Hallo Ihr,
oh mann...ich würde liebend gerne mehr bei den Diskussionen teilnehmen. Gerade jetzt im Moment fällt es mir sehr schwer. Ich hoffe, ihr verzeiht mir das und hoffe ebenso auf bessere Zeiten.
Viele Fragen bleiben leider unbeantwortet, aber ich wiederhole mich hier...stattdessen tippe ich schnell mal ein paar Gedanken nieder und leiste so wenigstens nen kleinen Beitrag.
Also. Fangen wir mal an. Stress. Was ist Stress? Lestrade hat hier schon einige gute Gedanken geäußert. Eigentlich jeder hier.
Prinzipiell denke ich, in den Hinterköpfen vieler (auch von mir) schwebt "Stress" in seiner neumodischen Bedeutung, im Sinne von "manche Dinge nicht in einer angemessenen Zeit erledigen zu können", von "zuviel um die Ohren haben", herum. Doch ich meine den Stress in einer anderen Form. Ich meine den Stress in der Art, wie ihn jemand erfährt, der sich tagelang auf eine Fragesituation vorbereitet, in dann doch völlig neuen Fragestellungen entgegentritt. Einer unvorhergesehenen Prüfung, oder einer vorher erdachten Situation und einem plötzlichen, unerwarteten Zwischenruf. Man denke an Referatsituationen, in denen man alle möglichen Parameter vorher durchdenkt, durch eine flapsige Bemerkung eines der Zuhörer jedoch völlig aus der Bahn geworfen wird. Kurzum - der Stress, der entsteht, wenn Unerwartetes geschieht. Das hat wenig mit Zeitdruck zu tun. Vielmehr hat es etwas mit der Persönlichkeit desjenigen zu tun, dem der Stress widerfährt. Manch einer geht souverän mit dieser Situation um, ein Anderer fängt das Stottern an.
Der Ripper war in meinen Augen eine labile, zwanghafte Person. Womöglich hat er noch einige andere Macken und Ticks im Alltag gehabt. Ich kann mir gut vorstellen, dass er eine der Personen war, die beim außer Haus gehen nochmal schauen, ob auch wirklich der Herd aus ist (um ein flapsiges Beispiel aus dem heutigen Alltag zu nennen). Oder dessen Einrichtungsgegenstände in einer bestimmten Reihenfolge im Zimmer platziert sein müssen. Jedenfalls zwanghaft.
Das heißt, jegliche Abweichung von seinem Plan, ob nun im Großen oder im Kleinen, zeigen sich in seinem Verhalten, ob nun im Großen oder im Kleinen.
Dann gibt es den Trieb. Den Tötungstrieb. Den Drang zu morden, den er ebenso tagtäglich in Gedanken durchspielt, und bei Folgetaten an den vorherigen Taten misst, diese als Maßstab für weitere Taten nimmt. Der Widerspruch, der zwischen diesen beiden Parametern entsteht, diesen Widerspruch meine ich mit "Stress". Es ist der innere Konflikt zwischen Erdachtem und dem, was geschieht, der in einer zwanghaften Person Stress verursacht. Es geht dabei nicht darum, ob eine Tat geradlinig verläuft. Es kommt darauf an, wie sie im Vorfeld vom Täter erdacht wurde.
Oftmals äußert sich dieser Widerspruch in Wut. Nehmen wir den labilen Handwerker, der sich ein Projekt erdenkt. Er fängt an zu werkeln. Plötzlich passt etwas nicht. Verflixter Nagel! Dann wieder...dieser verfluchte Millimeter! Er fängt an, fuchtig zu werden, wird ungenau, ungeduldig. Es geht irgendwann nicht mehr um sein Werk, darum, dass er einfach eine Pause machen könnte. Nein, eine bestimmte Personengruppe wird wie bekloppt auf den Nagel einhämmern, und selbst wenn dieser krumm wie sonstwas wird. Es geht in diesem Falle nur noch um die nicht anders erlernte Stressbewältigung dieser Person, um das Unvermögen, diesen Konflikt zwischen Erdachtem und Realität zu bewältigen. Das Projekt tritt in den Hintergrund, und eine eher Impuls geleitete Handlungsweise kommt zum Vorschein.
Das muss natürlich nicht auf jeden Handwerker zutreffen.
Was macht also der Ripper? Ist er eine dieser Personen, die ein "Projekt" (sorry für die Ausdrucksweise) auch zu Ende bringen wollen, wenn es nicht 100% passt, und dadurch ihren Faden verlieren? Nicholls, Chapman, Eddowes - bei diesen Morden war er fertig, hörte auf. Bei Kelly liess er sich mehr Zeit. Doch liegt das wirklich daran, dass er mehr Zeit hatte, oder lag es an anderen Gründen? Das ist es, was meiner Überlegung zugrunde liegt: Vielleicht verliess er bei Kelly den Pfad seines Projektes, trat dieses in den Hintergrund und machte der Wut Platz, die aufgrund des angesprochenen Widerspruches entstand? Scheint uns daher der Mord an Kelly so ausladend?
Eventuell trat bei Kelly eine unterbewusster geleitete Handlungsweise des Rippers in den Vordergrund. Ich bin der (beinahe) festen Überzeugung, dass bei dem Mord an Kelly die tiefe Seele des Rippers am ehesten zu Tage kommt, und zwar genau aus dem Grund, da es meiner Meinung nach der Mord war, der ihm am Wenigsten behagte. Man erkennt die Menschen erst in Situationen, in denen sie sich beweisen müssen. Erst wenn jemand ins kalte Wasser geschmissen wird, erkennt man seine Souveränität, sein Selbstbewusstsein, sein Vermögen, ungewollte Situationen zu meistern. Beim Mord an Kelly erkenne ich den Widerspruch, die Wut, den Stress, den Zwang und die Labilität dieser Persönlichkeit.
Ich möchte noch ergänzen, dass ich wesentlich andere Ansprüche an einen "sicheren" Tatort habe als anscheinend die Mehrzahl hier. Sicher bedeutet für mich immer subjektiv, und man fühlt sich dann subjektiv am sichersten, wenn die Umgebung und die Umstände exakt den vorher erdachten Umständen entsprechen. Gerade bei labilen, zwanghaften Persönlichkeiten. Da kann es sein, dass sie sich sicherer fühlen, die Schlucht auf einem dünnen Seil zu überqueren, anstatt die Hängebrücke zu nehmen: Weil das Seil in ihren Gedanken standhielt, die Brücke aber immer einbrach. Sicher bedeutet nicht sicher nach unserem Maßstab. Sicher bedeutet soviel wie "meinen Vorstellungen entsprechend". Diesen Satz lasse ich unbedingt bei Tätern der Kategorie des Rippers gelten.
Und da kann ein scheinbar sicheres Zimmer schnell zur beengenden Falle werden. Wir können ewig weiter diskutieren, wie hell es wo war, wo man am Besten fliehen konnte etc. Am Ende zählt für mich, dass ein Täter erst einmal in eine Situation kommt, die er nicht hundertprozentig kontrollieren kann. Es gibt viel zu viele Parameter, vom Opferverhalten ganz zu schweigen. Einige Parameter können auch während der Tat entstehen, ein Hund der bellt, eine Tür die knallt. Stress entsteht dann, wenn diese Parameter genügen, um subjektives Unbehagen zu spüren. Zudem bei zwanghaften Personen, die denken, sie würden die Situation kontrollieren.
Man kann darüber diskutieren, ob nach dem Double-Event ein Mord in einem Raum nicht genau das war, was sich der Täter wünschen würde. Aber daran glaube ich nicht. Ich glaube nicht daran, dass der Täter die Innenraumsituation in seine Gedanken einbezog. Sie war einer der nicht kontrollierbaren Parameter. Meiner Meinung nach.
Grüße, Isdrasil
...ich möchte noch anmerken, dass ich diese Diskussion sehr erfrischend finde und jeder einzelne Beitrag hier sehr nachdenkenswert ist