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Freisinnige Zeitung, 14. November 1888

Im englischen Unterhause ist, wie schon in einem Theil unserer gestrigen Ausgabe gemeldet, am Montag von dem Staatssekretär des Innern, Matthews, mitgeteilt worden, daß der Chef der Londoner Polizei, Warren, sein Entlassungsgesuch eingereicht und die Regierung dasselbe angenommen habe. Die Entlassung des Polizeichefs hängt zusammen mit den von uns an anderer Stelle wiederholt gemeldeten Frauenmorden in London, deren Thäter bisher noch immer nicht ermittelt wurden. Dazu kam neuerdings noch, daß der Minister des Innern dem Polizeichef wegen Veröffentlichung eines Artikels in „Murray’s Magazin“ über die Londoner Polizei Rüge erteilte.

Ueber den neuesten Frauenmord in London schreibt man von dort: Es unterliegt kaum einem Zweifel, daß der in Whitechapel unter genau den früheren Umständen verübte Mord auf dasselbe Ungeheuer zurückzuführen ist, welchen nun schon seit Wochen das Ostende Londons mit Schrecken erfüllt. Der Schauplatz des neuen Verbrechens ist keine 200 Yards von Hanbury Street entfernt wo die Nicholls ums Lebens gebracht wurde. Die Ermordete war eine Irländerin, 23 oder 24 Jhare alt, und lebte mit einem Kohlenträger Namens Kelly zusammen, der sie für seine Frau ausgab. Wie die meisten Frauenzimmer ihres Schlages, war sie der Trunksucht stark ergeben. Sie bewohnte ein möblirtes Zimmer in einem Hause in Dorset Street, in dem der Eingang von Miller’s Court aus führte. Ein pensionirter Soldat Namens Bowyer, welcher in den Diensten McCarthy’s steht, war der Erste, welche die Mordthat entdeckte. Da die Kelly mit ihrer Miethe im Rückstande war, begab er sich früh in ihre Wohnung, um die schuldige Summe einzukassiren. Nachdem er vergeblich an die Thür geklopft und keine Antwort erhalten hatte, schob er von außen die Fensterladen zurück, worauf sich der grausam verstümmelte blutige Leichnam der Unglücklichen seinen Augen darbot. Sofort wurde die Polizei benachrichtigt. In dem ärmlich ausgestatteten Zimmer lag das ermordete Frauenzimmer auf dem Bette. Nichts ließ auf einen Kampf schließen, und ebenso wurde kein Messer oder sonstiges Instrument gefunden. Der verstümmelte Leichnam wurde in eine Kiste gepackt und nach der Morgue in Shoreditch gebracht, wo die Leichenbeschauer-Untersuchung abgehalten wird. Bemerkenswert ist, daß von den anwesenden Aerzten festgestellt wurde, daß, entgegengesetzt den früheren Mordthaten, kein Stück des Körpers fehlte. Der Liebhaber der Ermordeten, Kelly, hat jedenfalls nichts mit dem Vebrechen zu thun. Des Dedektives ist es aufgefallen, daß die Mordthaten stets am Ende der Woche verübt werden, und sie halten es daher für möglich daß einer der Fleischer der am Donnerstag und Freitag in London eintreffenden und am Sonntag oder Montag wieder fortsegelnden Viehdampfer der Mörder sein könnte. Bestimmte Anhaltspunkte liegen für diese Annahme nicht vor. Die Polizei hat jetzt zwei Verhaftungen anläßlich des Verbrechens vorgenommen. Beide Verdächtige mußten jedoch als unschuldig entlassen werden. Auch „Jack der Aufschlitzer“ hat wieder etwas von sich hören lassen und in einem an die Polizei gerichteten Briefe angekündigt, daß er seine Thätigkeit in dem Stadtteil Marylebone wieder aufnehmen werde, wo er zwei Frauenzimmer bereits für seine Zwecke notirt habe. Dem Briefe wird natürlich wenig Beachtung geschenkt, wenn auch die Polizei daraufhin einige Vorsichtsmaßregeln trifft. Die Aufregung in Whitechapel kennt kaum noch Grenzen.

 

Thomas Schachner
(Dokument zuletzt bearbeitet am 20.11.06)