiel von
Samuel Augustus Barnett, dem Pfarrer von St. Jude´s in Whitechapel (Commercial Street) und
seiner Frau Henrietta, die sich sehr für die Armen, besonders die Kinder und Frauen in Whitechapel und ganz London einsetzten. Sie ersannen neue Ideen, um Geld zu sammeln und gründeten, neben vielen anderen Projekten, gemeinnützige Institutionen wie die Whitechapel Art Gallery, Toynbee Hall, Hampstead Garden Suburb (näheres dazu siehe weiter unten) und andere Stiftungen, die zum Teil bis heute bestehen und zur Verbesserung der Situation Benachteiligter operieren. Ihre Idee bestand darin, auch höhere Bildungsschichten in Elendsviertel zu „führen“, um sie so sensibel für die Situation zu machen.
Zur Erläuterung der Projekte: Toynbee Hall, gegründet 1884 und benannt nach dem 1883 verstorbenen, ebenfalls u.a. in Whitechapel operierenden Sozialreformer, Wirtschaftshistoriker und Freund der Barnetts,
Arnold Toynbee, ist, eines der ersten universitären „Settlement“-Häuser in einem Elendsviertel. Durch Wahl dieses Ortes diente es, neben seiner eigentlichen Funktion als Bildungsstätte und Wohnmöglichkeit für Studierende, eben dazu, diese angehenden Akademiker durch ihre eigene, tagtäglich erlebte Erfahrung, für die Probleme der armen, ungebildeten Bevölkerungsschichten zu sensibilisieren und gleichzeitig einen beidseitigen Austausch dieser Bevölkerungsschichten zu gewährleisten.
Whitechapel Art Gallery (staatlich geförderte Stiftung, Whitechapel High Street, Baubeginn 1897, eröffnet 1900) verfolgte neben diesem Zweck auch die Möglichkeit, durch bestimmte Outreach-Projekte Bildung für die armen Schichten des East-Ends anzubieten und Spenden (u.a. um Kindern aus ärmlichen Verhältnissen Ferien auf dem Land zu gewährleisten) zu sammeln. Bis heute haben dort in Folge viele der bedeutendsten Künstler ihrer Zeit ausgestellt, u.a. war dort sogar Picasso´s
Guernica (1939) zu sehen.
Hampstead Garden Suburb (Nord West London, gegründet 1907) wurde, den selben Zweck verfolgend, eine Siedlung für alle Bevölkerungsschichten und bedurfte einer eigenen Genehmigung durch das Parlament, da viele Forderungen der Barnetts (geringe Häuserdichte, weite Straßen, Ruhe (nicht einmal Kirchenglocken!), etc,..) geltendem lokalem Recht zuwiderliefen.
Das Pfarrersehepaar reagierte aber auch direkt auf die Morde und urgierte mit Erfolg sogar an höchster Stelle:
Am 10. Oktober 1888 sandte Henrietta Barnett eine
Petition zur Schließung der Common Lodging Houses (das ist wohl die bereits von Sir Boss erwähnte Petition?) an Queen Victoria, die von 4000 Prostituierten unterschrieben wurde. (Soweit mir bekannt ist, forderte sie zu dieser Zeit stattdessen staatlich geförderte Unterkünfte für die Frauen). Aufgrund dieser Petition wurden von höchster Stelle erstmals Constables entsandt, um Fakten für
Statistiken über Whitechapel (wie viele Common Lodging Houses, Einwohner, Bordelle, etc.) zu sammeln.
S. A. Barnett´s Engagement, die Situation in Whitechapel zu verbessern, wurde in einigen jüngeren Publikationen jedoch auch
als mögliches Motiv für die Morde im Jahre 1888 betrachtet, was ihn, der gesagt haben soll, dass die Morde kommen mussten, weil es so nicht weitergehen konnte, letztendlich sogar auf die
Liste der Verdächtigen führte. 1888 schrieb er gemeinsam mit seiner Frau das Buch „
Practicable Socialism“, wurde später in anderen Städten tätig, auch in die Westminster Abbey bestellt, und, soweit ich gelesen habe, letztendlich sogar von Queen Victoria ausgezeichnet.
Best regards,
panopticon