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London - East End - Viktorianische Zeit => Allgemeine Diskussion => Thema gestartet von: Eastsidemags am 06.07.2005 11:22 Uhr
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Das London des 19. Jahrhunderts war ein in vieler Hinsicht finsterer Ort. Armut, Krankheiten und Verbrechen hatten die Stadt im Griff, Zehntausende Obdachlose kämpften um das tägliche Überleben. Manche von ihnen fielen "Körperjägern" zum Opfer - Mördern im Dienste der medizinischen Forschung.
John Bishop erwacht vor Morgengrauen in seiner Zelle aus kurzem, tiefem Schlaf. Er fährt sich mit der Hand durch das Haar und sagt, so erinnert sich später der Wärter: "Ich verdiene, was auf mich zukommt." Dann nimmt er eine letzte Mahlzeit zu sich, etwas Toast und Tee, scheinbar gleichgültig. In seinem Kerker nebenan fleht Thomas Williams verzweifelt um Vergebung. Er stammelt den Anfang eines Gebetes, bricht ab, beginnt ein anderes, dessen Text er aber ebenfalls vergessen hat.
Als er herausgeführt wird, muss er gestützt werden. So gehen John Bishop und Thomas Williams, Leichendiebe und Mörder, dem Galgen entgegen. Der eine entrückt und beinahe in Trance, der andere zitternd vor Angst. Draußen treibt ein kalter Wind Nebelschwaden durch die Straßen der Stadt. Dennoch haben sich seit fünf Uhr morgens mindestens 30.000 Schaulustige vor Old Bailey, dem Strafgericht, versammelt, wo die beiden Mörder gehängt werden sollen.
Gesühnt wird der Tod eines Straßenkindes wahrscheinlich italienischer Herkunft, das in den Zeitungen unter dem Namen "The Italian Boy" bekannt geworden ist. Es ist von John Bishop und Thomas Williams ermordet worden, die seinen Körper anschließend an die anatomische Fakultät des King's College verkaufen wollten - zu Lehrzwecken. Der Tod des Jungen ist ein Medienereignis. Die Zeitungen sind voller Zeichnungen des schönen kleinen Knaben, voller Geschichten über dessen angebliche Herkunft und sein Leben als Vagabund in den Straßen. Gegen acht Uhr verstummt das Gemurmel der Menge.
William Calcraft, der Henker, betritt mit seinem Assistenten das Schafott. Er ist dafür bekannt, sich vor öffentlichen Auftritten mit Brandy zu betäuben - und auch dafür, die Fallhöhen schlecht zu berechnen: Mehr als einmal schon hat er sich an den Rücken eines Verurteilten klammern müssen, damit dessen Genick durch das zusätzliche Gewicht auch tatsächlich brach. James May, einem dritten Leichenräuber und Komplizen von Bishop und Williams, bleibt der Strick erspart - er war an dem Mord nicht beteiligt und wird zwei Wochen später mit der "Justitia" in die australische Verbannung segeln.
John Bishop betritt das Gerüst über eine Treppe. Sofort beginnen die Zuschauer zu kreischen und Verwünschungen auszustoßen. Bishop nimmt dies hin, ohne sich zu bewegen. Als Calcraft ihm den Sack über den Kopf zieht und die Schlinge um den Hals legt, geht ein Jubelschrei durch die Menge. Bishop steht ruhig da und wartet. Zwei Minuten später wankt Thomas Williams auf das Schafott. Obwohl sein Körper bebt, verbeugt er sich vor den Massen wie ein Schauspieler nach einer gelungenen Premiere. Schließlich legt Calcraft auch ihm die Schlinge um den Hals. Dann öffnen sich die Falltüren mit einem Knacken. Bishop ist sofort tot. Aber Williams strampelt und kämpft. Fünf schreckliche Minuten dauert es, bis auch sein Körper reglos am Galgen hängt. Das Publikum ist entzückt.
London 1831: Die größte und wohlhabendste Stadt der Welt ist auch eine der unruhigsten. Regelmäßig machen die Armen ihrer Wut über Preiserhöhungen in Tumulten und Plünderungen Luft. Drei Viertel der Bevölkerung sind verelendet. Trotz staatlicher Lohnzuschüsse müssen schätzungsweise mehr als die Hälfte der Familien mit einem Jahreseinkommen von weniger als 25 Pfund auskommen; damit leben sie unter dem Existenzminimum. Schon ein geringer Anstieg der Lebensmittelpreise, beispielsweise nach Missernten, führt dazu, dass sie sich noch nicht einmal mehr mit Grundnahrungsmitteln versorgen können. Doch auch in besseren Jahren reicht ihr Einkommen kaum aus, um etwa frisches Obst kaufen zu können. Mangelkrankheiten wie Skorbut sind die Folge: Den Kranken fallen die Zähne aus, ihre Gelenke entzünden sich, sie leiden unter Muskelschwund und können schließlich nicht mehr arbeiten.
Weil das Trinkwasser ungefiltert aus der Themse gepumpt wird, grassieren in den dicht besiedelten Armenvierteln zudem Durchfallkrankheiten wie die oft tödlich verlaufende Ruhr. In diesen Stadtteilen stirbt ein Fünftel der Kinder noch vor dem ersten Geburtstag. Die dort wohnenden Arbeiter haben eine Lebenserwartung von 22 Jahren, während Angehörige der Oberschicht durchschnittlich 45 Jahre alt werden. Dennoch wächst die Stadt explosionsartig: Seit der Jahrhundertwende hat sich die Zahl der Einwohner im Großraum London auf rund zwei Millionen fast verdoppelt - vor allem durch den Zuzug von Landarbeitern und Kleinbauern, deren Höfe nicht mehr rentabel waren.
Nur langsam beginnen Politiker und Versorgungsunternehmen mit der Modernisierung der Region. Die Chelsea Waterworks etwa reinigen das Themsewasser seit 1829 mit einem Sandfilter, in dem die gröberen Verunreinigungen hängen bleiben. Doch pro angeschlossenes Haus verlangt das Unternehmen jährlich eine Gebühr von zehn Pfund. 1826 wird das University College gegründet, die erste öffentliche Universität Londons, zwei Jahre später folgt das King's College. 1831 studieren allein 800 Medizinstudenten an 21 - meist privaten - anatomischen Lehranstalten: so viele wie nie zuvor, doch zu wenige, damit auch künftig eine angemessene ärztliche Versorgung für die Unterschicht gewährleistet werden kann.
Um die Grundbegriffe der Anatomie und die notwendigen Operationstechniken zu erlernen, müssen die Studenten an Leichen üben; insgesamt werden mehr als 1000 Tote pro Jahr benötigt. Doch die einzigen Leichname, die den Medizinern per Gesetz zur Verfügung stehen, sind die von hingerichteten Mördern. Im Jahr 1831 sind das genau zwölf Leichen in ganz England und Wales - zu wenige. Und so ist in der Halbwelt ein neuer, für Angehörige der Unterschicht attraktiver Wirtschaftszweig entstanden: Resurrection Men, "Männer, die die Toten wiederauferstehen lassen", stehlen Verstorbene aus frischen Gräbern, von Totenwachen und aus Krankenhäusern und verkaufen die Leichen für acht bis zwölf Pfund pro Stück an Anatomen und Chirurgen der Stadt.
Männliche Leichen haben einen höheren Marktwert als weibliche, weil deren Muskulatur anschaulicher ausgebildet ist; zur Not akzeptieren die Chirurgen auch Babyleichen. Spitzenpreise erzielen die verstorbenen Insassen von Psychiatrien. Für die Leiche eines jungen Geisteskranken bieten Chirurgen, wohl auf seltsame Verformungen des Gehirns hoffend, schon mal 20 Pfund. Eine enorme Summe - fast das halbe Jahresgehalt eines gut bezahlten Dieners.
Bei den Preisen, die von den Ärzten für Leichen gezahlt werden, ist die Versuchung für die Resurrection Men groß, selbst für Nachschub zu sorgen Es ist unklar, wie viele Leichenräuber 1831 ihrer Arbeit nachgehen. Möglicherweise sind es mehr als 200, die gelegentlich ein "Ding", wie sie es nennen, verkaufen, ansonsten aber gewöhnliche Diebe und Betrüger sind. Ein guter Body Snatcher benötigt für die Bergung einer Leiche etwa 30 Minuten. Auf manchen Friedhöfen liegen die Leichen so dicht unter der Erdoberfläche, dass die Arbeit schon fast der eines Pilzsammlers gleicht. Der Kirchhof der St. Clement Danes Church etwa, südlich des Clare Market, ist chronisch überfüllt. Die frisch beerdigten Toten liegen meist nur 30 Zentimeter unter der Oberfläche. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Besucher der Kirche in Ohnmacht fallen, betäubt von dem Gestank, welcher der Krypta entweicht, wo 12000 Körper in Stapeln bestattet sind.
Wirkliche Spezialisten, denen die Anatomen vertrauen und die ihre Ware pünktlich liefern, gibt es vielleicht zehn in der Stadt. Gut möglich, dass John Bishop und Thomas Williams dazu zählen. Bis zu seiner Verhaftung hat John Bishop zwischen 500 und 1000 Leichen an die medizinischen Lehranstalten Londons geliefert. Am 5. November 1831 präsentieren die beiden gemeinsam mit James May den Ärzten des King's College die Leiche eines etwa 14-jährigen Jungen. Doch der Körper, der aus einem Sack auf den steinernen Boden gleitet, macht einen verdächtig frischen Eindruck.
Einen Tag zuvor haben sich die zwei schon morgens von ihrem winzigen Cottage im Viertel Nova Scotia Gardens auf den Weg in ihre Stammkneipe "Fortune of War" gemacht, wo sich Londons Leichenräuber mit ihren Informanten und Trägern treffen, um Details über bevorstehende Todesfälle oder Beerdigungen auszutauschen. Der Pub liegt mitten in Smithfield, an der Ecke Giltspur Street und Cock Lane - jener Kreuzung, an der das große Feuer von 1666 Halt gemacht hat. Unter den Wirtshäusern in der Umgebung, in denen sich die Body Snatcher treffen, ist es das berühmteste. Es soll Zeiten gegeben haben, da lagerten die Leichenräuber ihre "Dinge" einfach, mit einem Namensschildchen versehen, unter den Bänken oder hinter den Tresen, während sie die medizinischen Schulen abgingen, um herauszufinden, wer bereit war, den besten Preis zu zahlen.
Leichendiebstahl wird nur milde bestraft. John Bishop etwa ist 1825 zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt worden, nachdem er beim Transport eines exhumierten Leichnams ertappt worden war. Doch weitere Strafen fürchtet er nicht. Eines Tages hat er sich vor dem Gerichtsgebäude an der Bow Street aufgestellt, eine Hand voller Geldstücke in die Höhe gehalten und den herumstehenden Polizisten zugerufen: "Seht ihr? Ihr könnt mich nicht davon abhalten. Letzte Nacht habe ich wieder einen Steifen geholt und neun Pfund dafür bekommen." Für den Jungen will er mindestens zehn haben.
Im "Fortune of War" sitzt an diesem Morgen der Leichenräuber James May am Tresen und trinkt Rum. Bishop bittet May, der gute Kontakte hat, um Hilfe beim Verkauf der Leiche. May hat erst am Tag zuvor zwei "Dinger", die er sich auf dem Land besorgt hat, an Guy's Hospital verkauft. Er hat keine Ahnung, wie Bishop und Williams an die Leiche gekommen sind. Als er den Körper besichtigt, ist er über dessen erstaunliche Frische verwundert - und sicher, einen guten Preis dafür zu bekommen. Später am Abend stellt sich May im "Fortune of War" an den Tresen und beginnt, etwas Wasser über sein Taschentuch zu schütten. Henry Lock, der Barmann, beugt sich über den Tresen, um zu sehen, was May in dem Tuch hält. Es ist ein Satz guter, gesunder Zähne, wie die eines sehr jungen Menschen. "Die sind sicherlich einiges wert", sagt Lock. May, der mit dem Stoff Blut und Zahnfleischreste abzureiben versucht, sagt, er hoffe, für den ganzen Satz zwei Pfund zu bekommen.
Neben Zahnärzten gehören auch Perückenmacher zu den Kunden der Body Snatcher. Ein Frauenskalp mit gesundem, langem Haar bringt den Leichenräubern ein ordentliches Handgeld. Die Händler in der Field Lane wiederum bieten die Kleidungsstücke der Toten, gewaschen und ausgebessert, in ihren Schaufenstern an. Am nächsten Morgen kurz vor neun Uhr betritt James May den Laden des Zahnarztes Thomas Mills am Bridge House Place, südlich der Themse. Einer der Schneidezähne weise eine Kerbe auf, sagt Mills, und sähe aus, als gehöre er nicht zu den anderen. May schwört, dass alle Zähne aus demselben Mund stammen und dass der Körper dazu niemals beerdigt gewesen sei - ein Satz, der ihn später fast an den Galgen bringt. "Tatsache ist", sagt May, "dass sie einem jungen Kerl von 14 oder 15 Jahren gehörten. Bei Gott, die gehörten vor kurzem noch alle zum gleichen Kopf."
Doch es ist ein schlechter Tag für Geschäfte. Als James May den Laden verlässt, hat er kaum mehr als ein halbes Pfund eingenommen. Am King's College läuft es nicht besser. Richard Partridge, ein Anatomieprofessor, will den drei Leichenräubern, die bei ihm erschienen sind, nur neun Pfund für den Körper zahlen, obwohl der Leichnam ungewöhnlich frisch aussieht, als wäre er niemals beerdigt gewesen - der Lehm an Torso und Schenkel ist offensichtlich draufgeschmiert worden. Das Kind ist 1,37 Meter groß, hat blondes Haar und graue, blutunterlaufene Augen. Der linke Arm ist eigentümlich nach oben gebogen, die Hand zur Faust geballt. Auf seinem linken Unterarm finden sich längliche blaue Flecke, als hätte ihn jemand mit großer Kraft gepackt. Die Zähne fehlen.
Partridge, der gerade einen Artikel über einen spurlos verschwundenen 14-jährigen Jungen gelesen hat, wird misstrauisch. Er habe nur eine 50-Pfund-Note bei sich, teilt er den Body Snatchern mit, er müsse kurz weggehen, um sie zu wechseln. 20 Minuten später kehrt er mit Superintendent Joseph Sadler Thomas von der Londoner Polizei und einigen Beamten zurück. Auf die Frage, woher er den Jungen habe, antwortet Bishop: "Wenn Sie wissen möchten, wie ich ihn bekommen habe, finden Sie es doch heraus, wenn Sie können." Bishop, May und Williams werden wegen Mordverdachts verhaftet. Niemand kennt die Identität des Toten. Mehrere Elternpaare kommen, auf der Suche nach ihren vermissten Söhnen - vergebens. Unter ihnen sind auch italienische Immigranten. Sie glauben, in dem toten Jungen ein italienisches Straßenkind zu erkennen, das sie häufig mit einem Mäusekäfig um den Hals und einer Schildkröte in Covent Garden gesehen hatten. Die Zeitungen nehmen die mögliche Spur schnell auf - aus dem unbekannten Toten wird "The Italian Boy".
Seit Jahren haben Menschenhändler Hunderte italienischer Jungen in die Stadt geschleust. Meist stammen die Kinder aus ärmlichen Verhältnissen und wurden ihren Eltern gegen ein Handgeld abgekauft. In London stehen sie zumeist an Straßenecken und gewähren Passanten für ein paar Pennys einen Blick auf Kuriositäten oder exotische Tiere, die sie bei ihren Herren mieten müssen. Eine Schachtel mit aus Wachs geformten siamesischen Zwillingen oder ein uniformierter Affe bringen dem Vermieter etwa zwei Shilling pro Tag, für vier tanzende Hunde in Kostümen mit Flöte und Tamburin verlangt er fünf Shilling. Auf den Straßen der Stadt leben schätzungsweise 15.000 obdachlose Jungen.
Superintendent Joseph Sadler Thomas von der neu gegründeten Metropolitan Police ist jung und ehrgeizig. Der "Italienische Junge" ist sein erster Mordfall. Er ordnet eine Hausdurchsuchung an - im Jahre 1831 noch ausgesprochen ungewöhnlich. Im Garten von Nova Scotia Gardens Nr. 3 finden seine Männer vergrabene Kinderkleidung, einen Skalp mit langem, braunem Haar sowie einige Stücke Menschenfleisch. Auch das Haus Nr. 2 untersucht der Superintendent; im Abtritt findet er ein Bündel Frauenkleider, eine schwarze Haube und Strümpfe. In den Zeitungen - in der "Times", dem "Morning Advertiser" oder der "Sun" - heißen Bishop, Williams und May schon bald "Die Mörder des italienischen Jungen". Die gezeichneten Porträts der Männer erscheinen von Mal zu Mal düsterer.
Gleichzeitig sorgt der Tod des Jungen für eine neue Attraktion in der kargen Gegend von Spitalfields und Bethnalgreen: Die Polizei bietet für fünf Shilling Führungen in "Bishop's House of Murder", um zu verhindern, dass Hunderte von Schaulustigen das Gelände überrennen. Doch auch dieses handverlesene Publikum - "nur die Eleganteren dürfen an der Tour teilnehmen", schreibt der "Morning Advertiser" - ist so erpicht auf Erinnerungsstücke aus dem Haus der Mörder, dass von zwei kleinen Bäumen im Garten nur noch Stümpfe übrig bleiben, nachdem Souvenirjäger Borke und Äste abgekratzt haben.
Am 2. Dezember 1831 ist Old Bailey besetzt bis auf den letzten Platz, obwohl die Preise von den üblichen zehn Shilling auf mehr als ein Pfund angehoben wurden. Unter den Zuschauern sind viele Ärzte, aber auch zwei Söhne des Premierministers Earl Grey und sogar der jüngere Bruder des Königs, der Duke of Sussex. John Curwood und J. T. Barry - ein Anwalt, der für die Abschaffung der Todesstrafe eintritt - stehen den Angeklagten zur Seite. Ihre Möglichkeiten sind begrenzt; sie dürfen zwar Zeugen aufrufen und Kreuzverhöre führen sowie von den Angeklagten vorbereitete Stellungnahmen vorlesen, sich aber nicht mit einem Plädoyer an die Geschworenen wenden. Erst fünf Jahre später wird ein Anwalt in einem Kriminalfall erstmals vor einer Jury plädieren dürfen. Zudem wissen die Anwälte nicht, welche Beweise die Staatsanwaltschaft vorlegen wird. In der Regel dauert ein Prozess in Old Bailey nicht einmal zehn Minuten, selten länger als einige Stunden.
Doch diesmal vergehen neun Stunden, ehe die Geschworenen Bishop, Williams und May des Mordes für schuldig erklären. Denn es sind ungewöhnlich viele Zeugen gehört worden: Der Staatsanwalt hat 40 Belastungszeugen benannt, die Verteidigung sechs Entlastungszeugen. Die drei Angeklagten, die bis zuletzt ihre Unschuld beteuern, werden zum Tod durch den Strang am kommenden Montag verurteilt. Ihre Körper sollen anschließend den Anatomen zur Sektion zur Verfügung gestellt werden. Die Nachricht sorgt unter den Zuschauern auf der Straße für so großen Jubel, dass die Gerichtsdiener die Fenster schließen müssen.
Zwei Tage später legen Bishop und Williams, ermutigt durch einen Geistlichen, ein Geständnis ab und bekennen sich des Mordes an einer obdachlosen Frau und zwei Jungen für schuldig. "Der Italian Boy", so Bishop, sei in Wirklichkeit "ein Lincolnshire Boy". Sie geben zu, die Opfer mit Rum und Laudanum, einem opiumhaltigen Medikament, betäubt und schließlich in einem Brunnen im Garten ihres Hauses ertränkt zu haben. Sie erklären auch, dass James May mit den Morden nichts zu tun hat. Als May erfährt, dass seine Hinrichtung aufgeschoben (und später zu einer Verbannungsstrafe umgewandelt) werden soll, fällt er vor Erleichterung in nervösen Krämpfen zu Boden, unfähig, auch nur eine einzige verständliche Silbe herauszubringen.
Nach der Hinrichtung der beiden Body Snatcher wird Richard Partridge, dem Anatom des King's College, die Ehre zuteil, John Bishop zu sezieren. Während er dessen Leib vor Studenten mit einem langen Schnitt von der Kehle bis zum Unterleib auftrennt, hält er einen Vortrag über Gerichtsmedizin. Es stellt sich heraus, dass Bishop von ungewöhnlich guter Konstitution war. "Ein gesünderes oder muskulöseres Subjekt ist in den Anatomie-Schulen lange nicht gesehen worden", schreibt später der "Morning Advertiser". Der Körper wird schließlich, mit dickem Garn zugenäht, als Ausstellungsstück in einem Nebenraum gezeigt; viele kommen, um sich ihn anzusehen. Ob John Bishop und Thomas Williams noch mehr Menschen ermordet haben, wird niemals geklärt. Und auch die wahre Identität des Jungen aus dem King's College bleibt im Dunkeln.
Der Mord an dem Italian Boy führt zum Ende der Body Snatcher. Im Unterhaus sagt ein Parlamentarier während einer Aussprache: "Je elender, je einsamer der Mensch sein mag, desto begehrenswerter erscheint er diesen Schuften. Es ist der Mensch, der nackte Mensch, den sie verfolgen." Am 11. Mai 1832 wird ein Anatomiegesetz verabschiedet, das den Ärzten erlaubt, von Anverwandten nicht beanspruchte Leichen aus den staatlichen Arbeitshäusern zu Sektionszwecken zu benutzen. Seither wacht "Her Majesty's Inspector of Anatomy" darüber, dass keine Leichen mehr illegal seziert werden. Zwei Jahre später zwingt ein neues Gesetz die Armen zu Tausenden in die Arbeitshäuser, wo sie unter gefängnisähnlichen Bedingungen leben und arbeiten müssen. Den Medizinstudenten stehen schon bald mehr Leichen zur Verfügung als jemals zuvor.
© Susanne Frömel, Geo, Spiegel online
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wirklich interessanter artikel. woher stammt er?
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Hi
http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,363660,00.html
Der Artikel spiegelt genau die Stimmung wieder, in der Mary Shelley einige Jahre später ihren Frankenstein verfaßte.
Gruß
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danke. :D