Luxemburger Wort
16 November 1888
Wo das Laster weilt.
Spaziergänge mit einem englischen Detektive im Osten Londons.
(Schluß.)
So reinlich der obere Theil des Hauses gehalten war, so schmutzig war der untere. Eine erstickende Luft, schwul und übelriechend, füllte die Treppenhöhlung aus. Ein kleines Licht in einer Laterne schien ironisch zu
leuchten, da« Geländer war gebrochen. Ein Stoß mit dem Fuße, und eine schwere, hölzerne Thüre flog mit lautem Geräusch und Knarren auf; das war eine Art Präludium zu dem Höllenlärm, der in der „Küche" herrschte, die wir jetzt vor uns sahen.
Der Anblick, welcher sich meinen Augen bot, war abstoßend häßlich. Obgleich zwei oder drei schmutzige Lampen den Keller zu erleuchten suchten, kam dennoch das Hauptlicht nur aus einem großen Kamin, in welchem ein Kohlenfeuer flackerte. Die schlechte Ventilation trieb große Mengen Rauch zeitweise in den Keller, so daß das Auge erst nach einiger Zeit sich genauer orientiren
konnte. Bänke und Tische zogen sich an den Wänden hin; im Halbkreise saßen acht Frauenzimmer und einige Kinder an dem Feuer. Einige rüsteten sogenannte Bloaters, eine Art geräucherte Häringe, Andere hielten eine lange Gabel in der Hand, an deren Ende sie ein Stück Käse brieten; wieder Andere kochten Thee oder Kaffee. Einige alte Weiber spornten die Kochenden fluchend zu
größerer Eile an, da sie selbst mit ihren Töpfen zum Feuer wollten. An den Tischen, essend, trinkend und Karten spielend, saßen Männer jeden Alters, Greise und Jünglinge. Fast Allen sah man ihr Verbrecher-Dasein an; nur eine einzige Person zeigte edlere Züge. „Das ist der alte M., ein früher gesuchter Rechtsanwalt, der feiner Zeit 5000 Pfd. Sterl. Mündelgelder unterschlug. dafür sechs Jahre Zuchthaus bekam und ruinirt wurde. Seit seiner Entlassung ist er eine Art „Winkel-Advokat", theilte mir der Détective mit. „Er ist ein tüchtiger Jurist und gibt den Verbrechern Rathschläge, wie sie vor dem Richter sich zu benehmen haben, welche Aussicht sie und welche Strafe sie im Falle zu erwarten haben." Er war im eifrigen Gespräch mit einem Einbrecher beschäftigt, der ihn im Interesse eines Freundes um seinen richterlichen Rath ersuchte. „Ich sage dir, unter zehn Jahren kommt Ted nicht weg," hörte ich ihn sagen, „und es ist am besten, wenn er sich gleich schuldig bekennt. Er hat den Copper (Polizisten) stark verwundet und dienstunfähig gemacht, und Hawlins (ein von den Verbrechern seiner strengen Urtheile wegen sehr gehaßter und gefürchteter Richter) gibt dafür stets zehn
Jahre." „Na, und die andere Sache, der Straßen-Unfall?" fragte der Einbrecher. „Ja, wenn sie ihm den beweisen können — was ich nicht glaube, weil Lizzie, die dabei war, nicht plaudern wird — dann wird wohl die neunschwänzige Katze ihm das Fell zerkratzen. Brrr." Als M. den Détective bemerkte, schüttelte er ihm die Hand und fragte vertraulich, aber spottend: „Wen suchen Sie denn heute?" „Nicht Sie," war die Antwort; „nehmen Sie sich nur in Acht, daß wir Sie nicht fassen. Kümmern Sie sich um Ihre Geschäfte und lassen Sie uns die unsern." „Geht zum Satan," erwiderte der Winkel-Advokat und zog sich an seinen alten Platz zurück.
Der Détective sah sich in der Zwischenzeit überall um und sprach auch mit verschiedenen Personen in scherzender Weise. Drei oder vier Personen fragten ihn: „Wollt ihr uns etwa heute holen?" — „Nein, nicht heute; ich werde euch noch früh genug bekommen," war die gutmüthig geäußerte Antwort, die ein schallendes Gelächter verursachte.
Durch die eben geschilderte Scene wurde meine Aufmerksamkeit einen Augenblick von einer Begebenheit abgelenkt, welche sich inzwischen in einer dunkelern Ecke zutrug, nahe einer kleinen Thüre, die in eine Kohlenkammer führte. Mehrere Weiber drückten sich an der Thüre herum, wo sie Platz nahmen und ab und zu ängstliche Blicke auf den Détective warfen, der sie nicht
zu sehen schien. Plötzlich blies eine Pfeife — drei uniformirte Polizisten standen im Augenblicke neben ihm, drei andere an der Thüre.
„Was hockt ihr denn da so zusammen, wie die Hennen!" fuhr der Détective die Weiber an. „Steht doch 'mal auf!"
Auch nicht eine einzige der Frauen rührte sich.
„Mach: keinen Unsinn," sprach der Détective überredend, „und steht auf; ich bin gern höflich gegen Damen, aber wenn ihr Schwierigkeiten macht, so mache ich keine weiteren Umstände. Also vorwärts!"
Dies wirkte. Die Frauenzimmer erhoben sich zögernd; der Détective öffnete die Thüre und brachte einen sich sträubenden und um sich schlagenden Bengel zum Vorschein, der, sobald er den einen Arm frei bekam, mit einem Fluche einem dort stehenden Mädchen einen furchtbaren Schlag gab, der sie zu Boden fällte. „Du hast mich hierher gelockt!" schrie er. Schneller, wie ich es
hier beschreiben kann, lag auch er am Boden. Die Polizisten hatten sich auf ihn geworfen und hoben ihn nun, an Händen und Füßen gefesselt, auf.
Einen Augenblick schien es, als ob hier eine allgemeine Schlägerei entbrennen würde. Dies dauerte jedoch nur einen Augenblick; der Winkel-Advokat schrie mit Stentorstimme: „Seid ruhig; die Polizei muß ihre Pflicht thun." Nachdem der Skandal sich etwas gelegt hatte, wandte er sich an den jungen Einbrecher und gab ihm den Rath, ruhig mitzugehen, aber kein Wort zu
reden, „denn," meinte er, „alles was du sagst, kann für und gegen dich gebraucht werden."
Das wirkte; die Anwesenden nahmen ihre Gespräche wieder auf und fuhren in ihren sonstigen Geschäften fort. Die Polizei untersuchte derweil den Keller, in welchem der Bursche gesteckt hatte, und fand eine Tasche mit Stemmeisen und andern Diebeswerkzeugen.
„Sobald er auf der Straße ist, könnt ihr ihm die Fußschellen abnehmen, wenn er sich ruhig benehmen will," befahl der Polizist, und dem Gefangenen auf die
Schulter klopfend, sagte er: „Laß den Kopf nicht hängen, mein Junge; es wird nicht so schlimm werden. Wir nehmen dich mit, weil du in dem Besitz von Einbrech-Werkzeugen bist. Auf der Wache werden sie dir wohl auch noch sonst eine kleine Mittheilung machen; die Lizzie hat geplaudert."
Wir gingen die Stiege hinauf; die Polizisten folgten mit dem Burschen.
„Einen guten Fang haben wir gemacht; es thut mir leid um den Jungen, aber sie werden ihm wohl die Katze auflegen, und ihn für zehn Jahre festhalten. Er
hat einen Polizisten beinahe ermordet, und die That ist zweifellos. . . . Haben Sie die kleinen Kinder in der Küche bemerkt? Sie leben mit der Sünde und dem Verbrechen, wissen weder was Heimath noch Elternliebe heißt, werden zum Stehlen angehalten, und das ist die Ursache, weshalb wir so viele jugendliche Verbrecher haben. Doch da ist mein Posten aus Long Aere. Nun?"
wandte er sich an den Kommenden.
„Die lange Annie ist nach Westminster gegangen; ich habe dorthin telegraphirt und einen Mann hinter ihr hergesandt."
„Nehmt den Gefangenen mit zur Wache," sagte «ein Begleiter; „er soll dort bleiben, bis ich von Westminster komme. Ich glaube, wir haben unsern Mann. Wollen Sie mitkommen?"
Ich bejahte die Frage, und wenige Minuten später saßen wir und zwei Polizisten in einem geschlossenen Cab, das uns in kurzer Zeit nach der Westminster-Brücke brachte, woselbst wir ausstiegen, um in Zwischenräumen zu Fuß über die Brücke zu wandeln. Es war 2 Uhr Nachts. Das Parlament verhandelte noch über irgend eine irische Debatte, und die sogenannte „Division Lamp", eine am großen Thurme angebrachte Lampe, die dem Volke anzeigt, daß seine Gesetzgeber noch wachen und mit stundenlangen Reden die Zeit ausfüllen, strahlte mit voller Macht. Wir sahen die Lampe erlöschen; Carossen und Droschken brachten die Herren nach ihm Wohnungen, und der Platz war bald verlassen und einsam. Einer der Polizisten kam zurück und meldete, daß die lange Annie in der Nachbarschaft des Quensgate-Gebäudes, eine Alt Hotel Garni für Parlamentarier, gesehen worden sei. Der Détective trat in das Parlament und kam, von mehrern Amtsgenossen begleitet, zurück. Wir gingen nun über den Parlamentsplatz, auf welchen die im Mondscheine gespenstig aussehende Westminster-Abtei gigantische Schatten warf, und wandten uns dann die Viktoria-Street hinunter. Auf den Stufen des Aquariums sahen wir dasselbe Leidensbild, welches uns im Leicester Square so erschüttert hatte: Obdachlose, deren Heimath das Pflaster und deren Ende
— der Obductionssaal eines Hospital» ist.
Eine kurze Querstraße brachte uns nach der St. James-Park-Station, gegenüber welcher eine Anzahl kleiner Häuser sich befindet, deren Thore in schmutzige
Gänge führen. Zwei dort stationirte Polizisten theilten dem Détective mit, daß ein Mädchen, auf welches die ihnen gegebene Beschreibung der Annie passe, vor 20 Minuten in eines der Häuser eingetreten sei; sie wohnte dort nicht regelmäßig, sei ihnen jedoch als gelegentliche Besucherin bekannt. Wir betraten die uns genannte Gasse: Schmutz und Unrath, wie in der früher besuchten Gasse, zerbrochene Fensterscheiben, baufällige Häuser, morsche Thüren. Aus einem der Schlupfwinkel trat ein schöner wohlgebauter Mann; die Uniform mit den Buchstaben S.A. (Salvation Army), Heils-Armee, zeigte, daß wir es mit einem der wenigen Leute zu thun hatten, deren Mission die Belehrung der schlimmsten Gesellschaft ist, die sich bei aller Exaltirtheit ihres Wesens doch ohne Furcht und Zagen in die ärgsten Winkel wagen, um dort ihrem guten Welle nachzugehen. Dunkeles Haar bedeckte fein Haupt, während aus dem bleichen Antlitze zwei Augen düster blickten. Er schien kein Glück gehabt zu haben und auch Mißhandlungen von den rohen Patronen erlitten zu haben, denn der Bart war zerzaust, und die Uniform aufgerissen. „Herr, erbanne dich der armen Sünder, erleuchte sie, auf daß sie Dein werden, Gloria, Halleluja," betete er vernehmlich und schickte sich an den Hof zu verlassen, ohne uns zu beachten. „Kämpen des Lichtes, die aus der Nacht den
Tag machen wollen," sagte der Détective. „Man sollte die Heilsarmee nicht ganz verdammen; sie thut trotz aller Schnurrpfeifereien viele gute Werke." Wir betraten das Haus. Todtenstille herrschte in demselben. Plötzlich huschte ein Weibsbild aus einem der Zimmer und rannte nach oben; eine Thüre im letzten Stock fiel lärmend in's Schloß. Wir stürmten die dunkele Treppe hinauf, die nur von unsern Blendlaternen erleuchtet wurde, und erbrachen die Thüre, welche ein schwerer Tisch verbarricadirte. Die lange Annie und eine alte Frau waren im Zimmer, das Fenster stand offen, ein Strick, welcher an demselben befestigt war, besagte, was vorgegangen. Der rothe Johnson war entflohen. Die lange Annie meinte höhnisch: ,I wish you may get him" (Ich wünschte, ihr möchtet ihn kriegen). „Verhaftet die Beiden," befahl der Detective und stürzte dann an's Fenster. »Da ist der Hallunke!" rief er wieder, „ihm nach!" Eine schrille Pfeife tönte von unten; es kam Hülfe. Der Détective sprang auf ein niedriges Dach hinaus. Plötzlich vernahmen mir ein klirrendes Geräusch und einen schweren Fall. Der Détective war verschwunden; er hatte Johnson, der über mehrere niedrige Schuppen flüchtete, gepackt und
war mit ihm durch ein Lichtfenster gefallen, welches eine Schneiderwerkstätte durch Oberlicht erleuchtete. Ich lief mit dem Polizisten die Treppe hinunter. Als wir in der Gasse anlangten, sahen wir den Détective blutüberströmt aus einem Laden treten.
„Hurrah!" rief er, „wir haben ihn. Bringt ein Tragebrett aus dem Weftminfter-Hospital. Der Mensch ist arg verwundet und hat sich das Bein gebrochen." Die Gasse belebte sich im Augenblick. Keiner der Bewohner hatte besonderes Mitleid mit dem rothen Johnson, der als wüster Cumpan bekannt war. Die Verwundungen des Detectivs waren nicht schwer. Bald kam eine Tragbahre, die Polizisten hoben den stöhnenden Verbrecher sorgsam auf dieselbe und trugen ihn nach dem Hospital. Die dem dicken Herrn durch Beihülfe der Annie gestohlene Uhr fand sich unter einer Matratze versteckt im Hause vor. Johnson leugnete die That keineswegs, behauptete aber, daß die lange Annie
nichts von dem Diebstahl wisse. Nachdem ein Arzt des Détectives Wunden als unbedenklich erklärt hatte, begaben wir uns in einem Wagen nach der Vere Street Polizei Station, woselbst der Détective seinen Bericht zu machen gedachte. Auf dem Wege dorthin erzählte er mir, was auf dem Dache vorgegangen war. Der rothe Johnson habe sich hinter einem Schornstein verschanzt, von woher er ihn, den Détective, mit Dachsteinen beworfen. Er sei daher sofort auf ihn losgesprungen, da er wußte, daß Hülfe in der Nähe sei. Bei dem Ringen verlor der Flüchtling das Gleichgewicht und riß ihn
mit sich durch das Fenster. Nur der Thatsache, daß er auf den rothen Johnson gefallen, hatte er seine leichten Verletzungen zu danken.
In der Polizei-Station fanden sich die verschiedenen Arrestanten und außerdem der alte Herr, dem die Uhr gestohlen wurde. Mit der langen Annie confrontirt, konnte er dieselbe nicht erkennen, so daß dieselbe entlassen werden mußte. Daß der rothe Johnson der Dieb war, wollte er erst nicht glauben; nach längerem Gesprach gab er die Möglichkeit jedoch zu.
Ich verabschiedete mich von meinem Führer, indem ich ihn zu den beiden Verhaftungen beglückwünschte. Erw»ehrte meine Complimente ab und versprach mir, zu schreiben, wenn der rothe Johnson vor den Richter kommen würde.
Nach Verlauf von beinahe sechs Monaten erhielt ich eine Postkarte, die folgendermaßen lautete : „Bitte, seien Sie heute in der Old Baily; der rothe Johnson hat sich schuldig bekannt und wird heute abgeurtheilt werden.' Ich fand mich zur rechten Stunde ein. Eine Mörder-Verhandlung, die mit der Verurtheilung des Angeklagten zum Tode durch den Strang geendet hatte, war eben beendet. Mir gellte noch die alte Formel in den Ohren, mit welcher Verbrecher hier zum Tobe verurtheilt werden. Der Richter befahl, den Angeklagten vorführen zu lassen. Dieser sah blaß und krank aus und ging noch auf Krücken. Da der Detective betonte, daß Johnson sich nur durch Flucht entziehen wollte und nicht mehr Gewalt gegen ihn gebraucht habe, wie es die Umstände ihm eingaben, so kam er, da der Richter sein gebrochenes Bein berücksichtigte, mit 15 Monaten davon, die er, wie ich später hörte, teilweise im Hospital verbrachte. Als ich mich vom Détective verabschiedete, kam ein weinendes Frauenzimmer auf uns zu; sie weinte um den rothen Johnson, der doch so krank und elend ausgesehen habe. Sie schluchzte krampfhaft: »Er war mir gut, er war mir gut." Nach einigen Trostworten wandte sich der Détective an mich und sprach einst: „Wer weiß, was die lange Annie und
der rothe Johnson geworden wären, hätte ein liebend Mutterherz sie bewacht und erzogen. Sie sind eben Kinder der Gasse."
Wir schieden in ernster Stimmung in Ludgate Hill. Vor Wolff's Conditorei standen zwei schön geputzte, zierliche Kinder mit ihrer Bonne, die sehnsüchtig nach den dort ausliegenden Leckerbissen blickten. Eine Kutsche
deren Verschlag eine Krone zeigte, hatte die Kleinen hergeführt. Ich dachte an die weichen Netten der Kleinen und an das harte Pflaster des Leicester Square und ging in ernsten Gedanken nach Hause. Rollo.