Autor Thema: Whitechapel - im Vergleich zu anderen Stadtteilen  (Gelesen 15195 mal)

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Stordfield

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Whitechapel - im Vergleich zu anderen Stadtteilen
« am: 22.10.2008 08:11 Uhr »
Hallo !

London gliederte sich ja schon damals in eine Menge Stadtteile - und gebiete . Wie sah es eigentlich außerhalb des Eastend und speziell Whitechapel mit der Armut und der Überbevölkerung aus ? Gab es dort ähnliche Verhältnisse , oder stand das Jagdrevier des Rippers mit seinen unmenschlichen Lebensbedingungen allein da ? Ich denke da vor allem auch an Soho . Dort gab es doch bestimmt auch viel Gewalt , Tränen , Hunger und Blut .
Ich bedanke mich schon mal im Voraus für eure Antworten .  :icon_smile:

Gruß Stordfield

Offline Chris Jd

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Re: Whitechapel - im Vergleich zu anderen Stadtteilen
« Antwort #1 am: 22.10.2008 09:13 Uhr »
Hi Stordfield,

neben den feinen Gegenden gab es zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten Slums ("rookeries"), die aber mehr oder weniger vor 1890 plattgemacht worden sind.
Die Bekanntesten sind wohl St. Giles (Nähe U-Bahn Tottenham Court Rd; findet bei Marx/Engels Erwähnung. Einige wenige Häuser davon haben in der Denmark Str. überlebt) und Seven Dials (heißt heute noch so). Aber auch bei Westminster gabs Slums und südlich der Themse (The Borough, Lambeth, Jacob's Island nahe der heutigen Shad Thames, etc)

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Stordfield

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Re: Whitechapel - im Vergleich zu anderen Stadtteilen
« Antwort #2 am: 22.10.2008 09:24 Uhr »
Hallo Chris !

Vielen Dank für die interessanten Informationen .
Wie sah es denn dort mit der Kriminalität aus ? Doch sicher nicht viel anders als im Eastend , oder ? Bei dieser Vielzahl von " rookeries " soll es dort um die Zeit der Ripper - Morde keine vergleichbaren Gräultaten gegeben haben ? Das ist irgendwie kaum vorstellbar .

Gruß Stordfield

Floh82

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Re: Whitechapel - im Vergleich zu anderen Stadtteilen
« Antwort #3 am: 22.10.2008 09:26 Uhr »
Laut Wikipedia gehört Soho eher zum West End und damit im 19. Jahrhundert zu den besser situierten Bezirken. Das East End (und damit nicht nur Whitecheapel) war das Sammelbecken für Armut. Heute sind das die Stadtteile Tower Hamlets und ein Teil Hackneys. Früher waren das Wapping, Limehouse, Stepney, Poplar, Spitalfields und halt Whitecheapel (und noch einige andere denke ich).

Offline Chris Jd

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Re: Whitechapel - im Vergleich zu anderen Stadtteilen
« Antwort #4 am: 22.10.2008 10:49 Uhr »
Wenn von Kriminalität die Rede ist, dann größtenteils von Diebstahl und Hehlerei und alkoholbedingte Sachen. Sicher gabs auch Morde, aber nicht in der vermuteten Häufigkeit und schon überhaupt nicht im Stile JtRs.

Innerhab des Nichol (Shoreditch) gabs ja auch ne gute community.


Übrigens, siehe:
http://en.wikipedia.org/wiki/Seven_Dials
und http://www.channel4.com/history/microsites/H/history/i-m/london4.html  ab "Poverty and crime"

und hier über St. Giles in deutsch von Friedrich Engels "Die Lage der Arbeiterklasse in England (1845):
http://www.textlog.de/en-england-london-st-gilles.html

Aber Floh hat schon Recht, um 1888-1900 war das east End schon die Nr. 1 in Armut (und Einwanderungsüberbevölkerung)
Aber es gab halt schon früher (so 1700 - 1870) ähnliche Zustände woanders.
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Offline Chris Jd

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Re: Whitechapel - im Vergleich zu anderen Stadtteilen
« Antwort #5 am: 22.10.2008 11:00 Uhr »
Übrigens, Empfehlung für alle London -Interessierten:

"London - Die Biographie" von Peter Ackroyd

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Offline Chris Jd

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Re: Whitechapel - im Vergleich zu anderen Stadtteilen
« Antwort #6 am: 22.10.2008 15:40 Uhr »
Eines der ältesten noch stehenden Häuser in der Denmark Street, erbaut 1635. Heute ein bekannter Musik Club.

Die Denmark Str. ("Tin Pan Alley") ist übrigens heiliger Grund und Boden für Musikfreaks: Hier haben die Stones ihre erste Platte aufgenommen, ein verarmter Paul Simon wollte seine Songs vergebens verkaufen bevor er in USA Art Garfunkel traf, die Sex Pistols haben hier übernachtet, George Martin holte die Coversongs für die erste Platte der Beatles hier, ein gewisser Reginald Dwight hat hier für'n Appel und n Ei gejobt, bevor er als Elton John etwas zu geld kam ;-), der Musik Express wurde hier produziert und alle, alle haben in dieser Straße Gitarren eingekauft (Clapton, Hendrix...)
Die Straße war in en 60ies so hipp, dass ein unbekannter David Bowie in einem Van um die Ecke übernachtet hat, nur um nahe zu sein und auch dazu zu gehören.

Und nicht zu vergessen befindet sich hier das Job Centre, in dem ein gewisser Dennis Nielsen gearbeitet hat, den man später geschnappt hat, weil die Teile seiner Opfer seine Abflussrohre verstopft haben.

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Offline Isdrasil

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Re: Whitechapel - im Vergleich zu anderen Stadtteilen
« Antwort #7 am: 23.10.2008 15:32 Uhr »
Wie sieht es eigentlich mit der "Charles Booth’s Map of London Poverty, 1889" aus? Zeigt die ganz London?

kokablue

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Re: Whitechapel - im Vergleich zu anderen Stadtteilen
« Antwort #8 am: 26.11.2011 20:09 Uhr »
Abend.
So ich denke hier passts am besten rein.

Im Zusammenhang mit der Diskussion hier ->
http://jacktheripper.de/forum/index.php/topic,1381.msg21836/topicseen.html#msg21836

und auch aus persönlichem Interesse, habe ich mal unsere Bibo durchstöbert und bin auf 2 Bücher gestossen, bzw in ersterem Fall über einen Abschnitt in einem Buch:

"Stephen Inwood"
"City of Cities" - "The Birth of modern London"
Kapitel: "The Jewish East End"
Auflage: Schlagt mich ich habs leider nicht notiert..


Mir ging es darum nochmal einen Eindruck vom East End und speziell den Juden im selbigen zu bekommen.
Der Abschnitt beschreibt facettenreich die Situation im East End - genau zur auschlaggebenden Zeit: 1870/80-1900

Ich gebe einen kurzen Abriß, auch um mich eventuell en anderer Stelle darauf berufen zu können.

Grundlegend muss man wissen das in England quasi keine Handels und Einwanderungsbeschränkungen galten zu dieser Zeit. "Free trade and free immigration"
1881 gab es etwa eine Anzahl von 45000 bereits ansässigen Juden in London.
Diese galten als etabliert und auch bereits in gewisser Hinsicht angepasst an die Englische Bevölkerung.
Zudem waren diese in der Regel gut konstituiert, tätig im Handel / bei Banken. 3/4 dieser Juden hatten ein Einkommen von über 100 Pfund im Jahr was ein gutes Auskommen war.

Einflußreiche Familien / Einrichtungen und deshalb erwähnenswert waren:
Familie Rothschild
Familie Montefiores
Das sogenannte "Jewisch Borad of Guardians"
der Jewish Chronicle
"United Synagoge" (Vereingung der Rabbis, wenn ich das richtig interpretiert habe)

Diese etablierten Juden waren sehr auf Ihren Ruf bedacht, und im allgemeinen war die Stimmung in der englischen Bevölkerung auch zunächst nicht antisemitisch.

ab 1881 setzte eine Welle von jüdischen Einwanderungen nach London ein.
Hintergrund (und den meisten hier sicher bekannt): Ermordung des Zaren in Russland, anschliessende beginnende Verfolgungen der Juden / Einschneidung Ihrer Rechte.
Dies bewog die  Russischen und polnischen Juden zur Auswanderung nach London (Kosminiski..). Mit Abstrichen traf dies auch auf Preussische und Österreich-Ungarische Juden zu weshalb auch daher Juden einwanderten (Israel Schwartz).

Die Neuankömmlinge siedelten sich natuerlich vornehmlich da an wo bereits "Landsleute" wohnten - im East End - und verdraengten hier auch zusehends die Engländer.
Zwischen 1880 und 1890 siedelten sich im East End 100.000 Juden an. Vile von den Neuankömmlingenn waren ungelernt, bereit für geringen Lohn zu arbeiten was wiederum die Arbeitslöhne sinken lies.
Gleichzeitig wohnten diese auf engstem Raum - auch Seite an Seite mit den verbliebenen und meist armen Engländern (wenn ich hier von Engländern spreche meine ich native Londoner).
Es entwickelte sich fast so etwas wie ein Sklavenmarkt im East End, ein "wöchentlicher Arbeitskräftemarkt" auf einem Platz in der Goulston Street (.. Graphito), heute würde man wohl eher von Tagelöhnern sprechen ("Greener").
Die Neuankömmlinge arbeiteten vornehmlich in Schneidereien (Isaac) / als Schuhmacher, kurz produzierendem Gewerbe.

Diese massive Einwanderung und die damit verbundenden Probleme führten im Laufe der Jahre zu eiinem steigenden Antisemitismus, auch zu Auseinandersetzungenn zwischen den etablierten und "neuen" Juden, da die Etablierten eben vor Judenverfolgungen etc.. Angst hatten.
Zeitweise regelten die Juden selbst die Einwanderung, erst ab 1905 wurde dann in England auch von Seiten des Staates eine Einwanderungsbegrenzung festgelegt.

Im Gegensatz zu den englischen "armen" Bewohnern werden die Juden allerdings als sehr sauber und die Muetter als fürsorglich gegenueber Ihren Kindern beschrieben (geringere Kindersterblicheit als bei denn Engländern) , alle ausgetattet mit dem festen Willen sich eine Existens aufzubauen.
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So das wars zum Ersten, anzumerken bleibt das tatsaechlich mit jedem Jahr bei der nativen Bevoelkerung das Misstrauen gegenueber den Juden stieg. Details dazzu vielleicht später.

Noch eine Zahl als Anmerkung: Es wanderten mehr jüd. Maenner als Frauen ein, zeitweise waren nur 42% de Juden Damen ;)