Mit einigen Vorbehalten re-publiziere ich hier -- auf Wunsch -- kritische Bemerkungen zu Patricia Cornwells "Case Closed"-Buch, die bereits anderswo zu lesen sind. Vorbehalte, weil mein Kommentar offenbar geeignet ist, eine Diskussion abzuwürgen, bevor sie überhaupt begonnen hat -- und ob dieses noch in den Kinderschuhen steckende Forum (dem ich nur das Beste für die Zukunft wünsche) davon wirklich profitieren kann, scheint mir zumindest zweifelhaft. Sei's drum; und, ehrlichgesagt, bei der grossen Anzahl an Ripper-Verdächtigen halte ich Walter Sickert ohnehin für entbehrlich.
P. Cornwell(
im folgenden: PC)s Buch besitze ich nicht und bin einer Meinung mit allen, die diese üble Geschäftemacherei auf Kosten eines toten Künstlers nicht auch noch mit ihrem Geld unterstützen möchten. Aber da meiner Beobachtung nach viele Leser des Buchs mit diffusen Zweifeln kämpfen, möchte ich für diejenigen, die Englisch lesen zu kompliziert finden, kurz die Ergebnisse von zwei Artikeln zusammenfassen, die unter
http://www.casebook.org/dissertations/dst-pamandsickert.htmlund
http://www.casebook.org/dissertations/dst-artofmurder.htmlveröffentlicht worden sind.
PCs wichtigster Beweis: DNA auf Briefen von Walter Sickert stimmt mit DNA auf einem (oder mehreren) der RipperBriefe überein. Auch bei Wasserzeichen und Formulierungen finden sich Übereinstimmungen.
Fakt ist: Die meisten, wenn nicht alle RipperBriefe werden als Fälschungen betrachtet. Erhalten sind ungefähr 600 solcher Briefe. Es dürften aber weit mehr gewesen sein; denn 1888 (und noch lange danach) war das Fälschen von RipperBriefen eine Art krankhafter Zeitvertreib. Die ersten RipperBriefe („Dear Boss“ etc.) stammen wahrscheinlich von geschäftstüchtigen Journalisten: ein gewisser Tom Bulling ist als Hauptverdächtiger im Gespräch. Der einzige Brief, der möglicherweise wirklich vom Ripper geschrieben worden sein könnte, ist die „From Hell“-Epistel (mit dem Nierenstück); aber selbst hier ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass es sich um einen bloßen MedizinStudenten-Ulk handelt. Diesen Brief hat PC jedoch nicht untersucht und könnte es auch gar nicht, da das Original verschollen ist.
PCs Beweisstück,
der “Openshaw”-Brief (so benannt nach dem Empfänger, Dr. Thomas Horrocks Openshaw), in dem sie Wasserzeichen und DNA gefunden haben will, die mit DNA und Wasserzeichen in Sickerts Korrespondenz übereinstimmen,
ist bisher von keinem seriösen Ripper-Forscher oder -Autor für einen echten Ripper-Brief gehalten worden.
Zur Wasserzeichen-Übereinstimmung braucht man eigentlich kein Wort zu verlieren. Es dürfte wohl jedem klar sein, dass Papiermühlen nicht einzelne Blätter für einzelne Kunden herstellten, sondern ihre Ware en gros auf den Markt warfen, so dass eine Unzahl von Leuten Papier mit ein und demselben Wasserzeichen benutzt haben. Und zum übereinstimmenden Gebrauch mancher Wendungen in Ripper- und Sickert-Briefen ist lediglich zu sagen, dass, wer mit einem bestimmten Verdächtigen im Hinterkopf Ausschau nach dergleichen hält, in dem Wust von 600 RipperBriefen zwangsläufig früher oder später fündig werden muss („eine ganz normale Fallgrube in der Ripperologie“).
Der DNA-Test war von vornherein zweifelhaft, da die untersuchten Dokumente alt genug sind, um in der Zwischenzeit massenhaft
mit fremder DNA kontaminiert worden zu sein. Walter Sickerts DNA lässt sich nicht mehr eruieren, da er nach seinem Tod eingeäschert wurde. Und der Test verlief obendrein negativ.
Jene Art DNA, die den genetischen Fingerabdruck eines Menschen darstellt, ließ sich aus dem Material nicht isolieren. Was gefunden wurde, war „mitochondrial“ DNA, kurz „mtDNA“ , die matrilinear (d.h. ausschließlich durch die Mutter) vererbt wird, und deren herausragendes Kennzeichen darin besteht, dass sie nicht einzigartig ist. Ein bisschen spezifischer als Blutgruppenbestimmung ist mtDNA-Bestimmung gewiss; aber
zwei Personen mit übereinstimmenden (oder, wie PC es so schön schwammig ausdrückt, „ähnlichen“)
mtDNA-Sequenzen müssen ebenso wenig miteinander verwandt -- oder gar identisch! -- sein wie zwei Personen mit übereinstimmender Blutgruppe. PC behauptet, dass die betreffende mtDNA-Sequenz „nur“ bei einem Prozent der damaligen britischen Bevölkerung angetroffen werden konnte. Selbst wenn man außer acht lässt, dass das wohl viel zu niedrig geschätzt ist (1-10%, sagen die Experten), ergäbe das, bei der damaligen Anzahl von 40 Millionen Briten --
400000 Leute, welche Träger derselben mtDNA-Sequenz gewesen sein dürften. Fazit: kein ernstzunehmendes Gericht der Welt würde den Beweis ernstnehmen, den PC hier vorlegt.
Weiterer Beweis PCs: Walter Sickert war impotent (wegen einer Fistel auf seinem Pen*s) und kinderlos.
Fakt ist: die Spezialisierung der Klinik, in der Walter Sickert sich behandeln ließ, legt den Verdacht nahe, dass die Fistel im rückwärtigen Bereich seines Unterkörpers angesiedelt war; mit Pen*sbehandlungen war die betreffende Klinik nie befasst. Die Kinderlosigkeit von Sickerts erster Ehe kann auch darauf zurückgeführt werden, dass seine Frau zwölf Jahre älter war als er. Diese Frau, Ellen, ließ sich übrigens wegen seiner zahlreichen Seitensprünge von ihm scheiden, und es gibt genügend Anhaltspunkte dafür, dass er mindestens ein, wahrscheinlich aber sogar mehrere („ein ganzer Schwarm“ sagte einer seiner Freunde, Jacques-Emile Blanche, Anfang des 20. Jhdts) außereheliche Kinder gezeugt hat.
Nächster Beweis PCs: Walter Sickert war zur Tatzeit in London, wo er über drei „geheime“ Studios in der Whitechapel-Gegend verfügte.
Alles spricht dafür, und nichts spricht dagegen, dass Walter Sickert zwischen Mitte August und Oktober 1888 wie jedes Jahr Ferien in der Gegend von Dieppe (Frankreich) machte. Drei Briefe von Verwandten und Freunden erwähnen, dass er sich im September dort aufhielt. Nach seiner Heirat (1885) hatte Sickert für den Rest der 80er Jahre nur ein Studio in London, nämlich 54 Broadhurst Gardens, South Hampstead, wo er mit seiner Frau lebte. Die angeblichen drei Whitechapel-Studios beruhen offenbar auf einer Verwechslung:
1905 hatte Sickert drei Studios in Nord-London, 8 Fitzroy Street, 76 Charlotte Street, sowie seine Wohnung in 6 Mornington Crescent, wo die Wirtin ihm erzählte, dass sein Zimmer dermaleinst von einem Studenten der Tiermedizin bewohnt worden sei, den sie für JtR hielt -- was Sickert dazu inspirierte, ein Bild des Zimmers zu malen, das er „JtRs Schlafzimmer“ betitelte.
Letzter Beweis PCs: Walter Sickert gibt in seinen Bildern Hinweise auf die und Details der Morde wieder; und er konnte letztere nur aus eigener Anschauung kennen, da die betreffenden Photographien von Catherine Eddowes und Mary Kelly der Öffentlichkeit „erst 1972“ zugänglich waren.
Ich machs kurz. 1898 wurde in Frankreich ein Mann namens Joseph Vacher geköpft, der mindestens 11 Menschen ermordet und grässlich verstümmelt hatte.
1899 veröffentlichte Alexandre Lacassagne -- jener Psychologe, der besagten Vacher für geistig gesund erklärt hatte --, ein Buch mit dem Titel
Vacher l’éventreur et les crimes sadiques, zu übersetzen mit „Vacher der Ripper und die sadistischen Verbrechen“, wo er auf zehn Seiten auch die Ripper-Morde abhandelte.
In diesem Buch von 1899 wurden die Photographien von Catherine Eddowes im Leichenschauhaus und Mary Kelly auf ihrem Bett erstmals veröffentlicht -- nur diese beiden, keine von anderen Ripper-Opfern.
Also. Walter Sickert sprach fließend Französisch. Er hielt sich oft in Frankreich auf. Er war fasziniert von Mordgeschichten. Er malte nur nach der Natur oder nach Photographien. Die Gemälde, in denen er auf die RipperMorde Bezug nimmt, sind erst ab 1905 entstanden. Die einzigen RipperMorde, auf die er Bezug nimmt, sind jene von Catherine Eddowes und Mary Kelly. Niemand hat je Anklänge an Annie Chapmans oder Polly Nichols’ Tod in seinen Bildern entdeckt, und er hat Catherine Eddowes stets so gemalt, wie sie im Leichenschauhaus zu besichtigen war, aber nicht so, wie sie am Tatort aussah. Was folgt daraus? Ganz einfach, dass Sickert sich Lacassagnes Buch besorgt hatte und es als Vorlage benutzte.
Das sind die Hauptargumente der beiden englischen Besprechungen, die mich davon überzeugt haben, dass ich PCs Buch nicht zu kaufen brauche. Ein abschließendes Urteil über dieses Buch muss ich mir daher leider verkneifen. Ich möchte nur hinzufügen: wenn jeder der unzähligen Maler, die schon mal nackte Frauen auf Holz- oder Metallbetten (beide Varianten sind ja wohl in häufigem Gebrauch) gemalt haben, deswegen gleich ein Lustmörder sein müsste, und wenn jeder, der von dem RipperFall fasziniert ist, deswegen gleich JtR selbst wäre...
beste Grüße von
dorante
(edit TS: topicname korrigiert)