Hamburger
Fremdenblatt – 13. September
1888
London 12. September
Die Morde in Whitechapel haben wiederum die allgemeine Aufmerksamkeit
aus das Massenelend des Ostens Londons gerichtet. Aber wie ist
der Not abzuhelfen? „Die
Nationalökonomie hat auch ein Word bei dem Problem zu sprechen“,
sagt die „Morning Post“. „Einerseits die Löhne erhöhen
und die Nahrungsmittel billiger zu machen, ist ein großer Schritt zur
Lösung
der Aufgabe. Wie aber soll die veränderliche Nachfrage mit den unveränderlichen
Gesetzen des Angebotes in Einklang gebracht werden? Es ist eine traurige Wahrheit,
dass, wenn alle Wohlhabenden alle ihre Taschen und Koffer leerten und sie den
zahllosen Armen und Bedürftigen schenkten, dem Übel nicht abgeholfen
sein würde. Es wäre ein Eingriff in die Gesetze der Produktion und
das grenzenlose Opfer, so edel es geplant wäre, würde seinen Zweck
vereiteln.“
Die Enthüllung der geheimnisvollen im Stadtteil Whitechapel verübten
Mordtaten macht leider dem Anscheine nach keine Fortschritte. Der dem mosaischen
glauben angehörige Mann, Namens Piser, welcher auf den Verdacht hin, der
unter dem Namen „Lederschürze“ in Whitechapel bekannte Hausierer
zu sein, in welchem die Polizei den Mörder der Chapman zu mutmaßt,
verhaftet worden war, wurde gestern freigelassen.
In der Themse wurde gestern, unweit der Gosvenor-Eisenbahnbrücke die Leiche
einer Frau gefunden, deren Arm vom Rumpf getrennt war. Wahrscheinlich liegt
wiederum ein Verbrechen vor.
Hamburger Fremdenblatt – 13.
September 1888
In den Lustmorden in London. London 11. September
Die amtliche Leichenschau der Annie Chapman ist vorbei; sie hat
nur die Presse berichte bestätigt. Der in Gravesend verhaftete Biggot leidet an Säuferwahnsinn
und wird wohl in ein Irrenhaus abgeführt werden, während die angebliche „Lederschürze“ sich
als ein gewisser „Piser“ herausgestellt hat, der wenig Ähnlichkeit
mit seinem in den Zeitungen ausposaunten Steckbrief hat. Um die Mordstädte
herum stand gestern der Ostend-Pöbel in hellem Hausen; es war eben Montag,
der gewöhnlich zu der Sonnabend-Nachmittag beginnenden Freizeit hinzugezogen
wird. Heute ist es ruhiger geworden; trotzdem kann die Volkseinbildungskraft
es nicht verstehen, wie ein solcher Mord möglich ist in einer Nachbarschaft,
die zu den dichtesten bevölkerten gehört, wo die Arbeit schon vor
Tagesanbruch beginnt, wo ein beständiger Zu- und Abzug von Menschen stattfindet
und wo der von oben bis untern mit Blut bespritzte Mörder nur durch ein
Wunder wachsamen Augen entgehen kann. Dabei wimmelt es von Polizisten, die
seit dem dritten Morde zur Entdeckung des Täters in doppelt und dreifacher
Zahl hinzugezogen worden. Zur Ehre des Menschengeschlechtes wird angenommen,
dass der Mörder ein Verrückter sei, und wohl aus diesem Grunde hat
man die „Lederschürze“ als einen Mann mit blutlosem Gesichte
und starren raubtierhaften Augen ausgestattet. Aber leider hat man schon herausgefunden,
dass diese Beschreibung dem Schriftsteller de Quincey entlehnt ist, der zurzeit
den berüchtigten Mörder John Williams in dieser Weise beschrieb.
Der Abgeordnete Mr. S. Montagu hat für die Entdeckung der Mörder
100 £ ausgesetzt und der wohlhabendere Teil der Bevölkerung des
Distrikts hat sich gleichfalls zu einer Belohnung erboten, die nach den in
Aussicht geltenden Zeichnungen sicherlich eine große Summe repräsentieren
wird. Der Vorschlag, Distrikts-Wachsamkeits-Ausschüsse zu Bilden,
erfreut sich allgemeiner Zustimmung und nimmt bereits eine praktische Form
an. In verschiedenen Arbeiter-Clubs und anderen Vereinen im Distrikt, sowohl
politischen wie gesellschaftlichen, wurden Meetings abgehalten, in denen
der Plan gebilligt ward und Freiwillige angeworben wurden.
Jan Schattling
(Dokument
zuletzt bearbeitet am 19.11.04)