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Literatur - Film - Fernsehen => Literatur-Film-Fernsehen => Zeitungsberichte, Magazine, Comics etc. => Thema gestartet von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:17 Uhr

Titel: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:17 Uhr
Ich war mal wieder etwas für unser Zeitungsarchiv aktiv. Diesmal die Zeitung 'Luxemburger Wort'.
Digitalisierung: Luxemburger Nationalbibliothek, www.eluxemburgensia.lu (http://www.eluxemburgensia.lu)

Viel Vergnügen,
Shadow Ghost
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:18 Uhr
Luxemburger Wort
10 September 1888
London, 8.Sept. In Whitechapel wurde heute früh die vierte Frauenleiche mit durchschnittenem Halse und aufgeschltztem Körper gefunden. Der Thäter ist noch unentdeckt. Die Aufregung ist groß und allgemein.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:18 Uhr
Luxemburger Wort
17 September 1888
Londoner Verbrechen.
Man schreibt aus London: „Der Osten London's, in welchem bekanntlich die ärmern Leute der Riesenstadt ihre Wohnungen haben, befindet sich seit einigen Wochen in einer zählenden Aufregung, welche durch die grausige Ermordung von vier Frauen veranlaßt wurde. In dem bewußten Stadttheile befinden sich viele Häuser, welche, von den Besitzern zu Schlafstellen eingerichtet, von der untersten Klasse, darunter vielen Dirnen, gegen eine Zahlung von 30 Pfg. für die Nacht gemiethet werden. Vier dieser bedauernswerthen Frauen sind nacheinander in wahrhaft schauderhafter Weise ermordet morden. Die Thaten erscheinen um so schrecklicher, als es bis jetzt der Polizei noch nicht gelungen ist, des Verbrechers habhaft zu werden und dem Galgen zu überliefern. Der erste Mord geschah bereits vor einem Jahre, der zweite in den ersten Tagen des August, der dritte vor ungefähr 14 Tagen und der vierte am vergangenen Samstag-Morgen. Die Morde sind fast immer unter denselben grauenhaften Umständen geschehen. Der letzte Mord geschah 29 Hamburg Street [sic], Whitechapel. Dort wohnt ein Kistenmacher, Namens Davis, der am Samstag Morgen um 6 Uhr auf seinem Hofe den schrecklich verstümmelten Leichnam entdeckte. Der Mörder hatte seinem Opfer, einer Frau von ungefähr 45 Jahren, die Kehle durchschnitten und das Herz aus dem Leibe gerissen. Da die Anfangs August begangene Mordthat genau in derselben Weise begangen wurde, so unterliegt es keinem Zweifel, daß die Mordthat von einer Hand gethan wurde. Davis benachrichtigte sofort die Polizei, welche alsbald erschien. Eine Freundin der Ermordeten erkannte diese als eine Annie Chapman. Glaubwürdige Zeugen bestätigten, daß um 5 Uhr der Leichnam der Frau nicht im Hofe gewesen sei, so daß die Person zwischen 5 und 6 Uhr ermordet worden sein müsse. Aus den bis jetzt bekannten Aussagen ergibt sich, daß die Frau um 2 Uhr Morgens in einem der vorerwähnten Schlafhäuser gewesen ist und dort einige Kartoffeln verzehrt hat. Da sie jedoch nicht genug Geld hatte, um die Kosten der Schlafstelle und des Essens zu bestreiten, versprach sie dem Besitzer, sie wolle ausgehen, um sich das Geld zu verschaffen. Man hörte dann nichts weiter von ihr, bis Davis sie wenige Stunden danach auf feinem Hofe todt vorfand. Wie es scheint, ist der Verbrecher eine Person, welche es sich zum Geschäft macht, im Osten von Dirnen Geld unter Drohungen zu er pressen. Da die vier ermordeten Frauen seinem Verlangen nicht nachgekommen sind, wahrscheinlich auch nicht konnten, hat er sie ermordet. Bei der augenblicklichen Aufregung des Districts lassen sich zuverlässige Aussagen kaum erlangen; man glaubt jedoch, daß ein Mensch, der unter dem Spitznamen „Leather apron" (Lederschürze) bekannt ist, die That begangen habe."
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:19 Uhr
Luxemburger Wort
20 September 1888
London
Ueber den bisherigen gänzlichen Mißerfolg der Londoner Polizei, den oder die Mörder in Whitechapel ausfindig zu machen, äußert sich die Saturday Review: „Weder die Polizei, noch ihre Feinde in der Presse können sich beglückwünschen zu den nähern Umständen, unter denen der letzte Mord verübt wurde. Es ist unsinnig, zu erwarten, daß ein Verbrechen, welches mit einer so seltsamen Mischung von Brutalität und Ueberlegung begangen wurde, sofort entdeckt werden sollte. Anderseits ist es scandalös, daß ein so volkreicher District, wie das Oftend, so geringen polizeilichen Schutz erhalten hat. Die Qualität der englischen Détectives hat sehr abgenommen. Die Londoner Polizisten haben viele ausgezeichnete Eigenschaften. Sie sind tapfer, gut disciplinirt und nachsichtig. Bei der Abfassung bewaffneter Einbrecher zeigen sie, trotzdem sie selbst unbewaffnet sind, einen kühlen, entschlossenen Muth. Nichts ist besser, als die Art, wie sie einen Pöbelhaufen behandeln. In der Aufspürung von Verbrechen aber haben sie sich nicht auf ihrer alten Höhe gehalten und stehen in ihren Leistungen unter ihren Collegen in andern Ländern, besonders in Frankreich und America, ja,selbst unter denen der großen englischen Provincialstädte. Die meisterhafte Art, in welcher die Detectives von Birmingham vor vier Jahren eine Dynamitardenbande zur Haft brachten, contrastirt in sehr unangenehmer Weise mit der schnell anwachsenden Liste unentdeckter Verbrechen in der Hauptstadt. Verbrechen erzeugt Verbrechen. Es gibt Mord - Epidemieen gerade so gut wie Masern-Epidemieen, und eine genaue Unterfuchung darüber, wessen Interesse es war, die unglücklichen Opfer aus dem Wege zu schaffen, ist weit mehr werth, als Scheffel von moralischen Gemeinplatzen."
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:19 Uhr
Luxemburger Wort
11 Oktober 1888
Verschiedene Nachrichten
London, 6. Oct. Ein Telegramm aus New-York meldet, ein englischer Matrose Namens Dodge habe daselbst wichtige Angaben über die im Londoner Stadtbezirk Whitechapel verübten Mordthaten gemacht. Es sei, so erzählt er, am 13. August von China in London angekommen und habe in der Queens Music Hall, Poplar, die Bekanntschaft eines malayischen Koches Namens Alaska gemacht. Der Malaye erzählte ihm, er sei von Frauen schlachten Rufes in Whitechapel seiner zweijährigen Ersparnisse beraubt worden, und habe nun geschworen, daß, falls er die Frauensperson nicht wiederfinde und sein Geld zurückbekomme, er jedes Frauenzimmer in Whitechapel, welchem er begegne, ermorden und verstümmeln würde. Er zeigte Dodge ein doppelschneidiges Messer, das er stets bei sich trug.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:20 Uhr
Luxemburger Wort
29 Oktober 1888
Bluthunde.
Die Londoner Polizei hat wegen der Frauenmorde neuerdings „Bluthunde", b. h. auf die Menschenspur abgerichtete Hunde, in ihren Dienst gestellt, die vorher in „Regent Park" eine Prüfung abzulegen hatten. Ueber die Abrichtung solcher Thiere gibt der Züchter Mr. Vrough folgende Mittheilungen. Zuerst lehrt er die Hunde eine Strecke von etwa hundert Ellen auf Gras und gegen den Wind laufen. Um die Hunde zu ermuthigen, wird ihnen alles recht leicht gemacht. Der Mann, den sie zu verfolgen haben, ist zunächst immer einer von denen, die sie bereits kennen, und bevor er läuft und sich verbirgt, liebkost er sie und spielt mit ihnen. Die Hunde dürfen auch sehen, wie er läuft; dann aber muß er ihnen rasch aus dem Gesicht kommen und sich verstecken. Der „Trainer", der die Richtung und den Weg des zu Suchenden genau kennt, führt nun die Hunde an der Leine, und durch Ruf und Miene eifert er sie an, die Spur zu suchen und ihr zu folgen. Es ist natürlich, daß anfangs einige, selbst alle von der Meute die Nasen nicht zu Boden senken und auch nicht verstehen, was man von ihnen verlangt; aber der Trainer führt sie alsdann längs der Spur, bis sie zu dem Gesuchten kommen. Dann erhalten sie irgend einen Leckerbissen als Belohnung; das wird so oft wiederholt, bis die Hunde wissen, was man von ihnen haben will, und, auf die Spur gebracht, selbstständig vorgehen. Stufenweise werben ihnen immer mehr Schwierigkeiten in den Weg gelegt ; doch erst, wenn sie zwölf Monate alt sind, läßt man sie „über Land" gehen. Dann lehrt man sie auch gelegentlich Straßen und Bäche kreuzen, und wenn sie einen Fehler begehen, etwa 0die Spur überlaufen, selbst zurückkehren und die Spur wieder auffinden. Der elfte Versuch mit den beiden Hunden "Barnaby" und „Burgho" würde Morgens im Regent Park auf mit Reif bedeckten Pfaden gemacht; aber sie verfolgten dennoch etwa eine Meile mit Erfolg die Spur eines jungen Mannes, der 15 Minuten Vorsprung hatte. Nachts würde im Hyde Park ein zweiter Versuch angestellt, wobei die Hunde an der Leine geführt würden, als ob sie in Whitechapel verwendet würden. Am nächsten Morgen fand bei gutem Wetter die Probe vor dem Oberhaupte der Staatspolizei, Sir Charles Warren, statt, der sich selbst zwei Mal dazu hergab, sich von den Hunden suchen und stellen zu lassen. Die Hunde mußten sechs „Gänge" machen und jedes Mal solche Personen auffinden, die ihnen ganz fremd waren. In einigen Fällen wurde auch absichtlich die Spur verwischt. Dabei zeigte es sich, daß in einem solchen Falle die Hunde überrascht schienen; aber einer oder der andere fand doch die Spur wieder auf. Die beiden Thiere suchten gemeinschaftlich. Da es jedoch sehr kalt war, arbeiteten sie nur langsam; aber sie lieferten den Beweis, daß es für sie möglich ist, die Spur eines ihnen ganz fremden Menschen zu verfolgen, wenn sie auf dieselbe gebracht werben.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:20 Uhr
Luxemburger Wort
12 November 1888
London, 10. Nov. In der Dorsetstreet im Stadtviertel Whitechapel wurde wiederum ein Frauenzimmer mit durchschnittenem Halse gefunden. Die Polizei verwendet Bluthunde zur Aufspürung des Mörders. Der neueste Frauenmord, welcher in Spitalfields heute Morgen zwischen 10 und 11 Uhr begangen worden, ist noch viel scheußlicher, als die jüngst in Whitechapel verübten Gräuelthaten. Das Opfer, ein 21jähriges unglückliche« Frauenzimmer Namens Mary Anne Kelly, würde in einem Logirhause in Dorset-court, nahe Commercial-road, aufgefunden. Ihr Kopf war fast vom Rumpfe getrennt, das Fleisch vom Gesicht gerissen, die Brüste. Nasen und Ohren waren abgeschnitten und der Unterleib, ähnlich wie in früheren Fällen verstümmelt. Die Polizei hat den Mörder bis jetzt noch nicht ausfindig gemacht.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:21 Uhr
Luxemburger Wort
13 November 1888
Wo das Laster weilt.
Spaziergänge mit einem englischen Detektive im Osten London's *)
Das Loos eines Journalisten ist mitunter kein beneidenswerthes, besonders wenn er plötzlich, um seiner Pflicht zu genügen, Kreise und Personen aufzusuchen hat, welche den untern lichtscheuen Schichten der Gesellschaft angehören und ihm nur unwillig und ungern Mittheilungen machen, die nachher ein neugieriges Publikum mit fieberhafter Begierde verschlingen dürfte. Argwohn und der Trieb der Selbsterhaltung machen es ungemein schwierig, von den Mitgliedern der dunkeln Zunft, dem Verbrecherthum London's, genaue Angaben und Einführungen in die Plätze zu erhalten, in denen das Laster und das Verbrechen seine Schlupfwinkel so lange findet, bis die eiserne Hand des Gesetzes es packt und in den Zuchthäusern des Inselkönigthums zum Schütze der ehrlichen Unterthanen Ihrer Majestät festhält.
Ein Zufall machte mich auf einer Ferienreise in Schottland mit einem der bekanntesten englischen Detectives bekannt. In einer längern Unterhaltung ließ er die vielsagende Bemerkung fallen, daß es kaum glaublich wäre, wie weit die englische Gesellschaft an dem Wachsen des hiesigen Verbrecherthum« schuldig sei; daß in 9 Fällen aus 15 Fällen Kinder in den untern Schichten den Pfad des Verbrechens einschlagen, weil der Engländer vielfach nur große sittliche Entrüstung vor dem Laster, großen Abscheu vor dem Elende, aber wenig Mitleid mit dem Verkommenen spürt, und von thätiger Liebesarbeit und praktischer Nächstenliebe wenig weiß. „Errichtet gute und reine Gebäude mit lichten Fenstern. Haltet sie unter strenger Aufsicht und zwingt die Kinder zum regelmäßigen Schulbesuche. Das wird die Verbrecherzahl unter der Jugend vermindern und bald die Gefängnisse leeren." Wie wahr dieser Mann gesprochen, dessen Namen ich vorläufig auf seinen ausdrücklichen Wunsch geheim halte, werden die hier geschilderten Spaziergänge, die ich in seiner Gesellschaft nach meiner Zurückkunft im Osten Londons unternahm, zur Genüge beweisen.
An einem Samstag-Abend traf ich den Detective an der Ecke des Piccadllly Circus zufällig wieder an. Einem feingekleideten Herrn, der in einer Restauration des Guten viel zu viel genossen halte, so daß er sich damals weder seines Namens noch seiner Adresse erinnern konnte, war die Uhr, angeblich von einem Frauenzimmer, aus der Tasche gerissen morden. Er verursachte einen Auflauf, indem er eine Anrede an die sich um ihn drängenden Personen lichtete, welche von Beleidigungen gegen die Obrigkeit wahrhaft strotzte, von welcher er verlangte, daß sie auf seine Uhr hätte aufpassen müssen. Der Detective arbeitete sich durch die Menschenmasse, betrachtete mit einem raschen Blick die Westentasche, welche in eigenthümlicher Weise zerrissen war und murmelte: „Es ist der rothe Johnson, der es gethan," übergab den Angetrunkenen einem Polizisten zur Erforschung weiterer Einzelheiten über den Diebstahl und verschwand in dem Auflauf. Einige Minuten später war er auf seiner alten Stelle, woselbst ich ihn nun begrüßte. „Wenn Sie mich hier um 12 Uhr aussuchen wollen", bemerkte er mit einem kräftigen Händedruck, „so will ich Ihnen Ihren seiner Zeit in Schottland geäußerten Wunsch erfüllen und Sie in einige Diebesküchen (Thieveskitchens) mitnehmen; ich bin au der Fährte eines gewiegten Taschendiebe», dem sich erst vor drei Wochen nach siebenjährigem Aufenthalte im Zuchthause die Thore des Pentonville Prison geöffnet haben und bei jetzt bereits wieder seinem alten Gewerbe, Betrunkenen Uhr und Börse zu entwenden, nachgeht." Das war nun eine Gelegenheit, einen tiefen Blick in menschliches Elend und Verbrechen zu thun, welche ich mir nicht entgehen lassen wollte, und sobald die Glocke der Kirche in Piccadilly die zwölfte Stunde verkündete, war ich zur Stelle und wanderte langsam mit meinem Detectiv nach der Richtung von Long Aere zu.
London bietet in diesem Theile der Stadt einem Fremden nach 12 Uhr Nachts genügendes Material für fortwährendes Erstaunen. Die Publikhäuser und Restaurants senden ihre Kunden in die Straße, Equipagen und Droschken jeder Beschreibung rasseln auf dem Pflaster. Die Omnibusse sammeln ihre letzten Fahrgäste, um sie nach den fernern Stadttheilen zu entführen. Jungen rufen die letzten Nachrichten aus, um ihre Zeitungen zu verkaufen. Horrible murder in Whitechapel (Schrecklicher Mord in Whitechapel) tönt es hier. Dreadful Railway Accident (Furchtbares Eisenbahnunglück) schallt es dort. Die Damen der Demimonde wandeln auf und ab in den geschmackvollsten und geschmacklosesten Toiletten. Ab und zu öffnet sich die Thüre einer Schenke und ein Angetrunkener wird von starken Armen unfreiwillig in die Luft befördert. Aus den Portalen der nahe gelegenen Alhambra und des Empire-Theaters, zwei in großartigem Stile angelegten Tingeltangeln, strömen Menschenmassen, von denen einige so eben gehörte Gassenhauer pfeifen oder singen. Der Polizisten stereotyper Ruf: «More on, Gentlemen" — Vorwärts, meme Herren — hallt in allen Richtungen. Auf dem Damme weilen noch immer Obstverkäufer, während an vielen Ecken Kaffeeverkäufer und „heiße Kartoffelhändler" ein gutes Geschäft machen. Kinder in dem zartesten Alter betteln die Vorübergehenden um Almosen an.
„Wen suchen Sie?" fragte ich meinen freundlichen Führer, der alle Augenblicke von Polizisten militärisch begrüßt wurde. „Einen Mann, der den Namen: "der rothe Johnson" führt, den wir aber noch unter einigen dreißig andern Namen kennen. Sahen Sie den alten Herrn, dem die Uhr entwendet wurde?" „Ich meinte ja ein Frauenzimmer hätte die That begangen," warf ich ein. „Unsinn," erwiderte der Detektive, «Sie können sich darauf verlassen, daß das Frauenzimmer nur die Deckung war, deren der Hallunke sich bediente. Die Uhr hat er selber abgeschnitten; er hat eine besondere Methode, die Vordermand der Westentasche mit einem spitzen Instrumente zu zerschneiden und dann die Uhr von dem Bügel mit einer Zange abzukneifen, eine Methode, welcher sich kein anderer Taschendieb bedient. Wenn Sie die zerschnittene Tasche gesehen hätten, so würden Sie bemerkt haben, daß ein Dreieck Tuch aus derselben fehlte. So arbeitet nur der rothe Johnson." — „Glaub» Sie, ihn jetzt in einer der Spelunken zu finden?" fragte ich wieder. „Das nicht," meinte mein Mann lächelnd; „er ist nicht so dumm, sich dort früher sehen zu lassen, bis ihm seine Cumpane mitgetheilt haben, daß wir bereits da waren. So dürfte es leicht möglich sein, daß wir drei oder vier Mal in ein und derselben Küche erscheinen werden. Vielleicht ist er auch nach Walworth gegangen. Die Uhr wird wohl übrigens nicht wieder gefunden werden. Aber kommen Sie, was auch vorkommt, halten Sie sich auch kühl und besonnen; Sie haben bei mir nichts zu befürchten."
Wir gingen in ruhigem Gespräche in dieser Weise ungefähr zehn Minuten unseres Weges weiter, da bemerkte ich eine Passage, welche von der Hauptstraße durch ein eisernes Gitter abgeschnitten war. Wir betraten dieselbe; sie führte in eine schmutzig: Sackgasse. Zu beiden Seiten waren schmutzige, einstöckige Häuser, denen man ihr Gewerbe von außen ansah. Dort, wo früher Fensterglas gewesen, war in den meisten Fällen braunes Packpapier zum Schutze gegen die Witterung angebracht. Die Rinnen enthielten allerhand Speisereste, welche, im Zustande der Verwesung befindlich, schauderhafte Dünste von sich gaben, was die in der Gasse ohnehin schon unreine Atmosphäre noch mehr vergiftete. Am Ende derselben war ein Moderhaufen, welcher aus allerhand Unrath bestand. Die» schien eine Art Müllgrübe zum Gebrauche der ganzen Gasse zu sein. Die einzige Beleuchtung bestand aus den Strahlen der in den verschiedenen Zimmern befindlichen Petroleumlampen, welche, da die Fenster weder Vorhänge noch Klappen hatten, erleuchtend in die Gasse fielen, und das trübe Bild noch trüber beschienen.
(Fortsetzung folgt.)
*) Angesichts der wiederholten geheimnißvollen Morde in Whitechapel gewinnen die nachstehenden Schilderungen eines Londoner Mitarbeiters der "K. Ztg" ein aktuelles Interesse.
(D. Red.)
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:22 Uhr
Luxemburger Wort
13 November 1888
London, 9. Nov. Ganz London steht heute unter dem Zeichen des Schreckens. Im Ostende, in Dorset Street, einer kurzen Zwischenstraße zwischen Commercial- Road und Spitalfields-Market, wurde gestern wieder eine Frau ermordet — die siebente seit ein paar Monaten! Man fand ihre Leiche entsetzlich zugerichtet (die Feder sträubt sich, die Mittheilungen der englischen Blätter über diese grausamen Verstümmelungen wiederzugeben) in dem von ihr bewohnten Zimmer im Erdgeschoß eines ärmlichen, an Frauen von schlechtem Wandel vermietheten Hauses. Der Mörder war unerkannt und unverfolgt entkommen; Niemand hat ihn gesehen. Niemand einen Schrei gehört. Die Polizei sucht seine Spur jetzt mit Bluthunden zu verfolgen: ein zweifelhafte« Unternehmen. Bemerkenswerth ist, daß der Mörder der Leiche beide Ohren und die Nase abgeschnitten hat, wie er vor kurzem der Polizei ankündigte. Die Ermordete war 24 Jahre alt und hieß Jane Kelly; sie wird als ein großes, auffallend schönes Frauenzimmer geschildert. Die Aufregung in Whitechapel ist mit Worten nicht zu schildern.
Es unterliegt kaum einem Zweifel, daß der grausige Mord in Whitechapel auf dasselbe Ungeheuer zurückzuführen ist, welches nun schon seit Wochen das Ostende Londons mit Schrecken erfüllt. Der Schauplatz des neuesten Verbrechens ist keine 200 Yards von Hanbury Street entfernt, wo die Nicholls umgebracht wurde. Die Ermordete war eine Irländerin, 23 oder 24 Jahre alt, und lebte mit einem Kohlenträger Namens Kelly zusammen, der sie für seine Frau ausgab. Wie die meisten Frauenzimmer ihres Schlages, war sie der Trunksucht stark ergeben und führte den Spottnamen „Ginger". Sie bewohnte ein möblirtes Zimmer in einem Hause in Dorset Street, zu dem der Eingang von Miller's Court aus führte. Ein pensionirter Soldat, Namens Bomyer, welcher in den Diensten McCarthy's steht, war der Erste, welcher die Mordthat entdeckte. Da die Kelly mit ihrer Miethe im Rückstände war, begab er sich gestern früh in die Wohnung der Prostituirten, um die schuldige Summe einzukassiren. Nachdem er vergeblich an die Thür geklopft und keine Antwort erhalten hatte, schob er von Außen die Fensterladen zurück, worauf steh der grausam verstümmelte, blutige Leichnam der Unglücklichen seinen Augen darbot. Sofort wurde die Polizei benachrichtigt.
In dem ärmlich ausgestatteten Zimmer fand sie das ermordete Frauenzimmer auf dem Bette unter dem Bettzeug liegen. Nichts ließ auf einen stattgehabten Kampf schließen und ebenso wurde kein Messer oder sonstiges Instrument gefunden. Wie berichtet, waren Hals, Nasen. Ohren und Brüste abgeschnitten und der Leib aufgetrennt. Die Stücke lagen an verschiedenen Stellen. Der verstümmelte Leichnam wurde in eine Kiste gepackt und nach der Morgue in Shoreditch gebracht, wo die Leichenbeschauersuntersuchung abgehalten wird. Bemerkenswerth ist, daß von den anwesenden Aerzten konstatirt wurde, daß, entgegengesetzt den früheren Mordthaten, kein Stück des Körpers fehlte. Der Liebhaber der Ermordeten, Kelly, hat jedenfalls nichts mit dem Verbrechen zu thun. Am Dienstag Abend um 8 Uhr hatte er die Kelly, mit der er Streit gehabt, freilich noch besucht, wohnte jedoch schon seit 10—12 Tagen in New Street, wo ihn die Polizei gestern sinnlos betrunken im Bette vorfand.
Ueber die Zeit der Verübung des Mordes herrscht noch immer Ungewißheit und die Erzählungen ihrer unglücklichen erschreckten Genossinnen weichen sehr von einander ab. Wann wurde die Kelly zuletzt gesehen und mit wem? Eine Frau Kennedy, welche ihr gegenüber wohnt, sagte aus, daß sie die Ermordete am Freitag Morgen um 3 Uhr mit drei jungen Männern, von denen sie einen beschrieb, bei der nahen Britannia-Schänke habe stehen sehen. Zwischen halb 4 und 4 Uhr habe sie den Ruf .Mord" gehört, da er steh aber nicht wiederholte, demselben keine weitere Beachtung geschenkt. Wieder Andere sagen, daß sie die Kelly noch um 8 Uhr hätten Lebensmittel einlaufen sehen und sie noch um 10 Uhr mit ihr in der Britannia-Schänke zusammen getrunken hätten.
Dem Detektive« ist es aufgefallen, daß die Mordthaten stets am Ende der Woche verübt werden, und sie halten es daher für möglich, daß einer der Fleischer der am Donnerstag und Freitag in London eintreffenden und am Sonntag oder Montag wieder fortsegelnden Dampfer mit Vieh der Mörder fein könnte. Bestimmt» Anhaltspunkte liegen für diese Theorie nicht vor. In dem Zimmer der Ermordeten wurde ein Lootsenrock aufgefunden, ob er aber von einem der Liebhaber der Kelly zurückgelassen ist, oder wem er sonst gehört, ist noch nicht aufgeklärt. Die Polizei hat zwei Verhaftungen vorgenommen, allein beide Verdächtige mußten bald als unschuldig entlassen werden.
Auch Jack der Auffchlitzer hat wieder etwas von sich hören lassen. Er hat nämlich in einem an die Polizei gerichteten Briefe angekündigt, daß er heute Abend seine Thätigkeit in dem Stadtthell Marylebone wieder aufnehmen werde, wo er zwei Frauenzimmer bereits für seine Zwecke notirt habe. Dem Briefe wird natürlich wenig Beachtung geschenkt, wenn auch die Polizei daraufhin einige Vorsichtsmaßregeln trifft.
Die Aufregung in Whitechapel ist ungeheuer. Der Wachsamkeits-Ausschuß, welcher in der letzten Zelt ermüdete, wird seine Thätigkeit verdoppeln und der Minister des Innern, Matthews, hat sich veranlaßt gesehen, etwaigen Complicen de« Mörder» Begnadigung zuzusichern, falls sie den Behörden Mittheilungen machen, die zur Ergreifung des Unholdes führen.
London, 12. Nov. Polizeipräsident Warren hat seine Enlassung nachgesucht, weil ihm der Minister des Innern Mathews wegen Veröffentlichung eines Artikels in 'Murrays Magazin' über die Londoner Polizei eine Rüge ertheilt hat.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:22 Uhr
Luxemburger Wort
19 November 1888
London, 14. Nov. Mit Bezug auf den jüngsten Frauenmord in Whitechapel sind der Polizei von einem Arbeiter Namens George Hutchinson anscheinend wichtige Mittheilungen gemacht morden, welche möglicherweise zur Entdeckung des Mörders führen dürften. Hutchinson, der in der Nacht von Donnerstag auf Freitag, gegen 2 Uhr Morgens vom Lande zurückkehrend, Commercial-Street, Whitechapel entlang ging, begegnete dort der ihm persönlich bekannten Frauensperson Kelly, welche ihn um eine kleine Goldmünze ansprach. Da er ihr die gewünschte Unterstützung nicht bewilligen konnte, entfernte sie sich mit den Worten: „Ich muß sehen, wo anders etwas Geld aufzutreiben." Wenige Minuten später sah er sie in Begleitung eines gut gekleideten Mannes, mit dem sie sich nach ihrer Behausung begab. Hutchinson folgte dem Paare bis zur Wohnung der Kelly, entfernte sich aber bald, da er nichts Verdächtiges wahrnahm. Nach der Personalbeschreibung Hutchinson's ist der Fremde etwa 5 Fuß 6 Zoll hoch und etwa 34 bis 35 Jahre alt, von dunkler Gesichtsfarbe, mit einem dunklen stallen Schnurrbart, dessen Enden gedreht waren. Er trug einen langen Ueberzieher, einen tief in die Stirn gedrückten Calabreser, an den Händen braune Glacehandschuhe und hatte „ganz das Aussehen eines Ausländers". In der linken Hand trug er ein kleines in Wachstuch gehülltes, acht Zoll langes Paket, welches mit einem Riemen zusammengehalten wurde.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:23 Uhr
Luxemburger Wort
23 November 1888
London, 21. Nov. Die allgemeine Aufregung über die Morde in Whitechapel dauert fort. Die Polizei ist rathlos und der Rücktritt des Polizeichefs Warrens hat eine gewisse Verwirrung hervorgerufen. Der Besitzer zweier prächtiger dänischer Schweißhunde, welche auf die Spur künftiger Mörder gehetzt werden sollten, hat, wie die Zeitungen melden, seine Thiere zurückverlangt, aus Furcht, daß sie durch Pillen, welche Räuber und Diebe in den Straßen von Whitechapel ausstreuten, vergiftet würden. Der düstere Spaßmacher, der „Jack der Aufschlitzer" unterzeichnet, hat neuerdings an die Polizei geschrieben: „Ich werde in ganz kurzer Zeit wieder zwei Frauen, Mutter und Tochter, den Leib aufschlitzen.“
Diese düsteren Prahlereien sind leider stets von neuen Verbrechen begleitet und der Urheber der Ankündigungen könnte sehr wohl auch der Urheber der Morde sein. Die allgemeine Aufregung verursacht auch zahlreiche Geistesstörungen; fast täglich melden sich Verrückte auf der Polizei und behaupten, sie seien der Frauenmörder. Die Spiritisten bombardiren den Minister des Innern mit Eingaben, der Leichnam der ermordeten Kelly solle von einem Magnétiseur in Gegenwart zweier bekannten Medien untersucht meiden. Kurz, halb London ist auf dem besten Wege, verrückt zu werden.
Täglich nimmt die Polizei eine Menge Verhaftungen vor, von denen die allerwenigsten von den Zeitungen gemeldet werden. Am Samstag wurde ein geachteter Birminghamer Arzt bei seiner Ankunft in London von Geheimpolizisten in Empfang genommen, und auch mehrere von Deutschland gekommene Kaufleute mußten ein strenges Verhör bestehen, weil sie angeblich mit dem Mörder eine auffallande Ähnlichkeit hatten.
Schon wieber, heute Morgen, ist in Whitechapel eine Frauensperson aufgefunden worden, die in ganz gleicher Weise angefallen worden war, wie die Opfer der früheren Whitechapel. Morde. Der Mörder hat sein Werk indessen diesmal nicht vollenden können. Das Opfer schrie und der Mörder entfloh. Die Frau lebt noch.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:23 Uhr
Luxemburger Wort
24 November 1888
London, 20. Nov. Die Polizei verhaftete gestern Morgen in einem der Seitengäßchen der Dorset-Straße, dem Schauplatz des jüngsten Frauenmordes, einen Verdächtigen und ist geneigt, anzunehmen, daß es ihr jetzt endlich gelungen ist, den Verüber der grausigen Mordthaten erwischt zu haben. Der Verhaftete erschreckte durch sein scheues, wildes Aussehen einige in dem Gäßchen stehende Kinder, die sofort den Ruf "Jack der Aufschlitzer" erschallen liehen. Der Mann wollte fortlaufen, wurde aber durch die sich alsbald ansammelnde Menschenmenge festgehalten, bis hinzueilende Geheimpolizisten ihn nach der Polizeistation brachten. Der Verhaftete ist 35—40 Jahre alt und entspricht der von einer der Zeuginnen bei der Leichenbeschauer-Untersuchung der ermordeten Kelly gegebenen Beschreibung. — Eine Panik entstand heute Morgen in Whitechapel durch das Gerücht, es sei daselbst ein neunter Frauenmord begangen worden. Nähere Nachforschungen ergaben jedoch, daß nur ein betrunkenes Frauenzimmer in einem Logirhause der George-Straße von einem Manne einen Messerstich in den Hals erhalten hätte. Die Wunde ist nicht gefährlich und wurde auf der Polizeistation verbunden. Die früheren Mittheilungen erweisen sich also als unbegründet.
London, 22. Nov. Der gestern in einem Logirhause in Whitechapel stattgehabte Mordversuch verursachte eine Zeit lang große Aufregung, aber gehört nicht in die Kategorie der grauenerregenden Verbrechen, welche London seit einiger Zeit beunruhigen. „Jack der Aufschlitzer" (Jack the Ripper), wie der Verüber der jüngsten Frauenmorde im Volksmunde genannt wird. Hat mit dem Attentat sicherlich nichts zu thun, und wenn man einer neuen Epistel aus feiner Feder, welche er an den Richter des Polizeigerichts in Thames Street (Whitechapel) gerichtet hat, Glauben beimessen darf, so weilt er überhaupt nicht in London. Die „Jack the Ripper" unterzeichnete Postkarte trägt den Poststempel „Portsmouth"; Jack sagt darin, er werde in kurzem nach London zurückkehren und feine Blutarbeit wieder aufnehmen. Das nächste Mal würde er feinem Opfer den Kopf und die Arme abschneiden. Es ist sehr möglich, daß der Frauenmörder nach verübter That London auf der Stelle verläßt, und zu feinem blutigen Werke erst wieder zurückkehrt, nachdem sich die Aufregung, über ein solches Verbrechen gelegt und damit die Wachsamkeit der Behörden etwas nachgelassen hat.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:24 Uhr
Luxemburger Wort
29 November 1888
Aus Havant, unweit Portsmouth, wird ein Verbrechen gemeldet, welches zu dem Argwohn Anlaß gab, daß „Jack, der Auffchlitzer" dort sein Wesen treibt. Ein dort auf einer Wiese spielender 8jähriger Knabe, Namens Seile, wurde plötzlich von einem fremden Manne ergriffen, der ihm die Kehle durchschnitt. Später wurde unweit der Eisenbahnstation ein der That verdächtiger Kerl verhaftet. Der Mord ist indeß zu „stümperhaft" ausgeführt, als daß der Frauenmörder von Whitechapel dafür verantwortlich gemacht werden könnte.
London, 28. Nov. Die Königin hat die Ernennung James Monros zum Leiter der Londoner Polizei bestätigt.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:24 Uhr
Luxemburger Wort
30 November 1888
London, 27. Nov. Der vorgestern in Havant bei Portsmouth an einem achtjährigen Knaben verübte ruchlose Mord ist noch in geheimnißvolles Dunkel gehüllt. Das der That als verdächtig verhaftete Individuum wurde wegen mangelnder Beweise auf freien Fuß gesetzt. Nach der Petersburger Zeitung ,Novosti' ist der Frauenmörder in Whitechapel ein Russe, Namens Nicolai Wasstlyew. Genannter wurde in Tlraspol im Jahre 1847 geboren, studirte an der Universität in Odessa, wurde dann ein fanatischer Anarchist und wanderte nach Paris aus, wo er wahnsinnig wurde. Seine Monomanie scheint die gewesen zu fein, daß gefallene Frauen ihre Sünden nur mit dem Tobe büßen könnten. Er ermordete folglich mehrere prostituirte Frauenzimmer in Paris in ähnlicher Weise wie die in Whitechapel getödteten Opfer. Er wurde verhaftet und in ein Irrenhaus für Verbrecher gesteckt. Das geschah vor 16 Jahren. Kurze Zeit vor dem ersten Frauenmorde in Whitechapel wurde er als geheilt entlassen. Wasstlyew soll sich alsdann nach London begeben und mit verschiedenen russischen Flüchtlingen zusammengewohnt haben bis zu dem ersten Frauenmorde in Whitechapel. Seitdem ist er verschwunden und seine Freunde glauben, kein anderer als ihr wahnsinniger Landsmann sei der Mörder.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:24 Uhr
Luxemburger Wort
30 April 1889
Die Juden in London. Die Gesammtzahl der Juden in London und Umgebung beträgt 55.000, von denen 30.000 in Whitechapel, 10.000 in anderen Theilen des Ostendes und 10,000 im nördlichen und westlichen London leben. Unter den letzteren befinden sich die reichsten Juden Londons, viele mit 100,000 Lstrl. und mehr Vermögen. Außerhalb Londons leben in England 20,000 Juden. Eine große Veränderung ist seit 50 Jahren eingetreten, insofern die reichen Juden aus dem Osten nach dem Westen und Norden der Stadt verzogen sind und so einen Theil ihres persönlichen Einflusses auf ihre Stammesgenossen im Ostende verloren haben. In Folge dessen haben Letztere das Bedürfniß empfunden, eine eigene Föderation zu bilden. Die Kinder der mittleren und höheren Klaffen besuchen die allgemeinen Schulen. Es gibt in London im Ganzen 40 Synagogen, nämlich: 11 bereinigte Synagogen, 2 spanische und portugiesische Kongregationen. 1 Reformsynagoge britischer Juden, 4 unabhängige orthodoxe ober isolirte und 22 föderirte Synagogen, deren Ehrenpräsident Lord Rothschild und deren leitender Präsident der Abgeordnete Montagu ist.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:25 Uhr
Luxemburger Wort
18 Juli 1889
London, 17. Juli. „Jack der Aufschlitzer" ist wieder aufgetaucht. Sein letztes Opfer ist eine vierzigjährige Frau, welche heute Morgen mit durchschnittenem Halse und aufgeschnittenem Leib in Whitechapel von einem Konstabler aufgefunden wurde. Es ist noch keine Verhaftung vorgenommen worden.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:25 Uhr
Luxemburger Wort
20 Juli 1889
London, 17. Juli. Der Schauplatz des gemeldeten Mordes, Castley-Alley, ist ein Flintenschuß weit von der Stätte der übrigen Blutthaten entfernt. Nachts stehen eine Menge Wagen und Karren in dem Gäßchen. Die Leiche der Ermordeten wurde zwischen zwei vierräderigen Wagen gesunden. Der Polizei war die Alley längst als gefährlich bekannt, da Nachts viele obdachlose Prostituirte dort auf den Wagen zu schlafen pflegen. Bis vor einem Monat standen daher zwei Schutzleute beständig vor dem Gäßchen Wache. Die Oertlichkeit war so verworfen, daß sich keiner von der Nachbarschaft nach Anbruch der Dunkelheit in dieselbe getraute. Verhaftungen sind bis jetzt keine vorgenommen worden. Die Polizei soll während der letzten Wochen wieder mehrere mit „Jack, der Aufschlitzer" unterzeichnete Briefe erhalten haben. Der Mörder scheint gestört worden zu sein, ehe er seine gewöhnlichen Verstümmelungen beendigen konnte. Es fehlt wie früher an jedem Ansatz, welcher auf die Spur des Thäters führen könnte. Auffällig ist, daß Niemand in der Nähe schreien hörte, was wohl darauf hindeuten möchte, daß der Unhold seine Opfer erst betäubt. Dieser Frauenmord ist der achte, welcher im Laufe der letzten anderthalb Jahre in Whitechapel stattgefunden hat. Der Zeit nach sind sie sich gefolgt: Weihnachten 1887. 1888: 7. August, 31. August, 7. September, 30. September, 8. November. 1889: 17. Juli.
Der Chef des Polizeiamtes, Monro, war anderthalb Stunden nach der Mordthat auf der Stelle; der Chef der Geheimpolizei, Anderson, ist im Ausland, angeblich um für die „Times" den politischen Vergehen nachzuspüren, welche einige Parnelliten vor zwölf Jahren begangen haben sollen! Darin liegt der Humor dieser hochtragischen Situation.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:26 Uhr
Luxemburger Wort
31 Juli 1889
Der St. Raphaels-Verein
zum Schutze der Auswanderer
schaut bereits auf eine nahezu zwanzigjährige segensreiche Thätigkeit zurück. Fast in allen Hafenstädten der allen und neuen Welt, wo, Auswanderer sich ein- und ausschiffen, hat der Verein seine Vertreter, theils Priester, theils Laien, die in der opferwilligsten und uneigennützigsten Weise der Rath- und Hülfesuchenden sich annehmen. Dank dem regen Interesse des hochwürdigen Klerus, sowie dem unbegrenzten Vertrauen der katholischen und akatholischen Auswanderer ist es gelungen, Hunderttausenden die Segnungen und Vortheile des Vereins zuzuwenden, sie vor materiellen und geistigen Schäden zu bewahren, sie zu schützen gegen die zahllosen Gefahren der Seereise, und ihnen jenseits des Oceans ein Heim zu sichern, wo ihr zeitliches und ewiges Wohl nicht gefährdet ist. Zahlreiche Dankschreiben legen hierfür beredtes Zeugniß ab.
Wie ehedem, so ist auch heute noch der Auswanderer mannigfachen Gefahren ausgesetzt. Gefahren für sein Geld und Gut. Gefahren für seinen Glauben und seine Tugend; ihnen zu entgehen, soll der Auswanderer freudig die schützende und rettende Hand ergreifen, die der Verein ihm darbietet und sich ganz und ungetheilt der Leitung de« Vertrauensmannes des Vereins hingeben in Allem, was zur Reife erforderlich ist. — Erwacht in Dir der Gedanke, nach Amerika zu ziehen, so höre nicht auf das prahlerische Gerede sog. Deutsch-Amerikaner, noch auf die Anpreisungen von manchen gewissenlosen Agenten; nicht das Interesse für Dein Wohl ist's, das aus ihrem Munde spricht, wohl aber das Interesse für den eigenen Vortheil. Wende Dich vielmehr zuerst brieflich an einen der Vertrauensmänner des Vereins, theile ihm Deine Ansicht und Deine Verhältnisse mit, er wird dann auf Grund langjähriger Erfahrung Dir mittheilen, ob die Auswanderung für Dein zeitliches und ewiges Wohl ersprießlich ist, oder nicht. Sein Rath ist durchaus zuverlässig, weil unentgeltlich und nicht von materiellem Interesse beeinflußt. Es gereicht dem Vereine zum großen Verdienste, Taufende vor leichtsinniger Auswanderung, damit zugleich aber auch vor schwerem Unglück bewahrt zu haben. Billigt der, Vertrauensmann Deinen Plan, so wird er Dir zugleich den richtigen Weg zeigen, auf welchem Du unbeschadet an Leib und Seele das Ziel erreichen wirft. Er weist Dir ein Gasthaus in der Hafenstadt an, wo weder Deinem Geldbeutel, noch Deiner Tugend Gefahr droht; er überwacht die materiellen Ungelegenheilen, wie Lösung des Schiffsbillets, Umwechseln des Geldes, Einkauf des zur Reife Nöthigen. Vor Allem aber bietet er Allen die Gelegenheit, sich christlich auf die gefahrvolle Reise vorzubereiten durch würdigen Empfang der heiligen Sakramente, durch Gebet, Predigt und Segen; am Tage vor Antritt der Seereise wird in allen Hafenstädten besonderer Gottesdienst für die Auswanderer abgehalten, um Gottes Segen und Hülfe zu erflehen. Um dem Einflüsse schlechter Gesellschaft in den Tagen der Seereise vorzubeugen, vertheilt der Verein Bücher und Zeitschriften unentgeltlich an die Auswanderer, denen kleine Gebetzettel beigefügt sind.
Sobald der Auswanderer, ausgerüstet mit der Empfehlungskarte des Vereins, das jenseitige Ufer betritt, erwarte: ihn dort der Vertrauensmann, der ihn mit christlichem Gruße empfängt und mit priesterlicher Liebe für ihn Sorge trägt, um ihn seinem Endziele zuzuführen. Allen Auswanderern ist somit Gelegenheit geboten, unbeschadet der heiligsten Güter des Lebens die schwierige und gefahrvolle Reife zu machen, wenn sie nur der Führung und dem Schutze des St. Raohaels-Vereins sich anvertrauen wollen. Möchte daher unser Wunsch endlich in Erfüllung gehen, daß von nun an kein katholischer Auswanderer mehr zum Wanderstabe greift, es sei denn an der Hand des Vertrauensmannes des St. Raphaels-Vereins. Zugleich bitten mir dringend den katholischen Clerus, mit uns Hand in Hand zu wirken und feine auswandernden Pfarrkinder auf die Fürsorge des Vereins hinzuweisen; Gottes Lohn und der Auswanderer Dank wird ihm reichlich zu Theil werden.
Auskunft über die Statuten des St. Raphaels-Vereins ertheilen: die Vertrauensmänner in den Hafenstädten:
Bremen: Herr Pfarrer Peter Schlösser, Lindenstraße 6 ; Hamburg: Herr Theodor Meynberg, Große Reichenstraße 52, und Herr Pfarrer Prachar, an der kl. Michaeliskirche 29 ; Antwerpen: Herr I. W. Würden, Avenue Charlotte 49 ; Rotterdam: Herr Jakob Zöller, van der Tackstraat 17; Amsterdam; Herr Eduard Huf, Nieumendyk 215; Liverpool: Herr Frz. Egon Clotten, 24 Horton Street; London: Herr Pfarrer Dr. Verres, 47 Union Street, Whitechapel; Havre: Herr Pater Lambert Rethmann, 3 Rue Doubet; New-York: Rev. I. Neuland (nicht mehr Jos. Kölble). 6 State Street; Porto Alegre: Herr Clemmcio Wallau, Prov. Rio Grande do Sul, Brasilien; Ioinville: Herr Pastor C. Börgeshaufen, (Dona Fiancisca), Prov. Santa Catharina. Brasilien; Buenos Aires: Herr Adolfo Hopmann, Defensa Nr. 140, Argentinien; Kapstadt : Rev.Dr. Fred. C. Kolbe, Hope Street, Capcolonie, Südafrica.
die Vertrauensmänner an den Hochwürdigsten Qrdinariaten:
Augsburg: Hîrr Domkapitular Freiherr von Capell; Bamberg: Herr Domoicar Hummer; Budweis: Hochw. Bischöfliches Consistorium; Breslau: Herr Vicedechant Schmolle; Cöln: Herr Domvicar Pesch; Dresden: Hr.Vicariatsrath Ludwig Wahl.; Eichftädt: Herr Domdecan Dr. J. Pruner; Frauenburg: Herr Bifchöfl. Secretär Dr. Siebte ; Freiburg i. Breisgau : Herr Erzbischöfl. Ordinariats-Assessor Vögele ; Fulda: Herr Domkapitular Dr. Braun; Heppenheim a. 0. B. : Herr Pfarrer Sickinger; Hildesheim: Herr Pastor Gerhard Schrader; Leitmeritz: Herr Dompfarrer und Domkapitel-Official Karl Mufch; Limburg a. d. Lahn: Herr Domkapitular Eiffler; Luxemburg: Herr Dompfarrer Lech; München: Herr Domkapitular Kagerer; Münster i. W.: Herr Domkapitular Graf Dr. von Galen; Olmütz: Herr Spiritual Joseph Drobena; Osnabrück: Heir Veneraloikariats-Assissor Freund; Paderdorn: Herr Geistl. Rath, Pfarrer Ruland; Passau: Herr Domkapitular Siegler; Pelplin : Herr Kanzleidirigent, Czarrwski; Posen: Herr Domherr Marvanski;Rottenburg a. R.: Herr Domkapitular Wüllenbücher; Speyer: Herr Domvicar Maginot; Trier: Herr Professor Dr. Schrod; Wien: Herr Ehrendomherr Kornheisl; ferner in Danzig-Altschottland: Herr Pfarrer F. Scharmer; Freiberg (Mähren) : Herr Kaplan Stojan; Reiste: Herr Rechtsanwalt Nadbyl.
(Mitgetheilt.)
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:26 Uhr
Luxemburger Wort
13 September 1889
London, 11. Sept. (Der Mord in Whitechapel.) Es ist der 9. Frauenmord in Whitechapel, welcher gestern Morgen an's Tageslicht kam. Am 8. Septbr. des vorigen Jahres, also fast genau vor Jahresfrist, wurde London durch einen ähnlichen Mord erschüttert. An Einzelheiten über die unmenschliche That liegt folgendes vor: Die Leiche, wie sie der patrouilliende Polizist fand, halte kaum einen Fetzen Kleidung an. Wahrscheinlich ist sie in einem Sacke dorthin geschafft worden, wo sie aufgefunden wurde. Der Körper war schon in Verwesung übergegangen und verbreitete einen furchtbaren Geruch. Lange Zeit hat die Leiche jedenfalls nicht an der Stelle in Back Church Lane gelegen, da jeder Vorbeigehende allein durch den Geruch aufmerksam gemacht worden wäre. In Whitechapel hatte sich nach den früheren Frauenmorden ein Wachsamkeitsausschuß gebildet. Jede Nacht wurde die Gegend der Morde, welche ein umgrenztes Gebiet bildet, abgegangen. Erst, als der große Strike anfing, ließ die Energie des Ausschusses nach und diese Zeit der Aufregung scheint der Mörder benutzt zu haben, um von neuem die Bevölkerung von London zu mahnen, welchen unheimlichen Gast sie in ihrer Mitte besitzt. Der Vorsitzende bei Wachsamkeitsausschusses, Albert Backot [Bachert], zweifelt nicht daran, daß der Mörder in Whitechapel wohnt, dessen Nebengäßchen er genau kennt. Er glaubt sogar, daß der Unhold sich in einem der naheliegenden Häuser befand, als die Leiche des ermordeten Frauenzimmers gefunden wurde.
Die Polizei ist der Ansicht, daß der Mord schon vor 4 Tagen begangen worden ist. Erwähnung verdient das eigenthümliche Eintreffen der Prophezeiung des Gedankenlesers Stuart Cumberland. Derselbe hatte am 27. August vorhergesagt, daß ein neuer Frauenmord in 14 Tagen verübt werden würde. Die Wahrsagung ist bis auf den Sag wahr geworben. Der Frauenmörder scheint auch dieses Mal sein Verbrechen vorher angekündigt zu haben. Wenigstens wurde vorige Woche ein Brief hinter dem Ost London Hospital aufgefunden, in dem es hieß, daß demnächst ein neuer Mord begangen werden würde. Gestern Abend nun wurde in Whitechapel ein zweiter Brief gefunden, in dem der Verfasser prahlte, daß er ja schon vorige Woche den Mord angekündigt habe. Die an der Leiche fehlenden Gliebmaßen sind bis jetzt noch nicht entdeckt worden. In Edinburgh wurden am 31. August beim Reinigen des Unions Kanals Theile einer, menschlichen Leiche gefunden, die noch nicht stark verwest waren. Man hält es nicht für ausgeschlossen, daß dieselben dem ermordeten Frauenzimmer angehörten.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:28 Uhr
Luxemburger Wort
14 September 1889
Die Frauenmorde in London.
Dr. med Archer B. Lillingfoote
Von
                               London, 13. September.
Wie phrasenhaft das klingt, wenn man liest ober sagt: »Ganz London ist unter dem Eindrucke des Schreckens". Eine Stadt von fünf Millionen! Pah, wie kann die unter einem gleichmäßigen Einbrucke stehen! Und doch ist es wahr, buchstäblich wahr. Ganz London schaudert, ganz London fürchtet sich ...
Seit einem Jahre geht ein Ungethüm in London um, eines von jenen grausigen Fabelwesen der Sage, die das Blut des Unglücklichen erstarren machen, welchem das Gespenst erscheint. Neun Frauen sind bis jetzt feiner Blutgier zum Opfer gefallen. Die entsetzliche Lifte lautet:
3. April 1888: Emma Elisabeth Smith. 45 Jahre alt, todt aufgefunden in Osborn-Street, Whitechapel, mit durchgeschnittenem Halse und einem eisernen Pfahl durch den Leib gebohrt;
7. August 1888: Martha Tabram, 35 Jahre alt, todt aufgefunden in Georg-Yard-Buildings, Commercial-Street, mit durchschnittenem Halse und 39 Wunden im Leibe.
31. August 1888 : Mary Anne Nichols, 47 Jahre, alt, todt aufgefunden in Bucks Row, Whitechapel, mit durchschnittenem Halse und vollständig ausgeweidet.
8. September 1888: Annie Chapmann, 37 Jahre alt, todt aufgefunden in Hanbury-Street, Spitalfields, mit durchschnittenem Halse und gräßlich verstümmeltem Unterkörper.
30. September 1888: Elisabeth Strick, 26 Jahre alt, todt aufgefunden in Berner-Street, Whitechapel, mit durchschnittenem Halse, aber unverstümmelt, da der Mörder während der Blutthat durch einen heimkehrenden Händler überrascht wurde. Das Pferd des Wagens, in welchem der Händler fuhr, stieß an die Leiche der Frau, wodurch der Händler, welcher schlief, aufgeweckt wurde. Er hatte, wie er später sagte, die Empfindung, als habe er in dem Augenblicke Aufwachens einen Schatten fliehen sehen. Offenbar war dies der Mörder, der nunmehr, da er bei dem ersten Opfer sein Werk nicht vollenden konnte, in derselben Nacht noch einen zweiten Mord beging.
30. September 1888 : Catherine Eddowes, 45 Jahre, todt aufgefunden in Mitre Square, Albgate, mit durchschnittenem Halse und verstümmeltem Unterkörper.
9. November 1888: Mary Jane Kelly, 23 Jahre, todt aufgefunden in Millers Court, Commercial-Street, mit durchgeschniltenem Halse, abgeschnittenen Ohren und völlig ansgeweidet.
Nach mehr als Monatlicher Pause erfolgte dann am 17. Juli, Nachts zwischen 12 1/4 und 12 3/4 Uhr, der Mord an der 40jährigen Alice Mackenzie, in Castle-Alley, welche mit durchschnittenem Halse, ausgeweidet und verstümmelt gefunden wurde.
Abermals vergingen 2 Monate, da erfolgte heute eine neue Entdeckung. Unter den Eisenbahnbogen an Pinchin - Street, Whitechapel, wurde der ausgeweidete Leichnam einer Frau gefunden. Beine und Kopf fehlten.
Der District, in welchem alle diese Mordthaten verübt wurden, ist ein verhältnißmäßig kleiner: der Stadttheil Whitechapel. Nachstehenbe Karte gibt ein Bild der Oertlichkeit:

Der Theil von London, in welchem diese 9 Morde verübt worden sind, geholt zu den belebtesten Vierteln der Weltstadt; er liegt sozusagen im Herzen derselben. Ueber jeden Begriff arme Arbeiter; verworfene Dirnen; Gast- und Schankwirthe niedrigster Ordnung; Schiffknechte, Matrosen, kurzum arme Teufel aller Art bilden die Bewohner dieser Straßen, während kaum einen Büchsenschuß weiter, in den Comptoirs der City, über Millionen von Pfund Sterling verhandelt wird.
Aber ich lese schon in aller Augen eine Frage, welche weit wichtiger ist, als alles andere, die Frage nach dem Mörder! Wer hat diese graueneregenden, in der Geschichte der Verbrechen aller Zeiten einzig dastehenden Mordthaten begangen? Düsteres Schweigen... Es ist weder der Polizei, noch dem Zusammenwirken der Bürger, welche ein freiwilliges Polizeicorps mit nächtlichen Runden u.f.w. bildeten, noch endlich dem Zufall, diesem glücklichsten und erfolgreichsten Detectiv, gelungen, eine Spur zu finden. Noch immer hat man, trotz aller Anstrengungen, keine Ahnung davon, wer der Verbrecher sein könne.
Dr. Forbes Winslow, der bekannte Psychiater, vertritt die Ansicht, der Mörder sei ein Wahnsinniger, der von Zeit zu Zeit von einer „Mordmanie" ergriffen werbe und dann wie ein Rasender wüthe. In den Zwischenzeiten zwischen diesen Anfällen habe der Verbrecher — so führt Winslow aus — vielleicht gar keine Ahnung von seinen gräßlichen Thaten. Diese Theorie findet nur wenig Gläubige. Mehr Anhänger hat eine andere Ansicht, nach weicher der Mörder ein hochgestellter Mann sein soll, der in feinem Wagen daherkommt, schnell sein blutiges Handwerk verrichtet und dann wieder fortfährt. Aber auch in diesem Falle hat man es offenbar nur mit einer ganz unhaltbaren Annahme zu thun. Auch die weiteren Vermuthungen, der Mörder sei ein Arzt, ein Schiffer, ein Metzger u.s.w., sind durchaus unbegründet. Man steht vor einem ebenso unheimlichen, als dunkeln Räthsel. Ob es jemals gelöst werben wird? *) ('Str. P')
*) Es gibt Leute, welche behaupten, der Mörder sei unter der Polizei selbst zu suchen.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:28 Uhr
Luxemburger Wort
24 September 1889
London, 20. September. Welche Vermuthung über die Person des räthfelhaften [sic] Frauenmörders von Whitechapel ist bisher nicht schon ausgesprochen worden? Bald hieß es, der Mörder müsse ein wissenschaftlich gebildeter Wundarzt sein, bald hieß es, daß sich Studenten der Medizin den schlechten Witz erlaubt hätten, eine halb secirte Leiche an bestimmte Plätze hinzulegen. Die neueste Lesart besteht nun darin, daß ein Frauenzimmer, welches als Mann verkleidet in den Schlachthäusern von Aldgate und Whitechapel beschäftigt gewesen ist, der gesuchte „Jack der Aufschlitzer" ist. Beweise hat man freilich auch hierfür nicht.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:29 Uhr
Luxemburger Wort
16 Oktober 1889
London, 14. Okt. Der Vorsitzende des Wachsamkeits-Ausschusses, welcher sich seit einem Jahre in Whitechapel gebildet hat, um dem Verüber der grausigen Frauenmorbe auf die Spur zu kommen, hat am Samstag ein Schreiben erhalten, welches »Jack der Aufschlitzer" unterzeichnet ist. Der Schreiber erklärt darin Herrn Albert Backert, daß er den jüngsten Frauenmord nicht verübt habe. Am 18. Oktober aber werde er wieder an die Arbeit gehen, weshalb es heiße, die Augen weit aufzumachen. Zwei der früheren Ankündigungen des Unholdes, daß er an einem bestimmten Tage einen Mord begehen würde, haben sich bekanntlich bestätigt. Dabei bleibt selbstverständlich der Werth des Briefes dahingestellt, obgleich die Polizei ihn nicht ganz als schlechten Spaß zu betrachten scheint.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:29 Uhr
Luxemburger Wort
4 November 1889
London, 29. Oct. "Jack der Aufschlitzer" läßt wieder von sich hören. In einem an Dr. Forbes Winslow gerichteten Schreiben, welches "P.S.R. Lunigi" unterzeichnet ist, kündigt er an, daß etwa am 8. ober 9. November ein neuer Mord stattfinden werde, vielleicht in Clapham ober im Westende, aber nicht in Whitechapel. Gleichzeitig hat der Vorsitzende des Wachsamteits-Ausschusses von Whitechapel einen „Jack der Aufschlitzer" unterzeichneten Brief empfangen, in dem der Schreiber sagt, er beabsichtige, den nächsten Mord nicht im Freien, sondern in einer Stube zu verüben. Ob viele geheimnißvollen Zuschriften von dem wirklichen Frauenmörber ober einem „Spaßvogel« herrühren, läßt sich mit Bestimmtheit nicht sagen.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:30 Uhr
Luxemburger Wort
14 November 1889
London, 10. Nov. Dem eventuellen Entdecker des Frauenmörders von Whitechapel im Londoner Ostend steht eine recht hübsche Summe in Aussicht. Im Ganzen sind von 187 Seiten-Belohnungen ausgesetzt, worunter der Staat mit 3000 Pfund Sterling und einige Private. wie der Lord B., mit bis 10,000 Pfund Sterling. Sämmtliche 187 Posten betragen zusammen 68,520 Pfund Sterling oder mehr als 1,370,000 Mark. Eine so hohe Belohnung ist selbst in dem in diesen Punkten oft mehr als freigebigen England noch nie erreicht worden. Trotz der gewaltigen Summen und trotz Tausender von Anzeigen hat man noch nicht die geringste Spur des Mörders entdeckt.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:30 Uhr
Luxemburger Wort
4 Oktober 1890
London, 3. Dkt. Jack, der Aufschlitzer, hat wieder einmal eine allgemeine Panik im Ostende von London hervorgerufen. Es ist nämlich bei der Londoner Polizeibehörde ein Warnungsbrief eingegangen, in welchem angekündigt wird, daß Jack seine Operationen wieder aufnehmen werbe. In Folge bessert ist vom Vigilanzausschuß die Einrichtung eines Patrouillendienstes beschlossen und der Polizeidienst verschärft worden.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:31 Uhr
Luxemburger Wort
17 Oktober 1890
London, 11 Okt. Der Vorsitzende des Wachsamkeits-Ausfchusses welcher sich in Whitechapel nach den ersten Mordthaten „Jack des Aufschlitzers" gebildet hatte, macht in den Zeitungen bekannt, daß letzter Tage ihm eine Frau mitgetheilt habe, daß vor zwei Jahren ein junger Mann bei ihr wohnte, dessen blutbedeckte Effekten und sonstiges Gebahren in ihr keinen Zweifel übrig gelassen hätten, daß ihr früherer Miethsmann der Frauenmörder gewesen sei. Sie würde diese Aussagen früher gemacht haben, wenn nicht die Furcht in Ungelegenheiten zu gerathen, sie daran gehindert hätte. Die ganze Erzählung klingt etwas unwahrscheinlich und die Veröffentlichung derselben in der Presse wird jedenfalls nicht dazu beitragen, die Verhaftung des Mörders zu erleichtern.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:31 Uhr
Luxemburger Wort
14 Februar 1891
Ein Londoner Polizeibeamter fand in der Nacht vom 13. d. M. unter einem Eisenbahn-Viaduct in Whitechapel die Leiche einer Frauensperson mit abgetrenntem Kopfe. Die Polizei glaubt an ein neues Verbrechen des berüchtigten Mörders, der unter dem Namen „Jack der Aufschlitzer« weltbekannt geworden ist. Im Sladttheil Whitechapel herrscht unbeschreibliche Aufregung. Der Ort des Verbrechens ist ein Bogendurchgang der großen Ostbahn. Ein Bahngepäckträger, welcher das Paar, in den Bogen eintreten sah, beschreibt den Begleiter des Opfers als einen ausländischen Schiffs-Heizer. Darauf sind denn heute die fremden Schiffe in den Docks, besonders die spanischen, durch die Polizei untersucht worden.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:32 Uhr
Luxemburger Wort
17 Februar 1891
London, 15. Febr. Die Polizei hat heute Mittag in den Docks einen Mann mit blutgetränkten Kleidern verhaftet, welcher eine Viertelstunde vor der Auffindung der Frauenleiche in Whitechapel in Gesellschaft der Ermordeten gesehen worden ist. Der Verhaftete ist ein Schiffsheizer, welcher seit langer Zeit polizeilich beobachtet worden ist. Die Polizei glaubt bestimmt, daß sie „Jack den Aufschlitzer" erwischt hat.
London, 16. Febr, Gestern Abend lief ein so ueberraschendes Beweismaterial ein, daß Saddier, in dem „Jack der Aufschlitzer" vermuthet und der bisher vorläufig festgenommen war und vielleicht wegen mangelnder Beweise heute freigelassen worden wäre, nämlich unter die Beschuldigung des Mordes gestellt worden ist. Ein großes, furchtbares, zu den Morden wohl geeignetes Messer ward als sein Eigenthum nachgewiesen. Er schien sehr erschüttert. Die Ermordete ist von ihrer Schwester und ihrem Vater, der in einem Arbeitshause untergebracht ist, als Frances Cole anerkannt. Saddler ist 50 Jahre alt, verheirathet, hat 3 Kinder. Er ist Heizer auf dem Dampfer „Fez", er war [?] Monate abwesend.
Er erklärte, daß er Dannerstag bis 11 Uhr Abends mit der Verstorbenen zusammen gewesen sei, dann sich von ihr getrennt habe und nach den Docks gegangen sei. Dort sei er von Dockarbeitern blutig geschlagen worden und habe sich dashalb im London-Hospital verbinden lassen. Die Polizei erhielt vorgestern verchiedene Briefe; einer lautet: "Ich habe mein Auge auf ein fettes altes Weib eines bekannten Tuchgeschäftes geworfen." Darunter stand die Zeichnung eines Messers und die Unterschrift: "Jack der Aufschlitzer."
London, 16. Febr. Der wegen des Mordes in Whitechapel verhaftete Saddler wurde heute dem Richter vorgeführt; nach Erledigung des gesetzlichen Formalitäten wurde die Verhandlung auf acht Tage verschoben.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:32 Uhr
Luxemburger Wort
27 Februar 1891
Der Frauenmord in Whitechapel.
London, 25 Febr. Das komplizirte englische Rechtswesen kommt bei einem Fall, wie der Frauenmord in Whitechapel ist, zu seiner vollen Entfaltung. Das gerichtliche Verfahren verlangt nicht weniger als drei Untersuchungen. Die erste findet vor dem amtlichen Leichenschauer statt und die Dauer dieser ersten Untersuchung hängt gemeiniglich weniger von dem Takt des Leichenschauers, als von dem Grade der Neugier der Geschworenen ab, welche unter dem Vormund, der Sache auf den Grund gehen zu müssen, immer neue Punkte vor ihr Forum ziehen. Der Staatsanwalt, welcher die Verfolgung des Schiffsheizers Sadler übernommen hat, hätte gern den Verhandlungen vor dem Leichenschauer schon früher ein Ende gemacht, da die Justiz durch die etwas dilettantenhafte Untersuchung nur wenig gefördert wird, doch lieh es sich nicht durchsetzen. Die gestrigen Verhandlungen boten einige interessante Punkte. Unter den Zeugen befanden sich ein Aufwarter in einem Kaffeehaus in Whitechapelroad. Littlewood, der den Sadler am Freitag nach der Mordthat um halb 1 Uhr Morgens bedient hatte; Sadler verlangte eine Tasse Kakao, ging gerade, schien nicht betrunken zu fein, hatte eine Wunde über dem linken Auge und Blut am Almgelenke. Ein anderer Aufwärter, Smith, am Towerhill, sagte aus, daß er den Angeklagten ungefähr 5 Minuten vor 2 Uhr Morgen« vor dem Restaurant gesehen habe. Er war damals übel zugerichtet, hatte gebrochene Rippen, beklagte sich gegenüber den zwei Konstablern über die erhaltenen Prügel und ging dann in der Richtung der Minories ungefähr um zwei Uhr weiter. Wo hat der Mann die Zeit zwischen 2 und 6.30 Morgens zugebracht? Der Mord wurde bekanntlich um ein Viertel nach zwei in Tavillom Garden., Whitechapel, begangen. Sadlers Aussage zufolge ging er ins London Spital in Whitechapel Road, wo seine Wunde untersucht wurde und wo er auch bis 6 Uhr schlief. Aber da er seiner eigenen Aussage und dem Zeugniß verschiedener Personen nach betrunken war, sind seine Erinnerungen sehr konfus. Der gravirendste Punkt ist das Messer welches der Matrose D. Campbell ihm am Freitag zwischen 10 und 11 Uhr Morgens abgekauft haben will. Der Angeklagte leugnet den Besitz dieses Messers gänzlich ab. Er will nie ein Messer gehabt haben, wenigstens keines derart, wie das dem Gericht vorgewiesene. Campbell behauptet, er habe Tarier einen Schilling und Tabak gegeben; es war ein in Amerika fabrizirtes Messer. Als Campbell von dem Mord hörte, öffnete er das Messer, fand jedoch kein Blut darauf. Als er et im Wass r wusch, färbte sich dieses ; ob die orangegelbe Farbe von Blut oder vom Rost herrührte, ließ sich nicht feststellen. Beides ist möglich. Campbell verkaufte das Messer einem Händler für 6 Pence; dieser schliff es und zerschnitt seinen Sonntagsbraten damit. Augenscheinlich ist dieser Beweis vuukt nicht sehr stark. Doch hat Campbell den Angeklagten aus 15 andern Männern als denjenigen bezeichnet, dem er das Messer abkaufte. Von den zwei als Zeugen vernommenen Aerzten sagt der eine, Oxley, aus, daß kein betrunkener Mann die That verrichten konnte. Dr. Phillips loi.ftattrte, daß der HaIs drei Schnitte, zwei von der Linken zur Rechten, einen von. Rechts nach Links hatte, und daß Frances Coles ge- Jodlet wurde, während sie auf dem Boden ausgestreckt lag. Der Hinterkopf zeigte Kontusionen, wie sie ein Fall auf das Pflaster hervorbringt. Der Körper war forgfältig nach links gestoßen, um zu verhindern, daß der Mörder mit Blut bespritzt werde. Kein Kampf oder Ringen konnte stattgefunden haben; es war ein schmerzloser Tod, da die Frau vermuthlich vom Fall betäubt war. Die Wunden konnten von einem Messer, wie das von Campbell vorgewiesene, herrühren; das Messer war jedenfalls nicht sehr scharf. Das auf den Kleidern des Sadler gefundene Blut rührte von seinen Wunden her. Am Freitag wird die Untersuchung vor dem Leichenschauer abgeschlossen werden. Wenn die Jury ihn schuldig findet, kommt der Fall vor den Paoizeirichter, der dieselben Zeugen nochmals verhört unb den Angeklagten dem zuständigen Gericht überweist. Von dem Urtheil dieses letzten Gerichtes ist keine Berufung möglich. Im Publikum setzt sich die Merzen gung fest, daß Sadler unschuldig und „Jack der Aufschlitzer" der Mörder der Francis Coles ist. Millier weile ist das Publikum auf Woche« hinaus mit sensationellem Lesestoff reichlich versorgt. (Frankf. Ztg.)
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:33 Uhr
Luxemburger Wort
3 März 1891
London, 2. März. Der Prozeß gegen den des Frauenmordes in Whitechapel angeschuldigten Schiffsheizer Sadler ist eingestellt worben. (Schon vor der Leichenschauer-Jury ist die Glaubwürdigkeit wichtiger Zeugen erschüttert worden, und verschiedene, Sadler scheinbar belastende Behauptungen haben sich als unbegründet erwiesen. Der Polizeirichter ist offenbar zu demselben Schlusse wie die Leichenschauer-Jury gelangt.)
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:33 Uhr
Luxemburger Wort
7 Juli 1891
London, 30. Juni. Der Vorsitzende des Whitechapeler Vigilanzausschusses schreibt: „Ich habe wieder einen Brief empfangen, welcher in demselben Stil verfaßt und unterzeichnet ist, wie die Briefe, welche mir vor einigen der letzten Frauenmorde zugegangen sind. Das Schreiben hat folgenden Wortlaut: „Georges Yard, Whitechapel. Ich stehe im Begriff, meine Operationen in kurzer Zeit in dieser Nachbarschaft wieder aufzunehmen. Sollten Sie ober Ihre Höllengesellschaft nur den geringsten Versuch unternehmen, meinen Aufenthaltsort zu ermitteln, werde ich, so helfe mir Gott, Ihr Herz mit einem Messer durchbohren. Hütet Euch also, hört auf meine Warnung und laßt mich allein. Möge die Polizei mich fangen, wenn sie kann. Ich bemitleide sie jedoch, da ich mich lebend nie ergeben werbe. Zweimal hätte man mich beinahe gefangen. Ergebenst Jack the Ripper. (G.W.B. sind meine Anfangsbuchstaben)." Herr Backert hat den Brief der Polizei eingehändigt.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:34 Uhr
Luxemburger Wort
29 März 1892
Melbourne, 26. März. Der Mörder Deeming, welcher der Ermordung seiner Frau bei Melbourne, wie der Ermordung seiner ersten Frau und seiner vier Kinder in Rainhill bei Liverpool angeklagt ist, gestand, laut einer Blättermeldung, die Rainhillmorde sowie die zwei letzten Morde in Whitechapel.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 29.07.2011 21:34 Uhr
Luxemburger Wort
4 April 1892
Neues vom Massenmörder Deeming. In dem in Perth in Westaustralien verhafteten Deeming, mit seinem Dutzend anderer Namen, ist offenbar einer der gefährlichsten Verbrecher dingfest gemacht worden. Jeder Tag bringt neue „Großthaten“ dieses Massenmörders, Schwindlers und Betrügers an's Licht, die es ganz unbegreiflich erscheinen lassen, wie er so lange sein Handwerk betreiben konnte, ohne in die Hände der strafenden Gerechtigkeit gefallen zu sein. Die ursprüngliche Vermuthung. daß Deeming mit den Whitechapeler Morden in Verbindung stehe, ist durch ein Geständniß es Verbrechers bestätigt worden, welches er am Samstag in Perth seinem Rechtebeistand und später auch einem Polizeibeamten gegenüber abgelegt hat. Deeming hat nicht nur den an seiner Frau und seinen vier Kindern in Rainhill begangenen Mord eingestanden, sondern sich auch als Thäter der letzten zwei, Jack dem Aufschlitzer zugeschriebenen Whitechapeler Morde bekannt. Da nun der letzte der sogenannten „Whitechapeler Morde", der am 13. Februar d.J. [sic] begangen wurde, nicht mit Gewißheit auf Jack's Conto gesetzt wird, müßte also Deeming den achten und neunten Mord auf dem Gewissen haben. (Mary Kelly ward am 9. November 1888 in Dosset Street, Alice McKenzie am 17. Juli 1889 in Castle Alley umgebracht.) Im Februar 1891 verbüßte Deeming eine ihm zugemessene Strafe, zu welcher er wegen verschiedener in Beverley verübten Schwindeleien verurtheilt war.
Ist es nun Prahlerei Deeming's, daß er sich die zwei letzten Whilechapel-Morde zuschreibt, oder spricht er die Wahrheit? Auffallend ist. daß bei der Entdeckung der Leichen in Ralnhill sofort die Bemerkung gemacht wurde, daß der Schnitt durch den Hals bei jedem Opfer auffallend an die von Jack geübte Methode erinnerte; dieser Umstand gab zuerst zu der Vermuthung Veranlassung, daß man es mit dem so lange vergeblich gesuchten Whltechapel-Mörder zu thun habe. Auch die Leiche der Frau Deeming war ähnlich verstümmelt, wie die Leiche der Kelly und anderer der abgeschlachteten unglückseligen Frauenzimmer, und dies spricht für die Annahme, daß Deeming's Geständnis, auf Wahrheit beruht. Ein weiterer verdächtiger Umstand ist, daß Deeming vom April 1888, wo der erste Mord verübt ward, bis gegen Mitte November desselben Jahres für alle Welt verschollen war. Nach dem Morde der Kelly war jedoch die Polizei auf der Spur des Mörders, und da tauchte Deeming plötzlich bei feiner Familie in Birkenhead auf und schiffte sich alsbald nach Australien ein. Im Juli 1889 kehrte er zurück, landete in London, und zwei Tage später wurde Alice Mc Kenzie ermordet in der Straße aufgefunden. Der Mörder hatte aber nicht Zeit gefunden, eine Verstümmelung an der Leiche vorzunehmen; die Polizei war zu wachsam geworden, und er mußte es selbst als ein Wunder betrachten, daß er bei der Verübung der That nicht in deren Hände gefallen. Aber sie hatte ihn verscheucht, und Jack der Aufschlitzer hatte anscheinend London verlassen.
Dies fällt auffälliger Weise mit der Rückkehr Deeming's nach Birkenhead zusammen, uns es fragt sich nun, wenn er die zwei Morde zugestanden, ob er nicht auch die anderen sieben Morde auf seinem weiten Gewissen hat? Gerade während der Zeit der Ripper-Morde war er für alle Welt verschollen. Warum sollte er nicht in London gewesen sein? Er hat bisher nicht nachgewiesen, wo er sich da aufgehalten, und nach dem Urtheil der Sachverständigen waren alle Morde von derselben Hand und mit einem haarscharfen Messer vollführt. Deeming besaß nun ein gekrümmtes Messer mit elfenbeinernem Griff und in einer kunstreich geschnitzten Scheide aus Nilpferdhaut, welches er vom König Ketsdurayo erworben haben will. Es war unstreitig „echt afrikanische" Arbeit, die Klinge war von vortrefflichem Stahl und scharf, wie ein Rasirmesser. Deeming führte es immer bei sich und zeigte es vielen Personen mit der Bemerkung, daß dieses Messer wunderbare Geschichten erzählen könnte. Es war offenbar das Werkzeug des Massenmörders, der Armen das Leben und Reichen das Geld abnahm. Die bisher bekannt gewordenen Betrügereien, Diebstähle und Schwindeleien Deemings würden schon einen beträchtlichen Band füllen, der eine ganz interessante Lecture abgeben würde.
Seinen Hauptfischzug machte er in Südafrika, namentlich auf den Diamantfeldern, in Johannesburg und der Kapstadt. Wildfremd kam er dort als Mr. Smilh an und gewann binnen einigen Wochen das unbedingte Vertrauen von einigen Juwelieren und Diamantenhändlern, hie ihm Gold und Edelsteine zum Verkauf in der Capstadt im Werthe mehrerer taufend Pfund übergaben. Natürlich sahen sie von diesen und von „Mr. Smith" nichts wieder; aber nicht genug daran, schwinbelte er einem derselben durch Fälschung von Telegrammen 2300 Pfund und der Bank von Südafrika, bei der er sich mit gefälschten Papieren als Vertreter angesehener Firmen und als Besitzer weiter Länderstrecken in Natal legitimirte, 3800 Pfund ab. Sein viermonatlicher Besuch der südafrikanischen Colonie trug ihm, so viel bisher bekannt, über 8000 Pfund ein, und wahrscheinlich ist er auch der Dieb einer werthvollen Diamantensendung. Augenblicklich befindet sich Deeming auf dem Wege von Perth nach Melbourne, wohin er in Kelten überführt wird.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 30.07.2011 15:36 Uhr
Hier noch die restlichen Teile der Reportage "Wo das Laster weilt" vom 13 November 1888.

14 November 1888

Wo das Laster weilt.

Spaziergänge mit einem englischen Detektive im Osten Londons


(Fortsetzung.)

In der Gasse herrschte aber eine unsägliche Aufregung. Zwei Megären, die einer unbedeutenden Sache wegen in Streit gerathen waren, regalirten sich gegenseitig mit den schlimmsten Schimpfworten und Faustschlägen, während ein dankbares Publicum, aus den Einwohnern des Platzes bestehend, durch laute Zurufe sie zu weitern Heldenthaten zu begeistern suchte. Dies gelang auch in so fern, als die streitenden Parteien nach einer Kunstpause, in welcher sie Athen, schöpften, den Kampf mit erneuten Kräften aufnahmen, bis endlich eine Hünengestalt von einem Weibe sich gegen die Neigung der Zuschauer zwischen die Kämpfenden warf und sie mit den Worten trennte: „Ihr blutigen Narren,
 wollt wohl wieder ein Mal drei Monate am Waschfaß im Arbeitshaus« zubringen? Da sind die Coppers!« (ein Spitzname der englischen Polizei). Diese Ankündigung wirkte; die meisten der Anwesenden traten schnell in die Häuser, während die beiden Zankenden sich die Hände schüttelten, und mit einem Schluck ©in, den sie aus einer nicht sehr reinlichen Flasche tranken, den Frieden besiegelten.
„Gewöhnliche Scenen," sagte mein Begleiter trocken.„So lange wie sich die Gesellschaft auf ihrem eigenen Boden streitet, mischen wir uns selten ein. Höchstens gibt es ein blaues Auge, und da die Weiber hier nicht besonders hübsch sind, entstellt es auch ihre Schönheit nicht. Doch wir sind zur Stelle." Wir betraten ein häßlich aussehendes Haus in der Gasse. Am Eingange
 saß ein alles Frauenzimmer, dessen harte, abschreckende Gesichtszüge Laster und Schande verriethen; sie hatte, wie mir der Detective später erzählte, ein wildbewegtes Leben hinter sich und war jahrelang in den englischen
 Strafanstalten ein oft gesehener Stammgast. Seit sechs Jahren hielt sie jedoch eine Diebesküche, in welcher die gefährlichsten Subjecte verkehrten. Da sie sich sonst nichts zu Schulden kommen liefe, so kümmerte sich die
 Polizei nicht viel um sie, weil wohlgefühlte Diebesdüchen den Behörden aus leicht verstehlichen Gründen nicht unangenehm sind. Sie war der Cerberus des „Etablissements" und lieh Niemanden herein, der ihr nicht erst drei Pence für die Benutzung des Locals mit Schlafstelle ausgehändigt hatte. Auf einem kleinen Tische neben ihr stand eine Petroleumlampe, der schwarze angerauchte
 Cylinder ließ nur ein schwaches Licht auf die Umgebung fallen; auch eine Flasche Gin fehlte nicht. Ihrem rothen Gesichte nach zu urtheilen, mußte die Alte derselben häufig zugesprochen haben. Den Détective und mich begrüßte sie mit einem Grunzen, das eben so gut ein Fluch wie ein Segensspruch sein konnte, eine Analyse, die mir zur Zeit ziemlich schwierig vorkam, und
 die ich deshalb auch nicht unternahm.
Ohne eine weitere Bemerkung betrat der Détective, von der Alten gefolgt, das Vorderzimmer, anscheinend ihr Privatgemach. Ein großes Bett füllte die Mitte
 aus, ein Tisch mit Kochgeräthen und zwei Stühlen waren das weitere Mobiliar; auf einem Stuhle lag eine Bibel. "Ihr habt kein Recht, in mein Privatzimmer hineinzugehen," sprach jetzt die Alte in zorniger Erregung; „ich bin eine Dame." „Aergert Euch nur nicht," antwortete der Détective, „ich will bloß 'mal nachsehen, ob Ihr wieder ein Mal Jemanden unter Euerm Bette stecken habt. Das könnte Euerm guten Rufe schaben, und da wir alte Freunde sind, so würde ich mich darob grämen." Eine Salve von Schimpfwörtern und Flüchen folgte dieser scherzhaften Bemerkung. Der Détective nahm sie eben so gleichgültig hin wie ein Elephant Mückenstiche. Er blickte unter das Bett und
 fand nichts. Nachdem ihm die Alte noch den frommen Wunsch nachgesandt hatte, daß er sich das Genick und andere wichtige Glieder des menschlichen Körpers brechen möge, begaben wir uns hinauf nach dem ersten Stock. Eine schlechte Treppe von achtzehn Stufen, die unter unsern Sohlen trachten und quiekten, ein wackeliges Geländer und keinerlei Beleuchtung machten es schwierig für uns, den ersten Stock zu erreichen. Oben angelangt, fiel ich über einen Betrunkenen, der dort feinen Rausch ausschlief, gegen eine Thüre, die mit lautem Krachen aufflog. „Sachte, sachte," mahnte der Détective, und „Halloh, Gentlemen!" redete er die in dem Zimmer befindliche Gesellschaft an. "Wie geht's euch? Hab' euch schon lange nicht besucht." Die Verwirrung, welche unserm Eintritt folgte, ist nicht zu beschreiben. Ein großer vierschrötiger Bursche von ungefähr 25 Jahren warf sich über den Tisch, um das auf demselben befindliche Geld nebst den Karten — denn die Gesellschaft war
 beim Kartenspiele beschäftigt — einzuheimsen, während drei oder vier Frauenzimmer, vom übermäßigen Alkoholgenuß angefeuert, sich dem Détective mit lautem Kreischen und Verwünschungen entgegenwarfen. Kaltblütig ließ der Beamte feine Augen über die Gesellschaft schweifen, warf die sich um ihn Drängenden mit starker Faust zurück und rief: »Seid doch nur ruhig;
 ich such' Keinen von euch. Spielt ruhig weiter und nehmt mir's nicht übel, daß ich euch gestört habe." Sobald es ruhiger wurde, setzte er sich auf einen wackeligen Stuhl und fragte den großen Burschen: „Thompson, wo wohnst du denn jetzt?" „Geh und finde das selber heraus," brüllte der Angesprochene.
 „Einstecken könnt Ihr mich heute noch nicht; ich bin unter Polizei-Aufsicht, und die "Jecks" (Détectives) in Olb Street kennen meine Wohnung. Könnt Ihr denn niemals einen Menschen ein ehrliches Leben einschlagen lassen?" Der Détective wandte sich und sagte: „Ich wünsche euch einen recht guten Abend."
Wir verließen nach diesen Worten die Stube und kletterten eine Leiter hinauf, die nach der Dachkammer führte. Diese war zum Schlafen eingerichtet; 16 Personen waren in einem Zimmer, welches zu klein war, sechs zu fassen. Ein Taglicht warf feinen matten Schimmer auf die Bewohner. Sechs Mädchen saßen im Kreise und hörten einem siebenten zu, welches, eben aus der Millbank Penitentiary entlassen, Nachrichten über Bekannte brachte. — „Sarah ist im Waschhause, und Janet muß Strümpfe sticken. Lizzie ist krank im Hospital, sie hat dem dummen Esel von einem Doctor Blut vorgespuckt." Die Gesellschaft lachte in der kreischenden Weise, die in derartigen Kreisen üblich ist. sobald die Erzählerin den Détective, der sich in der Zwischenzeit schnell umgesehen hatte, gewahrte, sprang sie auf ihn zu und küßte den sich ihrer Erwehrenden herzlich auf die Backen. ,Du, Lump. Hast mir drei Monate eingebracht; aber ich bin dir nicht böse dafür, es ist gar nicht so schlimm, so lange man bloß zu plätten hat." — Nach dieser Liebesbezeugung fragte sie — die lange Annie hieß sie — ihn ruhig: „Wen suchst du denn heute, mein Herzchen?" Da sie keine Antwort bekam, fuhr sie ruhig in ihrem Gespräche fort und kümmerte sich nicht weiter um uns. Wir verliehen die erstickende Atmosphäre und suchten unsern Weg der Gasse zurück.
„Das Frauenzimmer," flüsterte der Détective, weiß um den Diebstahl, und es sollte mich gar nicht wundern, wenn sie in einigen Minuten das Haus verläßt, um dem rothen Johnson einen Wink zu geben. Ich sah sie drei ober vier Mal während des Abends in der Nachbarschaft von Piccabilly. Jetzt heißt's aufpasse; ich muß aber Hülfe haben, denn der Kerl ist ein desperater Schurke, und ohne die „Darbys" (Handschellen) wird's wohl heute nicht gehen. Die Alte hat zwar noch einen Keller, aber es lohnt sich nicht, denselben zu betreten, da Sie einen ähnlichen noch heute zu sehen bekommen werden. Gute Nacht, Mutter." Wir waren wieder in der Gasse. Ich athmete tief auf.
Ich fragte den Détective, ob er sich denn gar nicht fürchte, derartige Höhlen allein zu besuchen. »So lange ich keine Verhaftungen vornehme, gehe ich allein. Es kommt ab und zu vor, daß sich einzelne Subjecte bei derartigen Nachsuchungen sehr widerspenstig zeigen; die Besonnenen des Gesindels würden ihm jedoch nie erlauben, sich an mir zu vergreifen, da sie allgemein der
 Ansicht sind, daß ich nur meine Pflicht zu thun habe.

(Fortsetzung folgt.)
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 30.07.2011 15:37 Uhr
Luxemburger Wort

15 November 1888

Wo das Laster weilt.

Spaziergänge mit einem englischen Detektive im Osten Londons.

(Fortsetzung.)

„Jetzt jedoch werbe ich mir Hülfe schaffen, weil wir eine jener Diebesküchen besuchen müssen, in denen es mitunter arge Schlägereien gibt, obgleich sich auch dort die Leute selten zu Handgreiflichkeiten gegen mich verleiten lassen," fuhr der Détective fort. Wir waren wieder in der offenen Straße; mein Begleiter gab einem vorübergehenden Polizisten einen geflüsterten Befehl; der Letztere trat hierauf in den Schatten und beobachtete die eiserne nach der Passage führende Gitterthüre. »Sollte das junge Mädchen dem rothen Johnson einen Wink geben, daß wir auf feiner Fährte sind, so werden wir dies in dem Vere Street Common Lodging House, wohin wir uns jetzt begeben, sofort erfahren. Ich werbe dem so eben dort stationirten Polizisten Beobachtungshülfe senben, so daß er dem Weibchen, falls es nothwendig wird, folgen und uns das Resultat berichten kann." Wir gingen,ein Jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, schweigend weiter. Der Détective schien feine Pläne zu machen, was ihn aber durchaus nicht davon abhielt, uns begegnende Personen scharf zu fixiren. Mich halte das Stück menschlichen Lebens, welches ich gesehen, die besinnungslose Versumpfung und die schamlose Frechheit der Weiber ernst gestimmt.
Der Détective gab mir keine weitere Zeit für moralische Betrachtung ; wir kamen über den Leicester Square. Das Leben, welches noch vor ein und einer halben Stunde dort geherrscht hatte, war einer tiefen Ruhe gewichen. Die Schritte eines Verspäteten hallten zwar noch auf dem Pflaster wieder, sonst war aber alles ruhig. „Sehen Sie, sehen Sie!" rief der Détective, „hier in
 der Nachbarschaft von Reichthum und Macht weilt das Elend auf der Gasse. Welch' ein Gemälde für einen wahren Maler!" Auf den Stufen der Alhambra, die
 wir vorher brillant erleuchtet gesehen, die aber jetzt in tiefem Dunkel lag, schliefen ungefähr zwanzig bis dreißig Personen: Männer, Frauen und Kinder. Ein junges Weib, mit einem Säugling im Arm, lag dort mit zufriedenem Ausdruck in ihren Gesichtszügen. Ja, der Schlaf ist der Freund der Armuth! Ein älterer Junge lehnte das Köpfchen an der Mutter Schooß und schnarchte
 vernehmlich ; ein Stückchen Brod hielt er in einer Hand, während die andere ein großes Zeitungsblatt krampfhaft festhielt, mit welchem er sich gegen die Nachtkälte geschützt hatte. Neben der Frau mit den Kindern lag eine alte Frau. Das aufgedunsene Gesicht erzählte ihre Geschichte getreuer, wie sie sie uns selber erzählt hätte. Ein Stiefelputzer hatte sich seinen Schemmel unter den Kopf geschoben und schlief unruhig. „Laßt mich doch schlafen, ich bin so müde," murmelte er erwachend. „Schlaf' zu, mein Junge," war die Antwort, „ich werde euch nicht forttreiben." Ein wenig weiter lag ein ältlicher Mann mit schneeweißem Haupte: die Kleider hingen ihm in Fetzen am Leibe; die Kälte ließ ihn im Schlafe zittern. „Er war einst ein gesuchter Arzt in York," theilte mir mein Begleiter mit; „Trunksucht und Laster haben ihn auf die Straße gebracht; aber er ist ehrlich; er hungert oder lebt von dem, was ihm die Armuth gibt; denn die Armen helfen sich unter einander. . . . „Warum gehen denn diese Leute nicht in das Workhouse (Albeits- oder Armen-Haus)", fragen Sie mich, fuhr der Détective fort. „Weil selbst in der ärmsten Seele der Stolz noch seine Keime aufgehen läßt. So lange wie man in den englischen Arbeitshäusern und Asylen für Obdachlose Armuth wie ein Verbrechen ansieht und ihr die Hilfe so hinwirft, wie dem Hunde den Knochen, so lange wird der Stolz der Armen der heutigen Gesellschaft zum Hohne die Gasse derartigen Anstalten vorziehen lassen." Es lag eine tiefe Bitterkeit in dem Tone, in welchem diese Worte gesprochen
 wurden. «Ich bin ein Beamter", fuhr der Détective bewegt fort, „aber ich bin ein Mensch und," auf die Kinder zeigend: „ich habe auch Kinder."
Wir gingen nach der Vere Street, Polizei Station, und von dort mit drei andern Détectives, die sich mein Begleiter als Deckung erbeten, nach der Vere Street, Oxford Street. Dies ist eine der Straßen, welche eine gewisse „Respectabilität" nicht verbergen kann, und die Charles Dickens wohl mit den Worten ,schäbig-vornehm" bezeichnet hätte. Die Häuser dort sind zweistöckig
 und dreistöckig, mit Kaufläden im Untergeschosse. Die meisten sind sogenannte „Caffeeshops", in denen man für wenige Pfennige eine Tasse Thee ober Kaffee erhalten kann, bei weder Mokka ist noch Mokka gesehen, aber desto mehr mit der Cichorienpflanze verwandt ist. Beinahe am Ende der Straße erheben sich Gebäube, in welchen Curiositätenhändler, Juweliere oder sogenannte Refiners (Ausbesserer) ihre Geschäftsstellen haben. Dieser letzte Theil ist durchaus anständig und Vertrauen einflößend: da unten aber, wo die Straße anfängt, ist es fürchterlich. Die Häuser dort dienen den unlautersten
 Zwecken, sind Schlupfwinkel für Leute, die den Tag scheuen, deren „Tag" in Wirklichkeit erst nach 12 Uhr Nachts beginnt. Vor einem dieser Gebäude blieben wir stehen.
"Wilson," befahl der Détective, „klopfen Sie ein Mal an."

Der mit diesem Namen Angeredete klopfte drei Mal in verschiedenen Zwischenräumen; die Thüre, an einer Sicherheitskette ruhend, öffnete sich zögernd, und eine weibliche Stimme fragte: „Wer ist da?"

„Polizei," war die Antwort, und die Thür öffnete sich unverzüglich.

„Viele Leute da?" fragte der Détective, der Pförtnerin, einem jungen Mädchen, welches sich schlaftrunken die Augen rieb, scharf in das Gesicht blickend.

Das Mädchen hielt den Blick aus und bemerkte ruhig: „So viele wie gewöhnlich, Offizier."

„Alle Schlafstellen besetzt?" war die weitere Frage.

„Mit Ausnahme von einer einzigen alle", war die
 Antwort.

„Wilson," wandte sich der Détective wieder an seinen Untergebenen, »Sie und Shaw besetzen den Keller, während ich das Haus untersuche. Die Hausthüre bleibt offen. Zwölf Mann werben in einer Minute draußen sein; wer sich widersetzt, wird festgehalten."
Wir begaben uns nach dem obern Stockwerk. Die Zimmer waren ziemlich rein und dem Aussehen nach erst kürzlich frisch gestrichen. In dem ersten Stock schliefen achtzehn Männer und Knaben, deren Schnarchen Todte in's Leben rufen konnte. Ein jedes Betttuch, mit welchem die Schläfer bedeckt waren, hatte verschiebeStempel, die alle die Worte trugen: Stolen from Vere Street Lodging House (Gestohlen aus dem Vere Street Gasthaus); die Bettstellen waren von Eisen, und die Fenster waren in der obern Hälfte geöffnet. Im zweiten Stockwerke, in welches wir uns hinauf begaben, bot sich uns derselbe Anblick, nur war ein einziges Bett unbesetzt. Ein Blick zeigte jedoch sofort, daß eine Person dasselbe bereits benutzt hatte. Der Détective weckte den nächsten Schläfer und fragte ihn: „Wo ist denn dein Nachbar?" „Ich wußte nicht, daß ich einen hatte," lautete die kurze Antwort. „Und wie sah er aus?' war die weitere plötzliche Frage, die den Gefragten, der doch von keinem Nachbar wissen wollte, überrumpelte. „Er hatte einen rothen Bart und hinkte." »Zum Kukuk," murmelte der Détective, „er ist fort; er muß einen
 Wink erhalten haben. Vielleicht ist er noch unten. Lassen Sie uns gehen."
Beim Licht der Blendlaterne und des schwachen Gaslichtes bemerkte ich, daß in den Gängen Waschtische an den Wänden sich befanden, an welchen Bürsten und
 Kämme mit dünnen Ketten befestigt waren. Durch die offene Straßenthüre konnte man die blaue Uniform der inzwischen angelangten Polizisten sehen; ein Wart mit
 dem Führer derselben und wir stiegen eine Hühnerstiege hinunter, die in einen Keller führte.

(Fortsetzung folgt.)
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 30.07.2011 15:38 Uhr
Luxemburger Wort

16 November 1888

Wo das Laster weilt.

Spaziergänge mit einem englischen Detektive im Osten Londons.

(Schluß.)

So reinlich der obere Theil des Hauses gehalten war, so schmutzig war der untere. Eine erstickende Luft, schwul und übelriechend, füllte die Treppenhöhlung aus. Ein kleines Licht in einer Laterne schien ironisch zu
 leuchten, da« Geländer war gebrochen. Ein Stoß mit dem Fuße, und eine schwere, hölzerne Thüre flog mit lautem Geräusch und Knarren auf; das war eine Art Präludium zu dem Höllenlärm, der in der „Küche" herrschte, die wir jetzt vor uns sahen.
Der Anblick, welcher sich meinen Augen bot, war abstoßend häßlich. Obgleich zwei oder drei schmutzige Lampen den Keller zu erleuchten suchten, kam dennoch das Hauptlicht nur aus einem großen Kamin, in welchem ein Kohlenfeuer flackerte. Die schlechte Ventilation trieb große Mengen Rauch zeitweise in den Keller, so daß das Auge erst nach einiger Zeit sich genauer orientiren
 konnte. Bänke und Tische zogen sich an den Wänden hin; im Halbkreise saßen acht Frauenzimmer und einige Kinder an dem Feuer. Einige rüsteten sogenannte Bloaters, eine Art geräucherte Häringe, Andere hielten eine lange Gabel in der Hand, an deren Ende sie ein Stück Käse brieten; wieder Andere kochten Thee oder Kaffee. Einige alte Weiber spornten die Kochenden fluchend zu
 größerer Eile an, da sie selbst mit ihren Töpfen zum Feuer wollten. An den Tischen, essend, trinkend und Karten spielend, saßen Männer jeden Alters, Greise und Jünglinge. Fast Allen sah man ihr Verbrecher-Dasein an; nur eine einzige Person zeigte edlere Züge. „Das ist der alte M., ein früher gesuchter Rechtsanwalt, der feiner Zeit 5000 Pfd. Sterl. Mündelgelder unterschlug. dafür sechs Jahre Zuchthaus bekam und ruinirt wurde. Seit seiner Entlassung ist er eine Art „Winkel-Advokat", theilte mir der Détective mit. „Er ist ein tüchtiger Jurist und gibt den Verbrechern Rathschläge, wie sie vor dem Richter sich zu benehmen haben, welche Aussicht sie und welche Strafe sie im Falle zu erwarten haben." Er war im eifrigen Gespräch mit einem Einbrecher beschäftigt, der ihn im Interesse eines Freundes um seinen richterlichen Rath ersuchte. „Ich sage dir, unter zehn Jahren kommt Ted nicht weg," hörte ich ihn sagen, „und es ist am besten, wenn er sich gleich schuldig bekennt. Er hat den Copper (Polizisten) stark verwundet und dienstunfähig gemacht, und Hawlins (ein von den Verbrechern seiner strengen Urtheile wegen sehr gehaßter und gefürchteter Richter) gibt dafür stets zehn
 Jahre." „Na, und die andere Sache, der Straßen-Unfall?" fragte der Einbrecher. „Ja, wenn sie ihm den beweisen können — was ich nicht glaube, weil Lizzie, die dabei war, nicht plaudern wird — dann wird wohl die neunschwänzige Katze ihm das Fell zerkratzen. Brrr." Als M. den Détective bemerkte, schüttelte er ihm die Hand und fragte vertraulich, aber spottend: „Wen suchen Sie denn heute?" „Nicht Sie," war die Antwort; „nehmen Sie sich nur in Acht, daß wir Sie nicht fassen. Kümmern Sie sich um Ihre Geschäfte und lassen Sie uns die unsern." „Geht zum Satan," erwiderte der Winkel-Advokat und zog sich an seinen alten Platz zurück.
Der Détective sah sich in der Zwischenzeit überall um und sprach auch mit verschiedenen Personen in scherzender Weise. Drei oder vier Personen fragten ihn: „Wollt ihr uns etwa heute holen?" — „Nein, nicht heute; ich werde euch noch früh genug bekommen," war die gutmüthig geäußerte Antwort, die ein schallendes Gelächter verursachte.
Durch die eben geschilderte Scene wurde meine Aufmerksamkeit einen Augenblick von einer Begebenheit abgelenkt, welche sich inzwischen in einer dunkelern Ecke zutrug, nahe einer kleinen Thüre, die in eine Kohlenkammer führte. Mehrere Weiber drückten sich an der Thüre herum, wo sie Platz nahmen und ab und zu ängstliche Blicke auf den Détective warfen, der sie nicht

zu sehen schien. Plötzlich blies eine Pfeife — drei uniformirte Polizisten standen im Augenblicke neben ihm, drei andere an der Thüre.

„Was hockt ihr denn da so zusammen, wie die Hennen!" fuhr der Détective die Weiber an. „Steht doch 'mal auf!"

Auch nicht eine einzige der Frauen rührte sich.

„Mach: keinen Unsinn," sprach der Détective überredend, „und steht auf; ich bin gern höflich gegen Damen, aber wenn ihr Schwierigkeiten macht, so mache ich keine weiteren Umstände. Also vorwärts!"
Dies wirkte. Die Frauenzimmer erhoben sich zögernd; der Détective öffnete die Thüre und brachte einen sich sträubenden und um sich schlagenden Bengel zum Vorschein, der, sobald er den einen Arm frei bekam, mit einem Fluche einem dort stehenden Mädchen einen furchtbaren Schlag gab, der sie zu Boden fällte. „Du hast mich hierher gelockt!" schrie er. Schneller, wie ich es
 hier beschreiben kann, lag auch er am Boden. Die Polizisten hatten sich auf ihn geworfen und hoben ihn nun, an Händen und Füßen gefesselt, auf.
Einen Augenblick schien es, als ob hier eine allgemeine Schlägerei entbrennen würde. Dies dauerte jedoch nur einen Augenblick; der Winkel-Advokat schrie mit Stentorstimme: „Seid ruhig; die Polizei muß ihre Pflicht thun." Nachdem der Skandal sich etwas gelegt hatte, wandte er sich an den jungen Einbrecher und gab ihm den Rath, ruhig mitzugehen, aber kein Wort zu
 reden, „denn," meinte er, „alles was du sagst, kann für und gegen dich gebraucht werden."
Das wirkte; die Anwesenden nahmen ihre Gespräche wieder auf und fuhren in ihren sonstigen Geschäften fort. Die Polizei untersuchte derweil den Keller, in welchem der Bursche gesteckt hatte, und fand eine Tasche mit Stemmeisen und andern Diebeswerkzeugen.

„Sobald er auf der Straße ist, könnt ihr ihm die Fußschellen abnehmen, wenn er sich ruhig benehmen will," befahl der Polizist, und dem Gefangenen auf die
 Schulter klopfend, sagte er: „Laß den Kopf nicht hängen, mein Junge; es wird nicht so schlimm werden. Wir nehmen dich mit, weil du in dem Besitz von Einbrech-Werkzeugen bist. Auf der Wache werden sie dir wohl auch noch sonst eine kleine Mittheilung machen; die Lizzie hat geplaudert."

Wir gingen die Stiege hinauf; die Polizisten folgten mit dem Burschen.
„Einen guten Fang haben wir gemacht; es thut mir leid um den Jungen, aber sie werden ihm wohl die Katze auflegen, und ihn für zehn Jahre festhalten. Er
 hat einen Polizisten beinahe ermordet, und die That ist zweifellos. . . . Haben Sie die kleinen Kinder in der Küche bemerkt? Sie leben mit der Sünde und dem Verbrechen, wissen weder was Heimath noch Elternliebe heißt, werden zum Stehlen angehalten, und das ist die Ursache, weshalb wir so viele jugendliche Verbrecher haben. Doch da ist mein Posten aus Long Aere. Nun?"
 wandte er sich an den Kommenden.
„Die lange Annie ist nach Westminster gegangen; ich habe dorthin telegraphirt und einen Mann hinter ihr hergesandt."

„Nehmt den Gefangenen mit zur Wache," sagte «ein Begleiter; „er soll dort bleiben, bis ich von Westminster komme. Ich glaube, wir haben unsern Mann. Wollen Sie mitkommen?"
Ich bejahte die Frage, und wenige Minuten später saßen wir und zwei Polizisten in einem geschlossenen Cab, das uns in kurzer Zeit nach der Westminster-Brücke brachte, woselbst wir ausstiegen, um in Zwischenräumen zu Fuß über die Brücke zu wandeln. Es war 2 Uhr Nachts. Das Parlament verhandelte noch über irgend eine irische Debatte, und die sogenannte „Division Lamp", eine am großen Thurme angebrachte Lampe, die dem Volke anzeigt, daß seine Gesetzgeber noch wachen und mit stundenlangen Reden die Zeit ausfüllen, strahlte mit voller Macht. Wir sahen die Lampe erlöschen; Carossen und Droschken brachten die Herren nach ihm Wohnungen, und der Platz war bald verlassen und einsam. Einer der Polizisten kam zurück und meldete, daß die lange Annie in der Nachbarschaft des Quensgate-Gebäudes, eine Alt Hotel Garni für Parlamentarier, gesehen worden sei. Der Détective trat in das Parlament und kam, von mehrern Amtsgenossen begleitet, zurück. Wir gingen nun über den Parlamentsplatz, auf welchen die im Mondscheine gespenstig aussehende Westminster-Abtei gigantische Schatten warf, und wandten uns dann die Viktoria-Street hinunter. Auf den Stufen des Aquariums sahen wir dasselbe Leidensbild, welches uns im Leicester Square so erschüttert hatte: Obdachlose, deren Heimath das Pflaster und deren Ende
 — der Obductionssaal eines Hospital» ist.
Eine kurze Querstraße brachte uns nach der St. James-Park-Station, gegenüber welcher eine Anzahl kleiner Häuser sich befindet, deren Thore in schmutzige
 Gänge führen. Zwei dort stationirte Polizisten theilten dem Détective mit, daß ein Mädchen, auf welches die ihnen gegebene Beschreibung der Annie passe, vor 20 Minuten in eines der Häuser eingetreten sei; sie wohnte dort nicht regelmäßig, sei ihnen jedoch als gelegentliche Besucherin bekannt. Wir betraten die uns genannte Gasse: Schmutz und Unrath, wie in der früher besuchten Gasse, zerbrochene Fensterscheiben, baufällige Häuser, morsche Thüren. Aus einem der Schlupfwinkel trat ein schöner wohlgebauter Mann; die Uniform mit den Buchstaben S.A. (Salvation Army), Heils-Armee, zeigte, daß wir es mit einem der wenigen Leute zu thun hatten, deren Mission die Belehrung der schlimmsten Gesellschaft ist, die sich bei aller Exaltirtheit ihres Wesens doch ohne Furcht und Zagen in die ärgsten Winkel wagen, um dort ihrem guten Welle nachzugehen. Dunkeles Haar bedeckte fein Haupt, während aus dem bleichen Antlitze zwei Augen düster blickten. Er schien kein Glück gehabt zu haben und auch Mißhandlungen von den rohen Patronen erlitten zu haben, denn der Bart war zerzaust, und die Uniform aufgerissen. „Herr, erbanne dich der armen Sünder, erleuchte sie, auf daß sie Dein werden, Gloria, Halleluja," betete er vernehmlich und schickte sich an den Hof zu verlassen, ohne uns zu beachten. „Kämpen des Lichtes, die aus der Nacht den
 Tag machen wollen," sagte der Détective. „Man sollte die Heilsarmee nicht ganz verdammen; sie thut trotz aller Schnurrpfeifereien viele gute Werke." Wir betraten das Haus. Todtenstille herrschte in demselben. Plötzlich huschte ein Weibsbild aus einem der Zimmer und rannte nach oben; eine Thüre im letzten Stock fiel lärmend in's Schloß. Wir stürmten die dunkele Treppe hinauf, die nur von unsern Blendlaternen erleuchtet wurde, und erbrachen die Thüre, welche ein schwerer Tisch verbarricadirte. Die lange Annie und eine alte Frau waren im Zimmer, das Fenster stand offen, ein Strick, welcher an demselben befestigt war, besagte, was vorgegangen. Der rothe Johnson war entflohen. Die lange Annie meinte höhnisch: ,I wish you may get him" (Ich wünschte, ihr möchtet ihn kriegen). „Verhaftet die Beiden," befahl der Detective und stürzte dann an's Fenster. »Da ist der Hallunke!" rief er wieder, „ihm nach!" Eine schrille Pfeife tönte von unten; es kam Hülfe. Der Détective sprang auf ein niedriges Dach hinaus. Plötzlich vernahmen mir ein klirrendes Geräusch und einen schweren Fall. Der Détective war verschwunden; er hatte Johnson, der über mehrere niedrige Schuppen flüchtete, gepackt und
 war mit ihm durch ein Lichtfenster gefallen, welches eine Schneiderwerkstätte durch Oberlicht erleuchtete. Ich lief mit dem Polizisten die Treppe hinunter. Als wir in der Gasse anlangten, sahen wir den Détective blutüberströmt aus einem Laden treten.
„Hurrah!" rief er, „wir haben ihn. Bringt ein Tragebrett aus dem Weftminfter-Hospital. Der Mensch ist arg verwundet und hat sich das Bein gebrochen." Die Gasse belebte sich im Augenblick. Keiner der Bewohner hatte besonderes Mitleid mit dem rothen Johnson, der als wüster Cumpan bekannt war. Die Verwundungen des Detectivs waren nicht schwer. Bald kam eine Tragbahre, die Polizisten hoben den stöhnenden Verbrecher sorgsam auf dieselbe und trugen ihn nach dem Hospital. Die dem dicken Herrn durch Beihülfe der Annie gestohlene Uhr fand sich unter einer Matratze versteckt im Hause vor. Johnson leugnete die That keineswegs, behauptete aber, daß die lange Annie
 nichts von dem Diebstahl wisse. Nachdem ein Arzt des Détectives Wunden als unbedenklich erklärt hatte, begaben wir uns in einem Wagen nach der Vere Street Polizei Station, woselbst der Détective seinen Bericht zu machen gedachte. Auf dem Wege dorthin erzählte er mir, was auf dem Dache vorgegangen war. Der rothe Johnson habe sich hinter einem Schornstein verschanzt, von woher er ihn, den Détective, mit Dachsteinen beworfen. Er sei daher sofort auf ihn losgesprungen, da er wußte, daß Hülfe in der Nähe sei. Bei dem Ringen verlor der Flüchtling das Gleichgewicht und riß ihn
 mit sich durch das Fenster. Nur der Thatsache, daß er auf den rothen Johnson gefallen, hatte er seine leichten Verletzungen zu danken.
In der Polizei-Station fanden sich die verschiedenen Arrestanten und außerdem der alte Herr, dem die Uhr gestohlen wurde. Mit der langen Annie confrontirt, konnte er dieselbe nicht erkennen, so daß dieselbe entlassen werden mußte. Daß der rothe Johnson der Dieb war, wollte er erst nicht glauben; nach längerem Gesprach gab er die Möglichkeit jedoch zu.
Ich verabschiedete mich von meinem Führer, indem ich ihn zu den beiden Verhaftungen beglückwünschte. Erw»ehrte meine Complimente ab und versprach mir, zu schreiben, wenn der rothe Johnson vor den Richter kommen würde.

Nach Verlauf von beinahe sechs Monaten erhielt ich eine Postkarte, die folgendermaßen lautete : „Bitte, seien Sie heute in der Old Baily; der rothe Johnson hat sich schuldig bekannt und wird heute abgeurtheilt werden.' Ich fand mich zur rechten Stunde ein. Eine Mörder-Verhandlung, die mit der Verurtheilung des Angeklagten zum Tode durch den Strang geendet hatte, war eben beendet. Mir gellte noch die alte Formel in den Ohren, mit welcher Verbrecher hier zum Tobe verurtheilt werden. Der Richter befahl, den Angeklagten vorführen zu lassen. Dieser sah blaß und krank aus und ging noch auf Krücken. Da der Detective betonte, daß Johnson sich nur durch Flucht entziehen wollte und nicht mehr Gewalt gegen ihn gebraucht habe, wie es die Umstände ihm eingaben, so kam er, da der Richter sein gebrochenes Bein berücksichtigte, mit 15 Monaten davon, die er, wie ich später hörte, teilweise im Hospital verbrachte. Als ich mich vom Détective verabschiedete, kam ein weinendes Frauenzimmer auf uns zu; sie weinte um den rothen Johnson, der doch so krank und elend ausgesehen habe. Sie schluchzte krampfhaft: »Er war mir gut, er war mir gut." Nach einigen Trostworten wandte sich der Détective an mich und sprach einst: „Wer weiß, was die lange Annie und
 der rothe Johnson geworden wären, hätte ein liebend Mutterherz sie bewacht und erzogen. Sie sind eben Kinder der Gasse."

Wir schieden in ernster Stimmung in Ludgate Hill. Vor Wolff's Conditorei standen zwei schön geputzte, zierliche Kinder mit ihrer Bonne, die sehnsüchtig nach den dort ausliegenden Leckerbissen blickten. Eine Kutsche
 deren Verschlag eine Krone zeigte, hatte die Kleinen hergeführt. Ich dachte an die weichen Netten der Kleinen und an das harte Pflaster des Leicester Square und ging in ernsten Gedanken nach Hause. Rollo.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Southwark am 31.07.2011 21:11 Uhr
Luxemburger Wort
13 September 1889
.....................Der Vorsitzende bei Wachsamkeitsausschusses, Albert Backot [Bachert], zweifelt nicht daran, daß der Mörder in Whitechapel wohnt, dessen Nebengäßchen er genau kennt. Er glaubt sogar, daß der Unhold sich in einem der naheliegenden Häuser befand, als die Leiche des ermordeten Frauenzimmers gefunden wurde....................

Wer ist eigentlich dieser Albert Backot .(Anschliessend immer Herr Backert im Text genannt)
Ist das der Nachfolger von Mr Lusk ?

Der Name war mir bis jetzt nicht bekannt  :unknown:
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Craddock am 31.07.2011 21:19 Uhr
Zitat von: Southwark
Wer ist eigentlich dieser Albert Backot .(Anschliessend immer Herr Backert im Text genannt)
Ist das der Nachfolger von Mr Lusk ?

Weiß man nicht so genau, falls es der ist, den ich jetzt vermute. Der Typ war entweder Lusks Nachfolger, oder hat, nachdem das ursprüngliche Kommitee aufgelöst wurde, einfach sein eigenes gegründet. Wie gesagt, falls es der ist, den ich meine. Er scheint auch der Polizei immer wieder entsprechend auf die Nerven gegangen zu sein, brachte Vorschläge ein, nach denen ihn niemand gefragt hatte und so weiter. Ob er jetzt einfach ein besorgter Bürger oder ein geltungssüchtiger Typ mit Hang zu einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, lasse ich mal dahingestellt. Casebook hat eine Seite über ihn (Hier: Albert Backert (http://www.casebook.org/ripper_media/book_reviews/non-fiction/castofthousands.albert-backert.html).

Ich bin grad mit etwas andrem beschäftigt, sonst würd ich mir das selbst mal durchlesen und eventuell ein paar Infos posten. Mal sehen, vielleicht komm ich in den nächsten Tagen dazu...

Übrigens danke für die Artikel, Shadow. :D
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 31.07.2011 21:31 Uhr
Hallo Craddock, hallo Southwark,

es handelt sich um eben jenen Albert Bachert oder Backert, über den der casebook-Artikel geht. Er war der bunte Hund von Whitechapel, ein Wichtigtuer vor dem Herrn, und alles in allem wohl ein ziemlich nerviger Typ. Wenn ich es richtig überschaue, war Bachert Vorsitzender der Whitechapel Vigilance Society, während Lusk Vorsitzender des Whitechapel Vigilance Committee war. Inwiefern oder ob überhaupt diese beiden Organisationen etwas miteinander zu tun hatten, weiß ich leider nicht.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Anirahtak am 01.08.2011 02:00 Uhr
Dankeschön, Shadow Ghost, sehr interessant. :)

Zitat
Luxemburger Wort

15 November 1888

[...]

Mich halte das Stück menschlichen Lebens, welches ich gesehen, die besinnungslose Versumpfung und die schamlose Frechheit der Weiber ernst gestimmt.
Jau, das erinnert mich an die letzten überlieferten Worte Catherine Eddowes': "Goodnight, old cock." Sähe ich sowas in einem Film, würde ich denken, das sei klischeehafter Mist - wer redet denn schon so mit einem Polizisten, der einen obendrein gerade aus einer Zelle rauslässt...? Aber scheint wohl doch ein grober Umgang auf allen Ebenen gewesen zu sein.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Shadow Ghost am 01.08.2011 22:08 Uhr
Ich merke gerade, dass an der ein oder anderen Stelle doch noch ein kleines Fehlerteufelchen sitzt; tut mir echt leid, aber ich dachte, wenn die Luxemburger schon OCR anbieten, sollte ich das auch nutzen. Leider habe ich dann wohl nicht alle Fehler korrigieren können. Ich hoffe, die Texte sind dennoch verständlich.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Anirahtak am 02.08.2011 00:01 Uhr
Kein Problem, alles sehr gut verständlich.
Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Southwark am 03.08.2011 21:23 Uhr
Zitat von: Southwark
Wer ist eigentlich dieser Albert Backot .(Anschliessend immer Herr Backert im Text genannt)
Ist das der Nachfolger von Mr Lusk ?

 Casebook hat eine Seite über ihn (Hier: Albert Backert (http://www.casebook.org/ripper_media/book_reviews/non-fiction/castofthousands.albert-backert.html)......
Übrigens danke für die Artikel, Shadow. :D

Vielen Dank fuer den Link.
Interessante Persönlichkeit dieser Backert.

Vielen Dank auch an dich Shadow Ghost fuer die Einstellung dieser Artikel.  :good:
Hätte nicht gedacht dass diese Zeitung soviel ueber den Ripper damals gebracht hat.



Titel: Re: Luxemburger Wort
Beitrag von: Stordfield am 07.08.2011 16:59 Uhr
Danke Shadow!!!