Macleans, 21.09.1988
Ein grässlicher Zauber
Das Jack the Ripper Rätsel trotzt allen Erklärungen.
Es war gegen 4 Uhr am 31. August 1888, als George Cross,
ein Marktträger auf seinem Weg zur Arbeit, eine Frau
in einer dunklen, leeren Straße im Londoner East End fand.
Auf den ersten Blick schien die Frau vergewaltigt und
bewusstlos zurückgelassen worden zu sein, und Cross suchte
Hilfe. Dann kam ein Polizist auf seiner Runde durch das
Arbeiterviertel, sah sich die Frau, später als die
42-jährige Prostituierte Mary Ann Nichols identifiziert,
genauer an und erkannte, dass die Frau tot war - ihr Hals
war durchtrennt und Gesicht und Körper verstümmelt.
Abgesehen von der Brutalität der Verletzungen wäre Nicols
Tod in dem vom Verbrechen heimgesuchten Victorianischen London
nichts Ungewöhnliches. Jetzt hingegen, ein Jahrhundert nach
den Jack the Ripper Morden, ist ihr Name ein Teil der Geschichte
-
als das erste Opfer des noch immer unbekannten Mörders, der
in einer Zeitspanne von zehn Wochen fünf East End Prostituierte
verstümmelte und ausweidete. Damals faszinierte der Mann,
der sich selbst Jack the Ripper nannte, die Zeitungsleser
Britanniens, Europas und Nordamerikas. Ein Jahrhundert
später haben der schattenhafte Mörder und seine grausamen
Taten
weiterhin eine seltsame Anziehungskraft.
Seit den Verbrechen sind über
250 Bücher und zahllose
Artikel erschienen,
ebenso wie 50 Theaterstücke, Filme und Fernsehprogramme. Dieses
Jahr
wurden nicht weniger als sechs Bücher - einschließlich "The
Ripper Legacy,
The Life and Death of Jack the Ripper" von den britischen
Autoren
Martin Howells und Keith Skinner - veröffentlicht, um den
hundertsten
Geburtstag der Morde zu markieren, die zwischen dem 31. August
und
9. November 1888 verübt wurden. Die in London ansässige
Thames Television
hat mit Michael Caine eine vier-Stunden-TV-Serie produziert,
die in
Kanada am 21. und 23. Oktober ausgestrahlt werden wird. Brett-
und
Compterspiele sind kürzlich erschienen und Unternehmen in
London, die Rundgänge durch Whitechapel, wo die Morde stattfanden,
anbieten,
machen einen lebhaften Umsatz, vor allem mit kanadischen und
amerikanischen Touristen.
Mit den Jahren haben Polizeiexperten,
Gelehrte und Historiker eine Liste
von 176 Verdächtigen zusammengestellt, während enthusiastische
Amateure,
die sich selbst "Ripperologen" nennen, eigene Theorien
verfolgen.
Sgt. Donald Rumbelow, ein Polizist der City of London und Autor
des Buches "The complete Jack the Ripper" aus dem Jahre
1975, sagt,
dass er versucht, den falschen Ruhm, der die Morde umgibt, zu beschneiden.
"Der Mythos ist zu groß geworden", so Rumbelow. "Durch
die Zeit wurde eine Fassade
aufgebaut, die dem Fall tatsächlich niemals zuteil wurde."
Rumbelow und einige andere Experten verdächtigen nun stark
Montague Druitt als
den Mörder, ein gescheiterter Rechtsanwalt und Lehrer, dessen
Leiche
kurz nach dem fünften Mord in der Themse gefunden wurde.
In
den letzten Jahren wurde das Interesse durch das Wiederentdecken
von Schlüsseldokumenten und -fotographien wieder verstärkt
geweckt. Letztes
Jahr hat eine unbekannte Person einen Brief, der angeblich von
Jack the
Ripper geschrieben wurde, an Willam Waddell geschickt, dem Kurator
von Scotland Yards Black Museum, welches eine Sammlung von makabren
Ausstellungsstücken von berühmten britischen Mördern
zeigt. Der Brief,
von dem Experten annehmen, dass es sich um eine Fälschung
handelt, wurde
in der Zeit der Morde verfasst und verschwand aus den Scotland
Yard Archiven.
Dann, letzten Monat, haben Nachfahren eines Scotland
Yard Inspektors, der
die Ripper Morde untersuchte, der Polizei Dokumente zukommen lassen,
die
sie in seinen Papieren gefunden hatten, einschließlich Fotographien
der ermordeten Frauen und post-mortem Aufzeichnungen. Dennoch gehen
Experten davon aus, dass das Material keine neuen Rückschlüsse
auf die
Identität des Killers zulasse. Waddell meint, dass das Gewicht
der
existierenden Beweisstücke auf einen der zeitgenössischen
Verdächtigen
hindeute, einen polnischen Juden namens Oscar Kosminski, der ungefähr
ein Jahr nach den Morden in eine Irrenanstalt eingeliefert wurde
und
dort starb.
Über die Jahre hinweg sind zahllose Theorien hervorgebracht
wurden, um
die Identität des Rippers zu enthüllen: 1970 hat der
britische Ermittler
Thomas Stowell für eine Sensation gesorgt, als er einen Artikel
veröffentlichte, in dem er den geistig unzulänglichen
Duke of Clarence, den
Sohn des damals zukünftigen König Edward VII. als Mörder
vorschlug. Der
Montrealer Autor Don Bell meinte in seinem 1974 erschienenen Artikel"Jack
the Ripper, The Final solution", dass der gebürtige
Schotte
Dr. Thomas Neill Cream der Ripper sei. Cream, der 1876 auf Montreals
McGill
Universität mit einem medizinischen Abschluss graduierte,
vergiftete
mindestens acht Menschen zwischen 1876 und 1892 und wurde 1892
gehängt.
Doch keine der Theorien hat Hellen Heller überzeugt,
eine Literatur-Agentin aus
Toronto, die sich über die letzten fünf Jahre monatlich
mit drei weiteren Personen,
einem Lehrer, einem pensionierten Postboten und einem Buchhändler,
traf, um
sich in die Details der Morde zu vertiefen. Ihr Hauptverdächtiger
ist
Jack M'Carthy, der Vermieter des letzten Ripper Opfers, der Prostituierten
Mary Kelly. Kelly hatte, so Heller, ihren Türschlüssel
verloren und konnte nur
ihren Raum betreten, in dem sie durch eine zerbrochene Scheibe
griff, um
einen Bolzen zu entriegeln. Als ihre Leiche entdeckt wurde, war
die Tür
abgeschlossen, was, so Heller, bedeuten würde, dass jemand
den Schlüssel
gefunden hätte oder jemand anderes - wahrscheinlich M'Carthy
- einen
Zweitschlüssel hatte.
Mittlerweile haben die kommerziellen
Anstrengungen, die Ripper-Morde auszuschlachten,
einige Frauengruppen verärgert, die der Meinung sind, dass
die Romantisierung der Morde
von der Brutalität der Verbrechen gegen Frauen ablenke. In
diesem Jahr ist es
einer Frauengruppe bereits mit einer Petition gelungen, die Eigentümer
eines
Jack the Ripper Pubs, einer Kneipe in Londons Commercial Road,
die von einigen
Ripper Opfern besucht wurde, davon abzuhalten, den Kneipennamen
zurück in
den ursprünglichen Namen Ten Bells zu ändern. Susan Carlyle,
eine Labour Party
Abgeordnete, die mit der Interessensgemeinschaft "Action Against
the Ripper"
gearbeitet hat: "Es ist Tatsache, dass Frauen noch immer Angst
haben, sich in
dieser Gegend in der Nacht zu bewegen und dass Männer sich
in einer Position
der Macht sehen." Sie fügt hinzu: "Jack the Ripper
kam damit davon, vielleicht sie auch."
Heller stimmt überein,
dass die Gefahr besteht, dass die Aura des Romantischen
um die Ripper-Morde die schreckliche Brutalität der Morde
verwischen kann."Die Leute machen sich daraus ein Spiel",
so Heller, "das
es aber nicht ist."
Die Tatsache, dass die Identität des Killers noch immer unbekannt
ist, scheint
der Schlüssel zur Faszination zu sein. "Die Legende um
Jack the Ripper hat
eine eigene Identität erschaffen", meint Waddell. "Sie
wurde geschaffen
durch den Geist der Menschen, die ihn identifiziert haben wollen."
Trotz der Brutalität der Verbrechen gibt es keinen Hinweis,
dass der mächtige
Zauber um den mysteriösen Mörder schnell verblassen könnte.
Eastsidemags
(Dokument
zuletzt bearbeitet am 02.12.04)