Autor Thema: Luxemburger Wort  (Gelesen 36634 mal)

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Re: Luxemburger Wort
« Antwort #30 am: 29.07.2011 21:33 Uhr »
Luxemburger Wort
7 Juli 1891
London, 30. Juni. Der Vorsitzende des Whitechapeler Vigilanzausschusses schreibt: „Ich habe wieder einen Brief empfangen, welcher in demselben Stil verfaßt und unterzeichnet ist, wie die Briefe, welche mir vor einigen der letzten Frauenmorde zugegangen sind. Das Schreiben hat folgenden Wortlaut: „Georges Yard, Whitechapel. Ich stehe im Begriff, meine Operationen in kurzer Zeit in dieser Nachbarschaft wieder aufzunehmen. Sollten Sie ober Ihre Höllengesellschaft nur den geringsten Versuch unternehmen, meinen Aufenthaltsort zu ermitteln, werde ich, so helfe mir Gott, Ihr Herz mit einem Messer durchbohren. Hütet Euch also, hört auf meine Warnung und laßt mich allein. Möge die Polizei mich fangen, wenn sie kann. Ich bemitleide sie jedoch, da ich mich lebend nie ergeben werbe. Zweimal hätte man mich beinahe gefangen. Ergebenst Jack the Ripper. (G.W.B. sind meine Anfangsbuchstaben)." Herr Backert hat den Brief der Polizei eingehändigt.

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Re: Luxemburger Wort
« Antwort #31 am: 29.07.2011 21:34 Uhr »
Luxemburger Wort
29 März 1892
Melbourne, 26. März. Der Mörder Deeming, welcher der Ermordung seiner Frau bei Melbourne, wie der Ermordung seiner ersten Frau und seiner vier Kinder in Rainhill bei Liverpool angeklagt ist, gestand, laut einer Blättermeldung, die Rainhillmorde sowie die zwei letzten Morde in Whitechapel.

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Re: Luxemburger Wort
« Antwort #32 am: 29.07.2011 21:34 Uhr »
Luxemburger Wort
4 April 1892
Neues vom Massenmörder Deeming. In dem in Perth in Westaustralien verhafteten Deeming, mit seinem Dutzend anderer Namen, ist offenbar einer der gefährlichsten Verbrecher dingfest gemacht worden. Jeder Tag bringt neue „Großthaten“ dieses Massenmörders, Schwindlers und Betrügers an's Licht, die es ganz unbegreiflich erscheinen lassen, wie er so lange sein Handwerk betreiben konnte, ohne in die Hände der strafenden Gerechtigkeit gefallen zu sein. Die ursprüngliche Vermuthung. daß Deeming mit den Whitechapeler Morden in Verbindung stehe, ist durch ein Geständniß es Verbrechers bestätigt worden, welches er am Samstag in Perth seinem Rechtebeistand und später auch einem Polizeibeamten gegenüber abgelegt hat. Deeming hat nicht nur den an seiner Frau und seinen vier Kindern in Rainhill begangenen Mord eingestanden, sondern sich auch als Thäter der letzten zwei, Jack dem Aufschlitzer zugeschriebenen Whitechapeler Morde bekannt. Da nun der letzte der sogenannten „Whitechapeler Morde", der am 13. Februar d.J. [sic] begangen wurde, nicht mit Gewißheit auf Jack's Conto gesetzt wird, müßte also Deeming den achten und neunten Mord auf dem Gewissen haben. (Mary Kelly ward am 9. November 1888 in Dosset Street, Alice McKenzie am 17. Juli 1889 in Castle Alley umgebracht.) Im Februar 1891 verbüßte Deeming eine ihm zugemessene Strafe, zu welcher er wegen verschiedener in Beverley verübten Schwindeleien verurtheilt war.
Ist es nun Prahlerei Deeming's, daß er sich die zwei letzten Whilechapel-Morde zuschreibt, oder spricht er die Wahrheit? Auffallend ist. daß bei der Entdeckung der Leichen in Ralnhill sofort die Bemerkung gemacht wurde, daß der Schnitt durch den Hals bei jedem Opfer auffallend an die von Jack geübte Methode erinnerte; dieser Umstand gab zuerst zu der Vermuthung Veranlassung, daß man es mit dem so lange vergeblich gesuchten Whltechapel-Mörder zu thun habe. Auch die Leiche der Frau Deeming war ähnlich verstümmelt, wie die Leiche der Kelly und anderer der abgeschlachteten unglückseligen Frauenzimmer, und dies spricht für die Annahme, daß Deeming's Geständnis, auf Wahrheit beruht. Ein weiterer verdächtiger Umstand ist, daß Deeming vom April 1888, wo der erste Mord verübt ward, bis gegen Mitte November desselben Jahres für alle Welt verschollen war. Nach dem Morde der Kelly war jedoch die Polizei auf der Spur des Mörders, und da tauchte Deeming plötzlich bei feiner Familie in Birkenhead auf und schiffte sich alsbald nach Australien ein. Im Juli 1889 kehrte er zurück, landete in London, und zwei Tage später wurde Alice Mc Kenzie ermordet in der Straße aufgefunden. Der Mörder hatte aber nicht Zeit gefunden, eine Verstümmelung an der Leiche vorzunehmen; die Polizei war zu wachsam geworden, und er mußte es selbst als ein Wunder betrachten, daß er bei der Verübung der That nicht in deren Hände gefallen. Aber sie hatte ihn verscheucht, und Jack der Aufschlitzer hatte anscheinend London verlassen.
Dies fällt auffälliger Weise mit der Rückkehr Deeming's nach Birkenhead zusammen, uns es fragt sich nun, wenn er die zwei Morde zugestanden, ob er nicht auch die anderen sieben Morde auf seinem weiten Gewissen hat? Gerade während der Zeit der Ripper-Morde war er für alle Welt verschollen. Warum sollte er nicht in London gewesen sein? Er hat bisher nicht nachgewiesen, wo er sich da aufgehalten, und nach dem Urtheil der Sachverständigen waren alle Morde von derselben Hand und mit einem haarscharfen Messer vollführt. Deeming besaß nun ein gekrümmtes Messer mit elfenbeinernem Griff und in einer kunstreich geschnitzten Scheide aus Nilpferdhaut, welches er vom König Ketsdurayo erworben haben will. Es war unstreitig „echt afrikanische" Arbeit, die Klinge war von vortrefflichem Stahl und scharf, wie ein Rasirmesser. Deeming führte es immer bei sich und zeigte es vielen Personen mit der Bemerkung, daß dieses Messer wunderbare Geschichten erzählen könnte. Es war offenbar das Werkzeug des Massenmörders, der Armen das Leben und Reichen das Geld abnahm. Die bisher bekannt gewordenen Betrügereien, Diebstähle und Schwindeleien Deemings würden schon einen beträchtlichen Band füllen, der eine ganz interessante Lecture abgeben würde.
Seinen Hauptfischzug machte er in Südafrika, namentlich auf den Diamantfeldern, in Johannesburg und der Kapstadt. Wildfremd kam er dort als Mr. Smilh an und gewann binnen einigen Wochen das unbedingte Vertrauen von einigen Juwelieren und Diamantenhändlern, hie ihm Gold und Edelsteine zum Verkauf in der Capstadt im Werthe mehrerer taufend Pfund übergaben. Natürlich sahen sie von diesen und von „Mr. Smith" nichts wieder; aber nicht genug daran, schwinbelte er einem derselben durch Fälschung von Telegrammen 2300 Pfund und der Bank von Südafrika, bei der er sich mit gefälschten Papieren als Vertreter angesehener Firmen und als Besitzer weiter Länderstrecken in Natal legitimirte, 3800 Pfund ab. Sein viermonatlicher Besuch der südafrikanischen Colonie trug ihm, so viel bisher bekannt, über 8000 Pfund ein, und wahrscheinlich ist er auch der Dieb einer werthvollen Diamantensendung. Augenblicklich befindet sich Deeming auf dem Wege von Perth nach Melbourne, wohin er in Kelten überführt wird.

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Re: Luxemburger Wort
« Antwort #33 am: 30.07.2011 15:36 Uhr »
Hier noch die restlichen Teile der Reportage "Wo das Laster weilt" vom 13 November 1888.

14 November 1888

Wo das Laster weilt.

Spaziergänge mit einem englischen Detektive im Osten Londons


(Fortsetzung.)

In der Gasse herrschte aber eine unsägliche Aufregung. Zwei Megären, die einer unbedeutenden Sache wegen in Streit gerathen waren, regalirten sich gegenseitig mit den schlimmsten Schimpfworten und Faustschlägen, während ein dankbares Publicum, aus den Einwohnern des Platzes bestehend, durch laute Zurufe sie zu weitern Heldenthaten zu begeistern suchte. Dies gelang auch in so fern, als die streitenden Parteien nach einer Kunstpause, in welcher sie Athen, schöpften, den Kampf mit erneuten Kräften aufnahmen, bis endlich eine Hünengestalt von einem Weibe sich gegen die Neigung der Zuschauer zwischen die Kämpfenden warf und sie mit den Worten trennte: „Ihr blutigen Narren,
 wollt wohl wieder ein Mal drei Monate am Waschfaß im Arbeitshaus« zubringen? Da sind die Coppers!« (ein Spitzname der englischen Polizei). Diese Ankündigung wirkte; die meisten der Anwesenden traten schnell in die Häuser, während die beiden Zankenden sich die Hände schüttelten, und mit einem Schluck ©in, den sie aus einer nicht sehr reinlichen Flasche tranken, den Frieden besiegelten.
„Gewöhnliche Scenen," sagte mein Begleiter trocken.„So lange wie sich die Gesellschaft auf ihrem eigenen Boden streitet, mischen wir uns selten ein. Höchstens gibt es ein blaues Auge, und da die Weiber hier nicht besonders hübsch sind, entstellt es auch ihre Schönheit nicht. Doch wir sind zur Stelle." Wir betraten ein häßlich aussehendes Haus in der Gasse. Am Eingange
 saß ein alles Frauenzimmer, dessen harte, abschreckende Gesichtszüge Laster und Schande verriethen; sie hatte, wie mir der Detective später erzählte, ein wildbewegtes Leben hinter sich und war jahrelang in den englischen
 Strafanstalten ein oft gesehener Stammgast. Seit sechs Jahren hielt sie jedoch eine Diebesküche, in welcher die gefährlichsten Subjecte verkehrten. Da sie sich sonst nichts zu Schulden kommen liefe, so kümmerte sich die
 Polizei nicht viel um sie, weil wohlgefühlte Diebesdüchen den Behörden aus leicht verstehlichen Gründen nicht unangenehm sind. Sie war der Cerberus des „Etablissements" und lieh Niemanden herein, der ihr nicht erst drei Pence für die Benutzung des Locals mit Schlafstelle ausgehändigt hatte. Auf einem kleinen Tische neben ihr stand eine Petroleumlampe, der schwarze angerauchte
 Cylinder ließ nur ein schwaches Licht auf die Umgebung fallen; auch eine Flasche Gin fehlte nicht. Ihrem rothen Gesichte nach zu urtheilen, mußte die Alte derselben häufig zugesprochen haben. Den Détective und mich begrüßte sie mit einem Grunzen, das eben so gut ein Fluch wie ein Segensspruch sein konnte, eine Analyse, die mir zur Zeit ziemlich schwierig vorkam, und
 die ich deshalb auch nicht unternahm.
Ohne eine weitere Bemerkung betrat der Détective, von der Alten gefolgt, das Vorderzimmer, anscheinend ihr Privatgemach. Ein großes Bett füllte die Mitte
 aus, ein Tisch mit Kochgeräthen und zwei Stühlen waren das weitere Mobiliar; auf einem Stuhle lag eine Bibel. "Ihr habt kein Recht, in mein Privatzimmer hineinzugehen," sprach jetzt die Alte in zorniger Erregung; „ich bin eine Dame." „Aergert Euch nur nicht," antwortete der Détective, „ich will bloß 'mal nachsehen, ob Ihr wieder ein Mal Jemanden unter Euerm Bette stecken habt. Das könnte Euerm guten Rufe schaben, und da wir alte Freunde sind, so würde ich mich darob grämen." Eine Salve von Schimpfwörtern und Flüchen folgte dieser scherzhaften Bemerkung. Der Détective nahm sie eben so gleichgültig hin wie ein Elephant Mückenstiche. Er blickte unter das Bett und
 fand nichts. Nachdem ihm die Alte noch den frommen Wunsch nachgesandt hatte, daß er sich das Genick und andere wichtige Glieder des menschlichen Körpers brechen möge, begaben wir uns hinauf nach dem ersten Stock. Eine schlechte Treppe von achtzehn Stufen, die unter unsern Sohlen trachten und quiekten, ein wackeliges Geländer und keinerlei Beleuchtung machten es schwierig für uns, den ersten Stock zu erreichen. Oben angelangt, fiel ich über einen Betrunkenen, der dort feinen Rausch ausschlief, gegen eine Thüre, die mit lautem Krachen aufflog. „Sachte, sachte," mahnte der Détective, und „Halloh, Gentlemen!" redete er die in dem Zimmer befindliche Gesellschaft an. "Wie geht's euch? Hab' euch schon lange nicht besucht." Die Verwirrung, welche unserm Eintritt folgte, ist nicht zu beschreiben. Ein großer vierschrötiger Bursche von ungefähr 25 Jahren warf sich über den Tisch, um das auf demselben befindliche Geld nebst den Karten — denn die Gesellschaft war
 beim Kartenspiele beschäftigt — einzuheimsen, während drei oder vier Frauenzimmer, vom übermäßigen Alkoholgenuß angefeuert, sich dem Détective mit lautem Kreischen und Verwünschungen entgegenwarfen. Kaltblütig ließ der Beamte feine Augen über die Gesellschaft schweifen, warf die sich um ihn Drängenden mit starker Faust zurück und rief: »Seid doch nur ruhig;
 ich such' Keinen von euch. Spielt ruhig weiter und nehmt mir's nicht übel, daß ich euch gestört habe." Sobald es ruhiger wurde, setzte er sich auf einen wackeligen Stuhl und fragte den großen Burschen: „Thompson, wo wohnst du denn jetzt?" „Geh und finde das selber heraus," brüllte der Angesprochene.
 „Einstecken könnt Ihr mich heute noch nicht; ich bin unter Polizei-Aufsicht, und die "Jecks" (Détectives) in Olb Street kennen meine Wohnung. Könnt Ihr denn niemals einen Menschen ein ehrliches Leben einschlagen lassen?" Der Détective wandte sich und sagte: „Ich wünsche euch einen recht guten Abend."
Wir verließen nach diesen Worten die Stube und kletterten eine Leiter hinauf, die nach der Dachkammer führte. Diese war zum Schlafen eingerichtet; 16 Personen waren in einem Zimmer, welches zu klein war, sechs zu fassen. Ein Taglicht warf feinen matten Schimmer auf die Bewohner. Sechs Mädchen saßen im Kreise und hörten einem siebenten zu, welches, eben aus der Millbank Penitentiary entlassen, Nachrichten über Bekannte brachte. — „Sarah ist im Waschhause, und Janet muß Strümpfe sticken. Lizzie ist krank im Hospital, sie hat dem dummen Esel von einem Doctor Blut vorgespuckt." Die Gesellschaft lachte in der kreischenden Weise, die in derartigen Kreisen üblich ist. sobald die Erzählerin den Détective, der sich in der Zwischenzeit schnell umgesehen hatte, gewahrte, sprang sie auf ihn zu und küßte den sich ihrer Erwehrenden herzlich auf die Backen. ,Du, Lump. Hast mir drei Monate eingebracht; aber ich bin dir nicht böse dafür, es ist gar nicht so schlimm, so lange man bloß zu plätten hat." — Nach dieser Liebesbezeugung fragte sie — die lange Annie hieß sie — ihn ruhig: „Wen suchst du denn heute, mein Herzchen?" Da sie keine Antwort bekam, fuhr sie ruhig in ihrem Gespräche fort und kümmerte sich nicht weiter um uns. Wir verliehen die erstickende Atmosphäre und suchten unsern Weg der Gasse zurück.
„Das Frauenzimmer," flüsterte der Détective, weiß um den Diebstahl, und es sollte mich gar nicht wundern, wenn sie in einigen Minuten das Haus verläßt, um dem rothen Johnson einen Wink zu geben. Ich sah sie drei ober vier Mal während des Abends in der Nachbarschaft von Piccabilly. Jetzt heißt's aufpasse; ich muß aber Hülfe haben, denn der Kerl ist ein desperater Schurke, und ohne die „Darbys" (Handschellen) wird's wohl heute nicht gehen. Die Alte hat zwar noch einen Keller, aber es lohnt sich nicht, denselben zu betreten, da Sie einen ähnlichen noch heute zu sehen bekommen werden. Gute Nacht, Mutter." Wir waren wieder in der Gasse. Ich athmete tief auf.
Ich fragte den Détective, ob er sich denn gar nicht fürchte, derartige Höhlen allein zu besuchen. »So lange ich keine Verhaftungen vornehme, gehe ich allein. Es kommt ab und zu vor, daß sich einzelne Subjecte bei derartigen Nachsuchungen sehr widerspenstig zeigen; die Besonnenen des Gesindels würden ihm jedoch nie erlauben, sich an mir zu vergreifen, da sie allgemein der
 Ansicht sind, daß ich nur meine Pflicht zu thun habe.

(Fortsetzung folgt.)

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Re: Luxemburger Wort
« Antwort #34 am: 30.07.2011 15:37 Uhr »
Luxemburger Wort

15 November 1888

Wo das Laster weilt.

Spaziergänge mit einem englischen Detektive im Osten Londons.

(Fortsetzung.)

„Jetzt jedoch werbe ich mir Hülfe schaffen, weil wir eine jener Diebesküchen besuchen müssen, in denen es mitunter arge Schlägereien gibt, obgleich sich auch dort die Leute selten zu Handgreiflichkeiten gegen mich verleiten lassen," fuhr der Détective fort. Wir waren wieder in der offenen Straße; mein Begleiter gab einem vorübergehenden Polizisten einen geflüsterten Befehl; der Letztere trat hierauf in den Schatten und beobachtete die eiserne nach der Passage führende Gitterthüre. »Sollte das junge Mädchen dem rothen Johnson einen Wink geben, daß wir auf feiner Fährte sind, so werden wir dies in dem Vere Street Common Lodging House, wohin wir uns jetzt begeben, sofort erfahren. Ich werbe dem so eben dort stationirten Polizisten Beobachtungshülfe senben, so daß er dem Weibchen, falls es nothwendig wird, folgen und uns das Resultat berichten kann." Wir gingen,ein Jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, schweigend weiter. Der Détective schien feine Pläne zu machen, was ihn aber durchaus nicht davon abhielt, uns begegnende Personen scharf zu fixiren. Mich halte das Stück menschlichen Lebens, welches ich gesehen, die besinnungslose Versumpfung und die schamlose Frechheit der Weiber ernst gestimmt.
Der Détective gab mir keine weitere Zeit für moralische Betrachtung ; wir kamen über den Leicester Square. Das Leben, welches noch vor ein und einer halben Stunde dort geherrscht hatte, war einer tiefen Ruhe gewichen. Die Schritte eines Verspäteten hallten zwar noch auf dem Pflaster wieder, sonst war aber alles ruhig. „Sehen Sie, sehen Sie!" rief der Détective, „hier in
 der Nachbarschaft von Reichthum und Macht weilt das Elend auf der Gasse. Welch' ein Gemälde für einen wahren Maler!" Auf den Stufen der Alhambra, die
 wir vorher brillant erleuchtet gesehen, die aber jetzt in tiefem Dunkel lag, schliefen ungefähr zwanzig bis dreißig Personen: Männer, Frauen und Kinder. Ein junges Weib, mit einem Säugling im Arm, lag dort mit zufriedenem Ausdruck in ihren Gesichtszügen. Ja, der Schlaf ist der Freund der Armuth! Ein älterer Junge lehnte das Köpfchen an der Mutter Schooß und schnarchte
 vernehmlich ; ein Stückchen Brod hielt er in einer Hand, während die andere ein großes Zeitungsblatt krampfhaft festhielt, mit welchem er sich gegen die Nachtkälte geschützt hatte. Neben der Frau mit den Kindern lag eine alte Frau. Das aufgedunsene Gesicht erzählte ihre Geschichte getreuer, wie sie sie uns selber erzählt hätte. Ein Stiefelputzer hatte sich seinen Schemmel unter den Kopf geschoben und schlief unruhig. „Laßt mich doch schlafen, ich bin so müde," murmelte er erwachend. „Schlaf' zu, mein Junge," war die Antwort, „ich werde euch nicht forttreiben." Ein wenig weiter lag ein ältlicher Mann mit schneeweißem Haupte: die Kleider hingen ihm in Fetzen am Leibe; die Kälte ließ ihn im Schlafe zittern. „Er war einst ein gesuchter Arzt in York," theilte mir mein Begleiter mit; „Trunksucht und Laster haben ihn auf die Straße gebracht; aber er ist ehrlich; er hungert oder lebt von dem, was ihm die Armuth gibt; denn die Armen helfen sich unter einander. . . . „Warum gehen denn diese Leute nicht in das Workhouse (Albeits- oder Armen-Haus)", fragen Sie mich, fuhr der Détective fort. „Weil selbst in der ärmsten Seele der Stolz noch seine Keime aufgehen läßt. So lange wie man in den englischen Arbeitshäusern und Asylen für Obdachlose Armuth wie ein Verbrechen ansieht und ihr die Hilfe so hinwirft, wie dem Hunde den Knochen, so lange wird der Stolz der Armen der heutigen Gesellschaft zum Hohne die Gasse derartigen Anstalten vorziehen lassen." Es lag eine tiefe Bitterkeit in dem Tone, in welchem diese Worte gesprochen
 wurden. «Ich bin ein Beamter", fuhr der Détective bewegt fort, „aber ich bin ein Mensch und," auf die Kinder zeigend: „ich habe auch Kinder."
Wir gingen nach der Vere Street, Polizei Station, und von dort mit drei andern Détectives, die sich mein Begleiter als Deckung erbeten, nach der Vere Street, Oxford Street. Dies ist eine der Straßen, welche eine gewisse „Respectabilität" nicht verbergen kann, und die Charles Dickens wohl mit den Worten ,schäbig-vornehm" bezeichnet hätte. Die Häuser dort sind zweistöckig
 und dreistöckig, mit Kaufläden im Untergeschosse. Die meisten sind sogenannte „Caffeeshops", in denen man für wenige Pfennige eine Tasse Thee ober Kaffee erhalten kann, bei weder Mokka ist noch Mokka gesehen, aber desto mehr mit der Cichorienpflanze verwandt ist. Beinahe am Ende der Straße erheben sich Gebäube, in welchen Curiositätenhändler, Juweliere oder sogenannte Refiners (Ausbesserer) ihre Geschäftsstellen haben. Dieser letzte Theil ist durchaus anständig und Vertrauen einflößend: da unten aber, wo die Straße anfängt, ist es fürchterlich. Die Häuser dort dienen den unlautersten
 Zwecken, sind Schlupfwinkel für Leute, die den Tag scheuen, deren „Tag" in Wirklichkeit erst nach 12 Uhr Nachts beginnt. Vor einem dieser Gebäude blieben wir stehen.
"Wilson," befahl der Détective, „klopfen Sie ein Mal an."

Der mit diesem Namen Angeredete klopfte drei Mal in verschiedenen Zwischenräumen; die Thüre, an einer Sicherheitskette ruhend, öffnete sich zögernd, und eine weibliche Stimme fragte: „Wer ist da?"

„Polizei," war die Antwort, und die Thür öffnete sich unverzüglich.

„Viele Leute da?" fragte der Détective, der Pförtnerin, einem jungen Mädchen, welches sich schlaftrunken die Augen rieb, scharf in das Gesicht blickend.

Das Mädchen hielt den Blick aus und bemerkte ruhig: „So viele wie gewöhnlich, Offizier."

„Alle Schlafstellen besetzt?" war die weitere Frage.

„Mit Ausnahme von einer einzigen alle", war die
 Antwort.

„Wilson," wandte sich der Détective wieder an seinen Untergebenen, »Sie und Shaw besetzen den Keller, während ich das Haus untersuche. Die Hausthüre bleibt offen. Zwölf Mann werben in einer Minute draußen sein; wer sich widersetzt, wird festgehalten."
Wir begaben uns nach dem obern Stockwerk. Die Zimmer waren ziemlich rein und dem Aussehen nach erst kürzlich frisch gestrichen. In dem ersten Stock schliefen achtzehn Männer und Knaben, deren Schnarchen Todte in's Leben rufen konnte. Ein jedes Betttuch, mit welchem die Schläfer bedeckt waren, hatte verschiebeStempel, die alle die Worte trugen: Stolen from Vere Street Lodging House (Gestohlen aus dem Vere Street Gasthaus); die Bettstellen waren von Eisen, und die Fenster waren in der obern Hälfte geöffnet. Im zweiten Stockwerke, in welches wir uns hinauf begaben, bot sich uns derselbe Anblick, nur war ein einziges Bett unbesetzt. Ein Blick zeigte jedoch sofort, daß eine Person dasselbe bereits benutzt hatte. Der Détective weckte den nächsten Schläfer und fragte ihn: „Wo ist denn dein Nachbar?" „Ich wußte nicht, daß ich einen hatte," lautete die kurze Antwort. „Und wie sah er aus?' war die weitere plötzliche Frage, die den Gefragten, der doch von keinem Nachbar wissen wollte, überrumpelte. „Er hatte einen rothen Bart und hinkte." »Zum Kukuk," murmelte der Détective, „er ist fort; er muß einen
 Wink erhalten haben. Vielleicht ist er noch unten. Lassen Sie uns gehen."
Beim Licht der Blendlaterne und des schwachen Gaslichtes bemerkte ich, daß in den Gängen Waschtische an den Wänden sich befanden, an welchen Bürsten und
 Kämme mit dünnen Ketten befestigt waren. Durch die offene Straßenthüre konnte man die blaue Uniform der inzwischen angelangten Polizisten sehen; ein Wart mit
 dem Führer derselben und wir stiegen eine Hühnerstiege hinunter, die in einen Keller führte.

(Fortsetzung folgt.)

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Re: Luxemburger Wort
« Antwort #35 am: 30.07.2011 15:38 Uhr »
Luxemburger Wort

16 November 1888

Wo das Laster weilt.

Spaziergänge mit einem englischen Detektive im Osten Londons.

(Schluß.)

So reinlich der obere Theil des Hauses gehalten war, so schmutzig war der untere. Eine erstickende Luft, schwul und übelriechend, füllte die Treppenhöhlung aus. Ein kleines Licht in einer Laterne schien ironisch zu
 leuchten, da« Geländer war gebrochen. Ein Stoß mit dem Fuße, und eine schwere, hölzerne Thüre flog mit lautem Geräusch und Knarren auf; das war eine Art Präludium zu dem Höllenlärm, der in der „Küche" herrschte, die wir jetzt vor uns sahen.
Der Anblick, welcher sich meinen Augen bot, war abstoßend häßlich. Obgleich zwei oder drei schmutzige Lampen den Keller zu erleuchten suchten, kam dennoch das Hauptlicht nur aus einem großen Kamin, in welchem ein Kohlenfeuer flackerte. Die schlechte Ventilation trieb große Mengen Rauch zeitweise in den Keller, so daß das Auge erst nach einiger Zeit sich genauer orientiren
 konnte. Bänke und Tische zogen sich an den Wänden hin; im Halbkreise saßen acht Frauenzimmer und einige Kinder an dem Feuer. Einige rüsteten sogenannte Bloaters, eine Art geräucherte Häringe, Andere hielten eine lange Gabel in der Hand, an deren Ende sie ein Stück Käse brieten; wieder Andere kochten Thee oder Kaffee. Einige alte Weiber spornten die Kochenden fluchend zu
 größerer Eile an, da sie selbst mit ihren Töpfen zum Feuer wollten. An den Tischen, essend, trinkend und Karten spielend, saßen Männer jeden Alters, Greise und Jünglinge. Fast Allen sah man ihr Verbrecher-Dasein an; nur eine einzige Person zeigte edlere Züge. „Das ist der alte M., ein früher gesuchter Rechtsanwalt, der feiner Zeit 5000 Pfd. Sterl. Mündelgelder unterschlug. dafür sechs Jahre Zuchthaus bekam und ruinirt wurde. Seit seiner Entlassung ist er eine Art „Winkel-Advokat", theilte mir der Détective mit. „Er ist ein tüchtiger Jurist und gibt den Verbrechern Rathschläge, wie sie vor dem Richter sich zu benehmen haben, welche Aussicht sie und welche Strafe sie im Falle zu erwarten haben." Er war im eifrigen Gespräch mit einem Einbrecher beschäftigt, der ihn im Interesse eines Freundes um seinen richterlichen Rath ersuchte. „Ich sage dir, unter zehn Jahren kommt Ted nicht weg," hörte ich ihn sagen, „und es ist am besten, wenn er sich gleich schuldig bekennt. Er hat den Copper (Polizisten) stark verwundet und dienstunfähig gemacht, und Hawlins (ein von den Verbrechern seiner strengen Urtheile wegen sehr gehaßter und gefürchteter Richter) gibt dafür stets zehn
 Jahre." „Na, und die andere Sache, der Straßen-Unfall?" fragte der Einbrecher. „Ja, wenn sie ihm den beweisen können — was ich nicht glaube, weil Lizzie, die dabei war, nicht plaudern wird — dann wird wohl die neunschwänzige Katze ihm das Fell zerkratzen. Brrr." Als M. den Détective bemerkte, schüttelte er ihm die Hand und fragte vertraulich, aber spottend: „Wen suchen Sie denn heute?" „Nicht Sie," war die Antwort; „nehmen Sie sich nur in Acht, daß wir Sie nicht fassen. Kümmern Sie sich um Ihre Geschäfte und lassen Sie uns die unsern." „Geht zum Satan," erwiderte der Winkel-Advokat und zog sich an seinen alten Platz zurück.
Der Détective sah sich in der Zwischenzeit überall um und sprach auch mit verschiedenen Personen in scherzender Weise. Drei oder vier Personen fragten ihn: „Wollt ihr uns etwa heute holen?" — „Nein, nicht heute; ich werde euch noch früh genug bekommen," war die gutmüthig geäußerte Antwort, die ein schallendes Gelächter verursachte.
Durch die eben geschilderte Scene wurde meine Aufmerksamkeit einen Augenblick von einer Begebenheit abgelenkt, welche sich inzwischen in einer dunkelern Ecke zutrug, nahe einer kleinen Thüre, die in eine Kohlenkammer führte. Mehrere Weiber drückten sich an der Thüre herum, wo sie Platz nahmen und ab und zu ängstliche Blicke auf den Détective warfen, der sie nicht

zu sehen schien. Plötzlich blies eine Pfeife — drei uniformirte Polizisten standen im Augenblicke neben ihm, drei andere an der Thüre.

„Was hockt ihr denn da so zusammen, wie die Hennen!" fuhr der Détective die Weiber an. „Steht doch 'mal auf!"

Auch nicht eine einzige der Frauen rührte sich.

„Mach: keinen Unsinn," sprach der Détective überredend, „und steht auf; ich bin gern höflich gegen Damen, aber wenn ihr Schwierigkeiten macht, so mache ich keine weiteren Umstände. Also vorwärts!"
Dies wirkte. Die Frauenzimmer erhoben sich zögernd; der Détective öffnete die Thüre und brachte einen sich sträubenden und um sich schlagenden Bengel zum Vorschein, der, sobald er den einen Arm frei bekam, mit einem Fluche einem dort stehenden Mädchen einen furchtbaren Schlag gab, der sie zu Boden fällte. „Du hast mich hierher gelockt!" schrie er. Schneller, wie ich es
 hier beschreiben kann, lag auch er am Boden. Die Polizisten hatten sich auf ihn geworfen und hoben ihn nun, an Händen und Füßen gefesselt, auf.
Einen Augenblick schien es, als ob hier eine allgemeine Schlägerei entbrennen würde. Dies dauerte jedoch nur einen Augenblick; der Winkel-Advokat schrie mit Stentorstimme: „Seid ruhig; die Polizei muß ihre Pflicht thun." Nachdem der Skandal sich etwas gelegt hatte, wandte er sich an den jungen Einbrecher und gab ihm den Rath, ruhig mitzugehen, aber kein Wort zu
 reden, „denn," meinte er, „alles was du sagst, kann für und gegen dich gebraucht werden."
Das wirkte; die Anwesenden nahmen ihre Gespräche wieder auf und fuhren in ihren sonstigen Geschäften fort. Die Polizei untersuchte derweil den Keller, in welchem der Bursche gesteckt hatte, und fand eine Tasche mit Stemmeisen und andern Diebeswerkzeugen.

„Sobald er auf der Straße ist, könnt ihr ihm die Fußschellen abnehmen, wenn er sich ruhig benehmen will," befahl der Polizist, und dem Gefangenen auf die
 Schulter klopfend, sagte er: „Laß den Kopf nicht hängen, mein Junge; es wird nicht so schlimm werden. Wir nehmen dich mit, weil du in dem Besitz von Einbrech-Werkzeugen bist. Auf der Wache werden sie dir wohl auch noch sonst eine kleine Mittheilung machen; die Lizzie hat geplaudert."

Wir gingen die Stiege hinauf; die Polizisten folgten mit dem Burschen.
„Einen guten Fang haben wir gemacht; es thut mir leid um den Jungen, aber sie werden ihm wohl die Katze auflegen, und ihn für zehn Jahre festhalten. Er
 hat einen Polizisten beinahe ermordet, und die That ist zweifellos. . . . Haben Sie die kleinen Kinder in der Küche bemerkt? Sie leben mit der Sünde und dem Verbrechen, wissen weder was Heimath noch Elternliebe heißt, werden zum Stehlen angehalten, und das ist die Ursache, weshalb wir so viele jugendliche Verbrecher haben. Doch da ist mein Posten aus Long Aere. Nun?"
 wandte er sich an den Kommenden.
„Die lange Annie ist nach Westminster gegangen; ich habe dorthin telegraphirt und einen Mann hinter ihr hergesandt."

„Nehmt den Gefangenen mit zur Wache," sagte «ein Begleiter; „er soll dort bleiben, bis ich von Westminster komme. Ich glaube, wir haben unsern Mann. Wollen Sie mitkommen?"
Ich bejahte die Frage, und wenige Minuten später saßen wir und zwei Polizisten in einem geschlossenen Cab, das uns in kurzer Zeit nach der Westminster-Brücke brachte, woselbst wir ausstiegen, um in Zwischenräumen zu Fuß über die Brücke zu wandeln. Es war 2 Uhr Nachts. Das Parlament verhandelte noch über irgend eine irische Debatte, und die sogenannte „Division Lamp", eine am großen Thurme angebrachte Lampe, die dem Volke anzeigt, daß seine Gesetzgeber noch wachen und mit stundenlangen Reden die Zeit ausfüllen, strahlte mit voller Macht. Wir sahen die Lampe erlöschen; Carossen und Droschken brachten die Herren nach ihm Wohnungen, und der Platz war bald verlassen und einsam. Einer der Polizisten kam zurück und meldete, daß die lange Annie in der Nachbarschaft des Quensgate-Gebäudes, eine Alt Hotel Garni für Parlamentarier, gesehen worden sei. Der Détective trat in das Parlament und kam, von mehrern Amtsgenossen begleitet, zurück. Wir gingen nun über den Parlamentsplatz, auf welchen die im Mondscheine gespenstig aussehende Westminster-Abtei gigantische Schatten warf, und wandten uns dann die Viktoria-Street hinunter. Auf den Stufen des Aquariums sahen wir dasselbe Leidensbild, welches uns im Leicester Square so erschüttert hatte: Obdachlose, deren Heimath das Pflaster und deren Ende
 — der Obductionssaal eines Hospital» ist.
Eine kurze Querstraße brachte uns nach der St. James-Park-Station, gegenüber welcher eine Anzahl kleiner Häuser sich befindet, deren Thore in schmutzige
 Gänge führen. Zwei dort stationirte Polizisten theilten dem Détective mit, daß ein Mädchen, auf welches die ihnen gegebene Beschreibung der Annie passe, vor 20 Minuten in eines der Häuser eingetreten sei; sie wohnte dort nicht regelmäßig, sei ihnen jedoch als gelegentliche Besucherin bekannt. Wir betraten die uns genannte Gasse: Schmutz und Unrath, wie in der früher besuchten Gasse, zerbrochene Fensterscheiben, baufällige Häuser, morsche Thüren. Aus einem der Schlupfwinkel trat ein schöner wohlgebauter Mann; die Uniform mit den Buchstaben S.A. (Salvation Army), Heils-Armee, zeigte, daß wir es mit einem der wenigen Leute zu thun hatten, deren Mission die Belehrung der schlimmsten Gesellschaft ist, die sich bei aller Exaltirtheit ihres Wesens doch ohne Furcht und Zagen in die ärgsten Winkel wagen, um dort ihrem guten Welle nachzugehen. Dunkeles Haar bedeckte fein Haupt, während aus dem bleichen Antlitze zwei Augen düster blickten. Er schien kein Glück gehabt zu haben und auch Mißhandlungen von den rohen Patronen erlitten zu haben, denn der Bart war zerzaust, und die Uniform aufgerissen. „Herr, erbanne dich der armen Sünder, erleuchte sie, auf daß sie Dein werden, Gloria, Halleluja," betete er vernehmlich und schickte sich an den Hof zu verlassen, ohne uns zu beachten. „Kämpen des Lichtes, die aus der Nacht den
 Tag machen wollen," sagte der Détective. „Man sollte die Heilsarmee nicht ganz verdammen; sie thut trotz aller Schnurrpfeifereien viele gute Werke." Wir betraten das Haus. Todtenstille herrschte in demselben. Plötzlich huschte ein Weibsbild aus einem der Zimmer und rannte nach oben; eine Thüre im letzten Stock fiel lärmend in's Schloß. Wir stürmten die dunkele Treppe hinauf, die nur von unsern Blendlaternen erleuchtet wurde, und erbrachen die Thüre, welche ein schwerer Tisch verbarricadirte. Die lange Annie und eine alte Frau waren im Zimmer, das Fenster stand offen, ein Strick, welcher an demselben befestigt war, besagte, was vorgegangen. Der rothe Johnson war entflohen. Die lange Annie meinte höhnisch: ,I wish you may get him" (Ich wünschte, ihr möchtet ihn kriegen). „Verhaftet die Beiden," befahl der Detective und stürzte dann an's Fenster. »Da ist der Hallunke!" rief er wieder, „ihm nach!" Eine schrille Pfeife tönte von unten; es kam Hülfe. Der Détective sprang auf ein niedriges Dach hinaus. Plötzlich vernahmen mir ein klirrendes Geräusch und einen schweren Fall. Der Détective war verschwunden; er hatte Johnson, der über mehrere niedrige Schuppen flüchtete, gepackt und
 war mit ihm durch ein Lichtfenster gefallen, welches eine Schneiderwerkstätte durch Oberlicht erleuchtete. Ich lief mit dem Polizisten die Treppe hinunter. Als wir in der Gasse anlangten, sahen wir den Détective blutüberströmt aus einem Laden treten.
„Hurrah!" rief er, „wir haben ihn. Bringt ein Tragebrett aus dem Weftminfter-Hospital. Der Mensch ist arg verwundet und hat sich das Bein gebrochen." Die Gasse belebte sich im Augenblick. Keiner der Bewohner hatte besonderes Mitleid mit dem rothen Johnson, der als wüster Cumpan bekannt war. Die Verwundungen des Detectivs waren nicht schwer. Bald kam eine Tragbahre, die Polizisten hoben den stöhnenden Verbrecher sorgsam auf dieselbe und trugen ihn nach dem Hospital. Die dem dicken Herrn durch Beihülfe der Annie gestohlene Uhr fand sich unter einer Matratze versteckt im Hause vor. Johnson leugnete die That keineswegs, behauptete aber, daß die lange Annie
 nichts von dem Diebstahl wisse. Nachdem ein Arzt des Détectives Wunden als unbedenklich erklärt hatte, begaben wir uns in einem Wagen nach der Vere Street Polizei Station, woselbst der Détective seinen Bericht zu machen gedachte. Auf dem Wege dorthin erzählte er mir, was auf dem Dache vorgegangen war. Der rothe Johnson habe sich hinter einem Schornstein verschanzt, von woher er ihn, den Détective, mit Dachsteinen beworfen. Er sei daher sofort auf ihn losgesprungen, da er wußte, daß Hülfe in der Nähe sei. Bei dem Ringen verlor der Flüchtling das Gleichgewicht und riß ihn
 mit sich durch das Fenster. Nur der Thatsache, daß er auf den rothen Johnson gefallen, hatte er seine leichten Verletzungen zu danken.
In der Polizei-Station fanden sich die verschiedenen Arrestanten und außerdem der alte Herr, dem die Uhr gestohlen wurde. Mit der langen Annie confrontirt, konnte er dieselbe nicht erkennen, so daß dieselbe entlassen werden mußte. Daß der rothe Johnson der Dieb war, wollte er erst nicht glauben; nach längerem Gesprach gab er die Möglichkeit jedoch zu.
Ich verabschiedete mich von meinem Führer, indem ich ihn zu den beiden Verhaftungen beglückwünschte. Erw»ehrte meine Complimente ab und versprach mir, zu schreiben, wenn der rothe Johnson vor den Richter kommen würde.

Nach Verlauf von beinahe sechs Monaten erhielt ich eine Postkarte, die folgendermaßen lautete : „Bitte, seien Sie heute in der Old Baily; der rothe Johnson hat sich schuldig bekannt und wird heute abgeurtheilt werden.' Ich fand mich zur rechten Stunde ein. Eine Mörder-Verhandlung, die mit der Verurtheilung des Angeklagten zum Tode durch den Strang geendet hatte, war eben beendet. Mir gellte noch die alte Formel in den Ohren, mit welcher Verbrecher hier zum Tobe verurtheilt werden. Der Richter befahl, den Angeklagten vorführen zu lassen. Dieser sah blaß und krank aus und ging noch auf Krücken. Da der Detective betonte, daß Johnson sich nur durch Flucht entziehen wollte und nicht mehr Gewalt gegen ihn gebraucht habe, wie es die Umstände ihm eingaben, so kam er, da der Richter sein gebrochenes Bein berücksichtigte, mit 15 Monaten davon, die er, wie ich später hörte, teilweise im Hospital verbrachte. Als ich mich vom Détective verabschiedete, kam ein weinendes Frauenzimmer auf uns zu; sie weinte um den rothen Johnson, der doch so krank und elend ausgesehen habe. Sie schluchzte krampfhaft: »Er war mir gut, er war mir gut." Nach einigen Trostworten wandte sich der Détective an mich und sprach einst: „Wer weiß, was die lange Annie und
 der rothe Johnson geworden wären, hätte ein liebend Mutterherz sie bewacht und erzogen. Sie sind eben Kinder der Gasse."

Wir schieden in ernster Stimmung in Ludgate Hill. Vor Wolff's Conditorei standen zwei schön geputzte, zierliche Kinder mit ihrer Bonne, die sehnsüchtig nach den dort ausliegenden Leckerbissen blickten. Eine Kutsche
 deren Verschlag eine Krone zeigte, hatte die Kleinen hergeführt. Ich dachte an die weichen Netten der Kleinen und an das harte Pflaster des Leicester Square und ging in ernsten Gedanken nach Hause. Rollo.

Southwark

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Re: Luxemburger Wort
« Antwort #36 am: 31.07.2011 21:11 Uhr »
Luxemburger Wort
13 September 1889
.....................Der Vorsitzende bei Wachsamkeitsausschusses, Albert Backot [Bachert], zweifelt nicht daran, daß der Mörder in Whitechapel wohnt, dessen Nebengäßchen er genau kennt. Er glaubt sogar, daß der Unhold sich in einem der naheliegenden Häuser befand, als die Leiche des ermordeten Frauenzimmers gefunden wurde....................

Wer ist eigentlich dieser Albert Backot .(Anschliessend immer Herr Backert im Text genannt)
Ist das der Nachfolger von Mr Lusk ?

Der Name war mir bis jetzt nicht bekannt  :unknown:

Offline Craddock

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Re: Luxemburger Wort
« Antwort #37 am: 31.07.2011 21:19 Uhr »
Zitat von: Southwark
Wer ist eigentlich dieser Albert Backot .(Anschliessend immer Herr Backert im Text genannt)
Ist das der Nachfolger von Mr Lusk ?

Weiß man nicht so genau, falls es der ist, den ich jetzt vermute. Der Typ war entweder Lusks Nachfolger, oder hat, nachdem das ursprüngliche Kommitee aufgelöst wurde, einfach sein eigenes gegründet. Wie gesagt, falls es der ist, den ich meine. Er scheint auch der Polizei immer wieder entsprechend auf die Nerven gegangen zu sein, brachte Vorschläge ein, nach denen ihn niemand gefragt hatte und so weiter. Ob er jetzt einfach ein besorgter Bürger oder ein geltungssüchtiger Typ mit Hang zu einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, lasse ich mal dahingestellt. Casebook hat eine Seite über ihn (Hier: Albert Backert.

Ich bin grad mit etwas andrem beschäftigt, sonst würd ich mir das selbst mal durchlesen und eventuell ein paar Infos posten. Mal sehen, vielleicht komm ich in den nächsten Tagen dazu...

Übrigens danke für die Artikel, Shadow. :D

Offline Shadow Ghost

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Re: Luxemburger Wort
« Antwort #38 am: 31.07.2011 21:31 Uhr »
Hallo Craddock, hallo Southwark,

es handelt sich um eben jenen Albert Bachert oder Backert, über den der casebook-Artikel geht. Er war der bunte Hund von Whitechapel, ein Wichtigtuer vor dem Herrn, und alles in allem wohl ein ziemlich nerviger Typ. Wenn ich es richtig überschaue, war Bachert Vorsitzender der Whitechapel Vigilance Society, während Lusk Vorsitzender des Whitechapel Vigilance Committee war. Inwiefern oder ob überhaupt diese beiden Organisationen etwas miteinander zu tun hatten, weiß ich leider nicht.

Offline Anirahtak

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Re: Luxemburger Wort
« Antwort #39 am: 01.08.2011 02:00 Uhr »
Dankeschön, Shadow Ghost, sehr interessant. :)

Zitat
Luxemburger Wort

15 November 1888

[...]

Mich halte das Stück menschlichen Lebens, welches ich gesehen, die besinnungslose Versumpfung und die schamlose Frechheit der Weiber ernst gestimmt.
Jau, das erinnert mich an die letzten überlieferten Worte Catherine Eddowes': "Goodnight, old cock." Sähe ich sowas in einem Film, würde ich denken, das sei klischeehafter Mist - wer redet denn schon so mit einem Polizisten, der einen obendrein gerade aus einer Zelle rauslässt...? Aber scheint wohl doch ein grober Umgang auf allen Ebenen gewesen zu sein.

Offline Shadow Ghost

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Re: Luxemburger Wort
« Antwort #40 am: 01.08.2011 22:08 Uhr »
Ich merke gerade, dass an der ein oder anderen Stelle doch noch ein kleines Fehlerteufelchen sitzt; tut mir echt leid, aber ich dachte, wenn die Luxemburger schon OCR anbieten, sollte ich das auch nutzen. Leider habe ich dann wohl nicht alle Fehler korrigieren können. Ich hoffe, die Texte sind dennoch verständlich.

Offline Anirahtak

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Re: Luxemburger Wort
« Antwort #41 am: 02.08.2011 00:01 Uhr »
Kein Problem, alles sehr gut verständlich.

Southwark

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Re: Luxemburger Wort
« Antwort #42 am: 03.08.2011 21:23 Uhr »
Zitat von: Southwark
Wer ist eigentlich dieser Albert Backot .(Anschliessend immer Herr Backert im Text genannt)
Ist das der Nachfolger von Mr Lusk ?

 Casebook hat eine Seite über ihn (Hier: Albert Backert......
Übrigens danke für die Artikel, Shadow. :D

Vielen Dank fuer den Link.
Interessante Persönlichkeit dieser Backert.

Vielen Dank auch an dich Shadow Ghost fuer die Einstellung dieser Artikel.  :good:
Hätte nicht gedacht dass diese Zeitung soviel ueber den Ripper damals gebracht hat.




Stordfield

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Re: Luxemburger Wort
« Antwort #43 am: 07.08.2011 16:59 Uhr »
Danke Shadow!!!