Mahlzeit. Ich dachte es ist mal wieder an der Zeit.
Heute geht es wieder in die Richtung wie letztes Mal....Verwandschaftsbeziehungen. Aber diesmal etwas enger. Mich hat dabei besonders eine Sache beschäftigt, was auch in der Geschichte wiedergespiegelt ist denke ich: Wie muss sich wohl jemand gefühlt haben, der mit dem Täter eine enge, sehr liebevolle Beziehung zu ihm gehabt hat. Das ist die Geschichte. Viel Spaß!
Mein Bruder, mein Bruder
"Schwesterherz, weine nicht" seine Hand strich zärtlich über meine blonden Locken. Es war einer dieser Tage als mein Vater wutschnaubend nach Hause gekommen war und nach Alkohol stank. Er war ein liebender Vater, der seine Frau und seine Kinder vergötterte. Aber manchmal, vielleicht 5mal im Jahr, kam er spät nach Hause, wenn der Tag stressig war und ihm alles zu viel wurde. Dann hatte er in seiner Stammkneipe etwas getrunken, sich mit dem Wirt in Rage geredet und war voller Wut nach Hause gekommen. Er hatte die Kinder angebrüllt, sie sollen gefälligst ins Bett und manchmal hatte er Mutter geschlagen. Nur ein Schlag ins Gesicht....aber Mutter weinte jedesmal bitterlich.
Immer wenn so etwas passierte war mein Bruder für mich da. Er stellte sich vor mich, bis mein Vater sich von uns abwand und ging dann mit mir auf unser Zimmer. Dort nahm er mich in die Arme und tat was er immer tat, wenn ich weinte und nicht mehr aufhörte. Er streichelte mir über mein Haar. Es beruhigte mich. Ich fühlte mich beschützt und geliebt. Es war ein schönes Gefühl....dafür liebte ich meinen Bruder, wie man eben einen Bruder liebt der für einen da ist. Und mein Bruder liebte mich, das jedenfalls glaube ich bis heute.
Jahre vergingen, Jahre der Harmonie, wenn sie auch gelegentlich von Vaters Eskapaden gestört wurden. Aber im Grunde waren wir eine glückliche Familie. Mein Bruder, der 5 Jahre älter war als ich, wurde streng erzogen. Er sollte etwas vernünftiges lernen, auf die Schule gehen, erfolgreich werden. Meine Eltern wollten dass es ihm gut geht, wenn er einmal eine eigene Familie gründete. Für mich war anderes geplant. Ich durfte meine Mutter zu den Einkäufen in die Stadt begleiten, durfte im Haushalt helfen....irgendwann sollte ich auf einen wohlhabenden Mann treffen und vermählt werden. Das war die Planung meiner Eltern. Sie waren nicht reich, nicht wohlhabend....aber sie hatten Kontakte zu den eher gut betuchten Kreisen Londons. Ein paar Händler und Kaufleute, sogar ein paar Künstler und Politiker.
Doch noch bevor alle Wünsche meiner Eltern wahr wurden, bevor ich meinen Mann kennen- und lieben lernte, den einzigen Sohn eines wohlhabenden englischen Kaufmanns und seiner Gattin die eine angesagte Theaterschauspielerin war, bevor mein Bruder aufs europäische Festland ging und Mediziner wurde.....bevor wir alle in eine glückliche Zukunft gingen, durchlebte ich etwas Schreckliches. Etwas unausprechlich Schreckliches.
Es war 1888, ein Jahr wie jedes andere. Mein Bruder war für mich da wie jedes Jahr, jeder Tag war wie die Tage jeden Jahres zuvor. Nur mein Bruder machte mir Angst.
Ich glaube es begann schon im Frühjahr. Es war an einem Sonntag als mein Vater zu meinem Bruder sagte er solle sich um seine Zukunft sorgen. Eine Frau komme schon noch, die solle er erst außer Acht lassen da sie nur seiner Zukunft schaden. "Du wirst früh genug eine gute Frau für dich finden. Schau mich an, ich habe spät geheiratet und trotzdem eine wunderbare Frau bekommen." Mein Bruder war anderer Meinung....er wollte eine Freundin, eine Frau....Liebe. Ich weiß nicht was er wirklich wollte....aber er schrie meinen Vater an: "Auch ich habe Bedürfnisse. Einige meiner Freunde haben auch Freundinnen und sie sind zärtlich zueinander. Das möchte ich auch." Es war das erste Mal und das einzige Mal dass ich hörte wie mein Vater sagte: "Wenn es um die Zärtlichkeiten geht. Dann geh doch zu den leichten Dirnen und gibst ihnen etwas Geld für Zärtlichkeiten." Dann ging er aus dem Zimmer.
Mein Bruder war außer sich vor Wut: "Huren? Ich soll zu Huren gehen?"
Damals war mir nicht wirklich bewußt wovon er sprach. "Bruderherz?! Was sind Huren? Was meint Vater mit Dirnen?"
Er nahm mich in die Arme: "Das ist etwas schlechtes Liebes. Vergiss was Vater sagte."
Wieder strich er über meine Haare. Auch als ich älter war, mochte ich es wenn mein Bruder das tat. Es war dieses Gefühl der Geborgenheit dass ich so mochte. Heute durchläuft mir ein Schauer wenn ich daran denke wie seine Hände über meine Haare strichen, meine Arme streichelten oder mich einfach festhielten. Es macht mir Angst.
Der Sommer war eigentlich recht ruhig. Das Thema jenen Tages kam nie wieder zur Sprache. Nur manchmal hatte ich das Gefühl mein Bruder würde sich immer noch mit etwas plagen. Es kam manchmal vor dass er bis tief in die Nacht wegblieb. Auch wenn es meine Eltern nicht störte, ich hatte Angst. Angst dass er so wütend nach Hause kommt wie Vater es manchmal tat....aber immer wenn mein Bruder nach Hause kam, wie spät es auch war, kam er in mein Zimmer und gab mir einen Gute-Nacht-Kuss. Er sagte immer wieder "Alles wird Gut mein Kleines" und strich mir über die Haare. Manchmal roch er sehr streng....nach Dreck, Kot und nach anderen Dingen die ich nicht einordnen konnte.
Als die ersten Morde begannen, reagierte mein Vater sehr schnell. Ich durfte nicht mehr auf die Straße sobald es draußen dunkel wurde. Auch wenn das EastEnd weit weg von uns lag, machten meine Eltern sich Sorgen. Nur mein Bruder blieb trotzdem manchmal lange fort. An einigen Tagen kam er gar nicht nach Hause. Er sagte nie was er getan hatte, wo er war oder wen er getroffen hatte. Er nahm mich nur in die Arme, streichelte mir übers Haar und sagte das alles gut wird. Das ich ruhig schlafen kann und mir keine Sorgen machen soll.
Ich erinnere mich an einen Streit den er mit meinen Eltern hatte. "Lasst die Kleine nicht den ganzen Tag zu Hause. Sie ist bestimmt sicher." Meine Mutter war es die am schnellsten antwortete: "Niemand weiß wer dieses Monster ist. Und wo er als nächstes zuschlägt. Was ist wenn der Ripper unser kleines Mädchen nimmt?"
Mir machte es Angst wenn meine Mutter so sprach. Auch wenn ich bereits 20 Jahre alt war, war ich immer noch das kleine zu behütende Mädchen gewesen. Es störte mich nicht....aber manchmal machte es mir Angst. Was mir an diesem Tag aber mehr Angst machte, war mein Bruder der sagte: "Jack wird meiner Schwester schon nichts antun." Mehr sagte er nicht. Er nahm seinen Mantel und ging. Und ließ meine Eltern kopfschüttelnd zurück...und mich voller Angst. Warum war er sich so sicher? Und wieso kam es mir vor als würde er Jack the Ripper kennen?
Es war im Oktober 1888 als mein Bruder das erste Mal von seiner Freundin sprach. Und er sprach nur von ihr, wenn außer mir niemand im Zimmer war. "Vielleicht wirst du Mary Jane ja einmal kennenlernen. Sie ist eine wirklich schöne Frau." Er sprach nur gut von dieser Mary Jane. Und er sagte immer "Meine Freundin Mary Jane" oder "Meine kleine Mary".....er gab ihr Kosenamen, so wie er es bisher mit mir getan hatte. Ich freute mich für meinen Bruder, auch wenn ich ihm versprechen musste niemandem etwas von Mary Jane zu sagen.
Am 8. November 1888 war mein Bruder abends wieder einmal gegangen....wohin wußte niemand. Er nahm seinen Mantel und ging einfach. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen....erst kurz vor Sonnenaufgang schlief ich ein. Ich erwachte erst als mein Bruder neben mir hockte und mir über die Haare strich. "Guten Morgen Schwesterchen. Hab keine Angst, alles wird gut. Ich werde auf dich aufpassen, niemand wird dir wehtun. Ich bin immer für dich da, so wie für Mary Jane." Er wippte etwas vor und zurück und seine Augen waren rot unterlaufen....er wirkte müde, aber grinste wie verrückt. Und immer wieder strich er über mein Haar, berührte meine Arme, streichelte mein Gesicht "Mein kleines Schwesterherz, mein kleines Schwesterherz.....mein Ein und alles, ich werde immer bei dir sein." Ich weiß nicht wie lange er bei mir war....mir kam es vor wie eine Ewigkeit. Als er in sein Zimmer ging fühlte ich mich irgendwie elend. Mir war als wäre alle meine Farbe aus meinem Gesicht gewichen, kalter Schweiß rann mir den Rücken herunter. Und irgendwie wußte ich dass etwas nicht stimmte.
Erst einige Stunden später erfuhr ich von den Neuigkeiten. In der Nacht zuvor war wieder eine Frau bestialisch ermordet worden. Erst jetzt fielen mir die Blutflecken ein, die mein Bruder auf den Schuhen hatte als er morgens bei mir war und erst jetzt als ich den Namen des Opfers erfuhr, klingelte und dröhnte es in meinem Schädel unaufhörlich. Das Opfer hieß Mary Jane Kelly.....Mary Jane.....Mary Jane....wie die Freundin meines Bruders.
Die Morde hörten auf. Warum weiß niemand. Einige Monate nach jenem Novembermorgen ging mein Bruder auf das europäische Festland. Irgendwo in der Schweiz war er an einer medizinischen Fakultät tätig. Ich habe so vieles vergessen wollen wie nur möglich. Viele Dinge habe ich in meinem Kopf in irgendwelchen dunklen Ecken versteckt und hoffte sie kämen nie wieder zum Vorschein. Meinen Bruder sah ich nur einige Male und immer wenn ich ihn sah, glänzten seine Augen und er grinste mich an, er nahm mich in die Arme und flüsterte mir ins Ohr: "Ich bin immer für dich da Schwesterherz. Ich beschütze dich." Und immer wieder strich er über mein Haar. Ich konnte es nicht ertragen, aber ich erstarrte jedes Mal zu einer Säule.
Vorgestern war seine Beerdigung. Sein Herz hatte versagt und einfach aufgehört zu schlagen. Wenn er denn ein Herz hatte. Aber er musste eines haben....denn ich glaube bis heute dass er mich liebte wie man eine Schwester liebt. Und manchmal, auch jetzt wieder, fühle ich seine Hände auf meinem Haar: "Ich bin immer für dich da meine kleine Schwester. Ich passe auf dich auf Schwesterherz." Ich weiß nicht warum er Mary Jane nicht beschützen konnte oder wollte.....oder ob es seine Art war sie zu beschützen und die anderen. Aber an jenem Novembermorgen in meinem Zimmer im Jahre 1888 konnte ich in seinen Augen lesen wer mein Bruder war. Was mein Bruder war. Der Horrorherbst...es war mein Bruder, mein Bruder war Jack the Ripper. Und es waren die Hände von Jack the Ripper die mein Haar streichelten seit ich ein kleines Mädchen war, es waren die Finger Jack the Rippers die mit meinen blonden Locken spielten seit ich ein kleines Mädchen war. Es war Jack the Ripper der mir wenn er nach Hause kam einen Gute-Nacht-Kuss gab.