09 - Im Arbeitshaus
Mein Körper verzeihe mir all die Häßlichkeit, durch die ich ihn geschleppt, und mein Magen die Unsauberkeit, die ich ihm geboten habe! Ich bin in der „Penne" gewesen, habe dort geschlafen und gegessen und — bin durchgebrannt.
Nach meinen zwei mißglückten Versuchen, in das Arbeitsasyl von Whitechapel einzudringen, wußte ich, daß ich früh beginnen mußte, und schon vor drei Uhr nachmittags schloß ich mich der traurigen Reihe der Wartenden an. Die Herberge wurde nicht vor sechs geöffnet, und doch war ich der zwanzigste; es hieß, daß nur zweiundzwanzig eingelassen werden würden. Gegen vier Uhr warteten vierunddreißig Mann; die letzten zehn klammerten sich offenbar an die Hoffnung, daß ein Wunder geschehen sollte. Es kamen immer wieder neue, die die wartende Schar sahen und wieder gingen, als sie sich darüber klar geworden waren, daß die „Penne" voll war.
Die Unterhaltung ging anfangs etwas träge, dann aber entdeckte der, welcher an der einen Seite von mir stand, daß er mit dem auf meiner andern Seite zusammen im Pockenhospital gelegen hatte; da es voll gewesen war, sechzehnhundert Patienten, hatten sie sich jedoch nicht näher kennen gelernt. Jetzt aber holten sie das Versäumte nach, diskutierten miteinander und verglichen die widerwärtigen Symptome ihrer Krankheit auf die kaltblütigste und offenste Art.
Ich erfuhr, daß im Durchschnitt einer von sechs starb, daß der eine von ihnen drei Monate lang gelegen hatte, der andere dreiundeinenhalben Monat, und daß sie fast bei lebendigem Leibe verfault waren.
Ich merkte, daß ich eine Gänsehaut bekam, und fragte sie, seit wann sie wieder draußen waren. Der eine war vor zwei, der andere vor drei Wochen entlassen worden. Ihre Gesichter hatten schreckliche Narben, obwohl jeder dem andern versicherte, daß ihm nichts mehr anzusehen war, und sie zeigten mir, daß auf ihren Händen und unter den Nägeln noch Pockenbeulen saßen. Der eine von ihnen drückte sogar, um die Krankheit zu demonstrieren, eine der kleinen Pocken aus, daß der Eiter aus seinem Fleisch sprang. Ich versuchte, mich in meinen Kleidern ganz klein zu machen, und hegte innige und stille Hoffnung, daß nichts davon mich getroffen hätte.
Beide Männer waren durch die Pocken an den Bettelstab gebracht worden. Sie hatten beide, als sie angesteckt wurden, Arbeit gehabt; bei ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus waren sie von der Krankheit gebrochen und hatten keine andere Aussicht als einen verzweifelten Kampf, um wieder Arbeit zu bekommen. Vorläufig war es ihnen mißglückt, und nun standen sie hier, um nach drei Tagen und Nächten auf der Straße zu versuchen, ein Dach über dem Kopfe zu bekommen. Nicht nur den, der alt wird, bestraft ein unverschuldetes Schicksal, sondern auch den, der von Krankheit oder einem Unglücksfall betroffen wird. Später sprach ich mit einem Manne, der „Ingwer" genannt wurde; er stand ganz vorne in der Schar, woraus hervorging, daß er mindestens seit ein Uhr gewartet haben mußte. Vor einem Jahre hatte er bei einem Fischhändler gearbeitet und sich an einer Kiste mit Fischen verhoben. Es zersprang etwas in ihm; und er lag da mit dem Kasten.
Im ersten Krankenhaus, wohin man ihn sofort brachte, sagte man, es sei ein Muskelriß, man behandelte ihn, daß die Schwellung zurückging, und gab ihm etwas Vaseline zum Einreiben; man behielt ihn vier Stunden und schickte ihn dann wieder weg. Nach einigen Stunden fiel er wieder um. Diesmal kam er in ein anderes Krankenhaus und wurde wieder zusammengeflickt. Das schlimmste war, daß sein Arbeitgeber tatsächlich nichts für diesen Mann tat, der in seinem Dienst zu Schaden gekommen war, ja, sich sogar, als er aus dem Krankenhaus entlassen war, weigerte, ihm hin und wieder leichtere Arbeit zu geben. Ingwer ist jetzt erledigt. Seine einzige Möglichkeit, sich seinen Unterhalt zu verdienen, war schwere Arbeit. Dazu ist er nicht mehr imstande, und von jetzt an bis zu seinem Tode hat er nur noch Aussicht auf Armenhäuser, öffentliche Speisungen und die Straße. Ein Unfall hat ihn betroffen — das ist alles. Er hob eine zu schwere Last Fische, und das Konto des Glücks wurde in den Büchern seines Schicksals abgeschlossen.
Mehrere der Wartenden waren einmal in Amerika gewesen, und sie verfluchten ihre Dummheit, weil sie nicht drüben geblieben waren. England war das Gefängnis geworden, aus dem sie nicht mehr entkommen konnten.
Ich war der „Seemann, der Kleider und Geld verloren hatte", und sie hatten alle Mitleid mit mir und erteilten mir gute Ratschläge. Vor allem sollte ich mich vor Stätten wie die „Penne" hüten, sehen, wieder an die Küste zu gelangen und mit einem Schiff wegzukommen; ich sollte versuchen, Arbeit zu finden und ein Pfund zu verdienen, um den Obersteward zu bestechen, daß er mir erlaubte, mich „hinüberzuarbeiten". Sie priesen meine Jugend und Stärke, die mir wohl bald aus dem Lande helfen würden. Das waren Eigenschaften, die ihnen selbst fehlten. Alter und englische Krankheit hatten sie zu Boden geschlagen, und sie fühlten, daß sie außer Spiel gesetzt waren.
Einen aber gab es unter ihnen, der noch jung war, und von dem ich sicher bin, daß er sich durchbeißen wird. Als ganz junger Mensch war er nach Amerika gegangen, und in den vierzehn Jahren, die er drüben geblieben war, hatte seine längste Arbeitslosen-Periode zwölf Stunden gedauert. Er hatte sich etwas Geld zurückgelegt und war in sein Vaterland zurückgekehrt. Jetzt stand er in der Reihe vor dem Asyl.
Wie er mir erzählte, hatte er die letzten paar Jahre als Koch gearbeitet, aber die lange Arbeitszeit wie die Arbeit selbst war so aufreibend, daß er sie niedergelegt hatte. „Ich hatte mir etwas Geld gespart, aber es ging drauf, während ich mich nach einem andern Posten umsah", erklärte er.
Es war das erstemal, daß er sich vor der „Penne" aufstellte, und das nur, um sieh ein bißchen auszuruhen; sobald das geschehen war, wollte er zu Fuß nach Bristol, etwa hundertzehn Meilen weit, von wo er mit einem Schiff nach Amerika zu kommen hoffte.
Die andern in der Reihe waren nicht von seinem Kaliber. Einige waren elende Wracks, gleichgültig und gefühllos und doch in mancher Beziehung durchaus Menschen. Ich entsinne mich, wie ein Kutscher, der wohl von der Arbeit heimkehrte, seinen Wagen gerade vor uns anhielt, damit sein hoffnungsvoller Sprößling, der ihm entgegengelaufen war, zu ihm heraufkrabbeln konnte. Aber der Wagen war groß und der Junge klein, und sein Versuch, hinaufzukommen, mißglückte immer wieder. Da trat eines der zerlumpten Individuen aus der Reihe und hob den Jungen hoch. Der Kernpunkt hierbei ist, daß hier eine Liebestat geübt wurde. Der Kutscher war arm, und das wußte der andere; aber er reichte ihm trotzdem eine helfende Hand, der Kutscher dankte ihm, wie Sie und ich einander gedankt hätten. Einen andern schönen Zug beobachtete ich bei einem Hopfenpflücker und seiner „Alten". Er stand eine halbe Stunde in der Reihe, als die „Alte" zu ihm kam. Sie war verhältnismäßig gut gekleidet und hatte einen verblichenen Hut auf ihrem grauen Kopf und ein Sackleinenbündel auf dem Arm. Während sie sich unterhielten, streckte er die Hand aus, faßte eine kleine Strähne verblichenen Haares, die sich gelöst hatte, drehte sie zwischen den Fingern und strich sie ihr hinters Ohr. Man kann viele Schlüsse aus diesem kleinen Zug ziehen. Er liebte sie sicher, da er wollte, daß sie hübsch und nett aussah. Er war direkt stolz auf sie, während wir hier vor dem Armenhaus standen, und er wollte gern, daß die andern Unglücklichen fänden, daß sie gut aussah. Vor allem aber zeugte es von treuer Ergebenheit, denn kein Mann zerbricht sich den Kopf darüber, ob eine Frau, für die er sich nicht interessiert, hübsch und nett ist, es könnte ihm nicht einfallen, auf ihr Aussehen eitel zu sein. Ich wunderte mich, daß dieser Mann und diese Frau, die, nach dem, was sie sprachen, schwer arbeiteten, es nötig hatten, hierher zu kommen. Er war ja stolz — stolz auf seine Frau und stolz auf sich. Als ich ihn fragte, was ich seiner Meinung nach als Anfänger mit Hopfenpflücken verdienen könnte, betrachtete er mich und sagte, das beruhte auf den Umständen. Viele wären zu langsam; ein Mann, der Geld verdienen wollte, müßte seinen Kopf gebrauchen und schnelle Finger haben. Er und seine Frau kämen schon durch, denn sie arbeiteten zusammen und schliefen nicht bei der Arbeit; aber sie hätten auch vierjährige Übung. Ein Mann in der Reihe fiel ein: „Ich hatte einen Kameraden, der voriges Jahr zum erstenmal pflückte und mit zwei Pfund zehn in der Tasche nach einem Monat heimkam." „Da siehst du", sagte der Hopfenpflücker mit einer Welt von Bewunderung in seiner Stimme. „Er war direkt dazu geboren."
Zwei Pfund und zehn, wenn man direkt dazu geboren ist. Und dann muß man nachts draußen schlafen — ohne Decken — und leben, Gott weiß, wovon. Ich glaube, ich muß dankbar sein, daß ich nicht „direkt für etwas geboren bin", nicht einmal zum Hopfenpflücken.
Der Pflücker gab mir verschiedene gute Ratschläge betreffs Anschaffung der notwendigen Ausstattung für das Geschäft. Hört zu, ihr warmherzigen, sanften Menschen; gesetzt, ihr solltet selber in der Großstadt London scheitern!
„Wenn du nicht Blechgeschirr und Kocheinrichtung hast, mußt du von Brot und Käse leben. Das taugt nichts. Du mußt Tee und Gemüse und hin und wieder ein bißchen Fleisch haben, wenn du etwas schaffen willst, das wirklich Arbeit genannt werden kann. Ich will dir sagen, was du tun mußt, mein Junge. Mache morgen eine Runde und sieh in den Mülleimern nach. Du wirst schon Blechgeschirr finden. Es gibt direkt feine Dinge darunter. Meine Alte und ich kriegten unseres auf die Weise." Er zeigte auf das Bündel, das sie trug, und nickte mir zuversichtlich und freundlich zu, als sei er sicher, daß ich schon Geld verdienen und durchkommen würde.
„Dieser Überzieher ist so dick wie eine Decke", fuhr er fort und zeigte mir das Futter, damit ich sehen sollte, wie dick es war. „Und wer weiß, ob ich nicht eines Tages eine richtige Decke finde." Die alte Frau nickte wieder strahlend, sicher, daß er bald eine Decke finden würde. „Hopfenpflücken nenne ich ein reines Vergnügen", schloß er. „Eine leichte Art, zwei bis drei Pfund zu verdienen, um etwas für den Winter zu haben.
Das einzige, was ich nicht mag" — hier wurde der Ton bedeutend kleinlauter — „ist das Herumlaufen."
Es war klar, daß dieses Paar das Gewicht der Jahre zu fühlen begann, und ich sah auf ihr graues Haar und dachte zehn Jahre in die Zukunft, und was dann aus ihnen werden mochte. Die Straße, in der wir standen, war von Mauer zu Mauer kaum zwanzig Fuß breit. Die Bürgersteige waren drei Fuß breit; es war eine Wohnstraße; jedenfalls führten einige Arbeiter mit ihren Familien eine Art Dasein in den Häusern gegenüber. Und jeden einzigen Tag Gottes von eins bis sechs war unsere zerlumpte Schar alles, was sie von ihren Fenstern und Türen aus sehen konnten. Gerade gegenüber saß ein Arbeiter in seiner Tür, ruhte sich aus und schöpfte Luft nach der Mühe des Tages. Seine Frau trat heraus, um mit ihm zu reden; er mußte aufstehen, da nicht zwei in der Tür sitzen konnten. Ihre kleinen Kinder krabbelten zu ihren Füßen herum. Weniger als zwanzig Fuß von ihnen entfernt standen die Armenhäusler — weder für den Arbeiter noch für die Armen gab es etwas wie ein Privatleben. Rings um uns spielten die Kinder der Nachbarschaft. Unser Dasein bot ihnen nichts Ungewöhnliches. Wir gehörten hierher, wie die Steinmauern und Türschwellen der benachbarten Häuser. Seit ihrer Geburt sahen sie die Schar vor der „Penne"; solange sie existierten, hatte sie dagestanden.
Um sechs Uhr rückte die Reihe vor, und wir kamen je zu dritt hinein. Der Vorsteher notierte blitzschnell unsere Namen, Alter, Stellung, Geburtsort, jetzige Stellung und die Unterkunft der letzten Nacht. Als ich mich umdrehte, drückte mir zu meiner Überraschung ein Mann etwas in die Hand, das mich an einen Mauerstein erinnerte; und gleichzeitig rief er mir ins Ohr: „Messer, Streichhölzer und Tabak?" „Nein", log ich wie alle anderen, die hineinkamen. Als ich in den Keller ging, betrachtete ich den Mauerstein in meiner Hand und mußte einräumen, daß man die Sprache verfälschen mußte, um ihn Brot zu nennen.
Im Keller war nur schwaches Licht, und ehe ich es wußte, hatte ein anderer Beamter mir eine Kasserolle in die Hand gesteckt. Dann tastete ich mich in ein noch dunkleres Zimmer, das voll von Tischen, Bänken und Menschen war. Es roch schrecklich, und das gedämpfte Licht und das Geräusch der murmelnden Stimmen aus der Dunkelheit erweckten Vorstellungen vom Vorhof der Hölle. Die meisten Männer hatten schlimme Füße, und ehe sie essen sollten, zogen sie die Schuhe aus und wickelten die schmutzigen Lumpen ab, in die sie die Füße gewickelt hatten. Das machte die ganze Szenerie noch widerwärtiger und nahm mir völlig den Appetit.
Ich mußte jetzt für einen großen Irrtum büßen, dessen ich mich schuldig gemacht hatte. Ich hatte vor fünf Stunden gut zu Mittag gegessen und hätte mindestens ein paar Tage fasten müssen, um dem Essen, das mir jetzt geboten wurde, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Kasserolle war mit drei achtel Liter Grütze gefüllt, die in diesem Fall aus Maismehl und warmem Wasser bestand. Die Männer stippten ihre Brote in einige Haufen Salz, die auf den schmutzigen Tisch gestreut waren. Ich versuchte es ebenso zu machen, aber das Brot blieb mir im Halse stecken, und mir fiel das Wort des Zimmermanns ein: „Das Brot in der Penne ist so hart, daß man einen halben Liter Wasser dazu trinken muß." Ich begab mich in eine finstere Ecke, wo ich die andern hatte hingehen sehen, und hier fand ich Wasser. Dann ging ich wieder zu meiner Grütze zurück. Sie war dick, geschmacklos, klumpig und bitter. Sie war Übelkeit erregend. Ich kämpfte männlich gegen die Übelkeit an, aber sechs Mundvoll war alles, was ich hinunterbringen konnte. Mein Nebenmann aß seine eigene Portion und meine noch dazu, kratzte die Kasserollen aus und sah sich gierig nach mehr um. „Ich traf einen Herrn, der mir etwas zu essen gab", erklärte ich.
„Ich hab' seit gestern morgen keinen Bissen gekriegt", antwortete er.
„Glaubst du, daß es mit dem Tabak gehen wird?" fragte ich. „Ob sie etwas merken?" „Bewahre", antwortete er. „Da brauchst du nicht bange zu sein. In der Beziehung ist das hier die beste Penne. Du solltest die andern kennen; da untersuchen sie einen bis auf die Haut." Als die Kasserollen ausgekratzt waren, begann unsere Unterhaltung in Gang zu kommen. „Der Verwalter hier schreibt immer Unsinn über uns in den Zeitungen", erklärte der Mann, der neben mir saß.
„Was schreibt er denn?" fragte ich. „Ach, er sagt, wir taugen zu nichts und sind eine Bande Räuber und Schurken, die nicht arbeiten wollen. Er tischt immer wieder die alten Geschichten auf, die ich jetzt seit zwanzig Jahren gehört habe. Aber in Wirklichkeit habe ich nie etwas davon gesehen. Das letzte, was ich von ihm las, handelte von einem Strolch, der aus der Penne kam und eine Brotkruste in der Tasche hatte, jedesmal, wenn er einen netten alten Herrn anspazieren kommen sah, warf er die Kruste in den Rinnstein und bat den alten Herrn, ihm seinen Spazierstock zu leihen, um sie herauszufischen. Dann gab der alte Herr ihm sechs Pence." Ein Sturm von Beifall begrüßte die wohl angebrachte Geschichte, und dann erklang irgendwoher aus der Dunkelheit eine andere Stimme zornig:
„Es ist so viel die Rede davon, daß man auf dem Lande leicht durchkommen kann. Gott weiß, wo das ist. Ich komme gerade von Dover; da gönnt einem keiner einen Schluck Wasser, geschweige denn etwas zu essen."
„Es gibt viele, die nie aus Kent herauskommen," sagte eine neue Stimme, „und die leben doch im vollen."
„Ich bin durch Kent gekommen," antwortete die erste Stimme, „und Gott verfluche mich, wenn mir jemand auch nur eine Brotkruste gegeben hätte. Im übrigen hab' ich gemerkt, daß Kerle, die damit prahlen, wieviel sie sich erfechten können, sich schön über die Grütze hermachen, wenn sie in die Penne kommen."
„Es gibt Burschen hier in London," sagte ein Mann mir gegenüber am Tische, „die kriegen, was sie brauchen, ohne je auf dem Lande arbeiten zu müssen. Sie bleiben das ganze Jahr in London. Und denken auch nie daran, sich vor neun, zehn Uhr abends ein Bett zu verschaffen." Der ganze Chor bestätigte diese Äußerung. „Aber sie sind auch verflucht gerissen, die Kerle", fügte eine bewundernde Stimme hinzu. „Ja, bei Gott, das sind sie", sagte ein anderer. „Aber so können wir nicht alle sein; das muß einem angeboren sein. Die Burschen haben von Geburt an Wagentüren geöffnet und Zeitungen auf der Straße verkauft, und ihre Eltern haben dasselbe getan. Es ist alles Übung; du und ich, wir würden dabei verhungern."
Der Chor bestätigte auch diese Äußerung sowie eine weitere, daß es arme Teufel gäbe, die das ganze Jahr hindurch nichts anderes zu essen bekämen als Grütze und Brot im Arbeitshaus. „Ich hab' einmal in der Stratford-Penne eine halbe Krone verdient", erklärte eine neue Stimme. Sofort wurde es still, alle lauschten auf die wunderbare Begebenheit. „Wir sollten zu dritt Steine klopfen. Es war Winter, und wir froren ganz schrecklich. Die andern sagten, sie wollten ewig verdammt sein, wenn sie auch nur einen Stein zerklopften, und sie taten es auch nicht. Ich aber machte mich dran, um Wärme in den Leib zu kriegen. Und dann kamen die Aufseher, und die beiden andern wurden auf vierzehn Tage eingesperrt; als die Aufseher aber sahen, was ich gemacht hatte, gaben sie mir jeder sechs Pence." Die meisten, nein, alle haßten das Asyl und kamen nur hin, wenn sie nicht mehr ein und aus wußten. Hatten sie sich ausgeruht, dann konnten sie zwei oder drei Nächte auf der Straße bleiben, aber dann mußten sie wieder hin.
„Penne suchen" nennt man das Vagabundieren hier. Das schwierigste Problem ist, Unterkunft für die Nacht zu finden. Das ist noch schwerer, als etwas zu essen zu bekommen. Das harte Klima und die strengen Gesetze sind schuld daran, während sie es selbst der Einwanderung von Polen und russischen Juden zuschrieben; die arbeiten für geringeren Lohn und nach dem Schwitzsystem.
Gegen sieben wurden wir nach oben gerufen, um zu baden und ins Bett zu gehen. Wir zogen uns aus, stopften das Zeug in den Mantel, banden den Hosenriemen herum und warfen unsere Lumpen dann in einem einzigen großen Haufen auf den Fußboden — eine reizende Art, um unsere Läuse durcheinander zu bringen. Dann kamen wir zu zweit und zweit in den Baderaum, wo zwei Wannen standen. Und so viel ist sicher, daß die beiden vor uns sich in demselben Wasser gewaschen hatten wie wir, und es wurde auch nicht erneuert, ehe die nächsten kamen. Man kann sicher ruhig davon ausgehen, daß alle zweiundzwanzig sich in demselben Wasser wuschen.
Ich tat, als wüsche ich mich in diesem zweifelhaften Napf, dann rieb ich mich schleunigst mit einem Handtuch ab, das naß von den Leibern der andern war. Es beruhigte mich nicht gerade, als ich sah, daß der Rücken eines der armen Teufel eine einzige blutige Masse vom Angriff der Läuse und seinem ewigen Kratzen war. Man reichte mir ein Hemd, das sicher schon mehrere vor mir angehabt hatten; und dann trottete ich mit ein paar Decken unter dem Arm in den Schlafsaal.
Der Saal war ein langer, schmaler, durch zwei eiserne Stangen geteilter Raum. Zwischen den Stangen hingen — nicht etwa Hängematten — sondern einige Stücke Leinwand, sechs Fuß lang und weniger als zwei Fuß breit. Das waren die Betten. Sie waren nur sechs Zoll voneinander entfernt und hingen nur acht Zoll über dem Fußboden. Dazu hatte man die Schwierigkeit zu überwinden, daß das Kopfende höher als das Fußende war, so daß man immer wieder herabglitt. Sobald ein Mann sich rührte, wurden alle andern Kojen auch in Bewegung gesetzt, und jedesmal, wenn ich gerade einschlafen wollte, mühte sich irgendeiner ab, um die Lage wieder einzunehmen, aus der er herabgeglitten war.
Mehrere Stunden vergingen, ehe der Schlaf mich überwältigte. Es war erst sieben Uhr, als wir zur Ruhe gingen, und das Geschrei und Gebrüll der Kinder auf der Straße dauerte bis fast um Mitternacht. Der furchtbare Gestank war erstickend, meine Phantasie begann zu arbeiten, und ich fühlte ein Kribbeln am Körper, daß ich fast wahnsinnig wurde. Grunzen, Brummen und Schnarchen ertönten wie von einem furchtbaren Meeresungetüm. Und mehrmals weckte einer von uns alle übrigen, wenn er, vom Alpdruck geplagt, plötzlich schrie und heulte. Bei Tagesanbruch wurde ich dadurch geweckt, daß eine Ratte oder ein ähnliches Tier mir über die Brust kroch. Auf der Grenze zwischen Schlafen und Wachen, ehe ich noch meiner Herr werden konnte, stieß ich ein Gebrüll aus, das Tote erweckt hätte. Jedenfalls weckte ich die Lebenden, und sie verfluchten mich von allen Seiten wegen meines Mangels an Lebensart. Endlich brach der Morgen an, und um sechs gab es Frühstück, Brot und Grütze, die ich weitergehen ließ; dann wurden wir über unsere Arbeit unterrichtet. Acht von uns wurden nach dem Krankenhaus von Whitechapel gebracht, wo wir reinmachen mußten. Auf diese Art mußten wir für die Grütze und das Stückchen Leinen bezahlen, und so viel weiß ich jedenfalls, daß ich weit mehr als billig dafür bezahlen mußte.
„Rühr' das nicht an, Kamerad, die Krankenschwester hat gesagt, daß es lebensgefährlich ist", warnte mein Arbeitsgenosse mich, während ich einen Sack hielt, in den er einen Abfallbehälter leerte.
Diesen Sack und mehrere andere mußte ich fünf Stockwerke hinunterschleppen und in einen großen Behälter schütten, wo alles schnell mit einer desinfizierenden Flüssigkeit besprengt wurde.
Vielleicht steckte göttliche Barmherzigkeit hinter alledem. Diese Menschen der Armenhäuser, Speiseanstalten und Straßen bringen ja nur Ungelegenheit. Sie leben keinem zu Nutz und Freude, nicht einmal sich selber. Sie belasten die Erde nur durch ihre Existenz, und es ist am besten, sie loszuwerden. Und von Arbeit erschöpft, schlecht ernährt und schlecht gepflegt, sind sie stets die ersten, die von Krankheit betroffen werden, und zugleich die, die am schnellsten unterliegen. Wir sprengten mit der desinfizierenden Flüssigkeit beim Leichenhause, als der Leichenwagen erschien und fünf Leichen holte. Da kam das Gespräch auf das „weiße Pulver" und die „schwarze Mixtur", und ich erfuhr, daß alle sich einig waren, daß arme Männer und Frauen, die dem Krankenhaus besondere Mühe machten oder besonders schwer angegriffen waren, einfach „expediert" wurden; sie bekamen „schwarze Mixtur" oder „weißes Pulver" und wurden in die Ewigkeit geschickt.
Ob das stimmt, ist von untergeordneter Bedeutung. Die Hauptsache ist, daß es allgemein geglaubt und durch die Worte „schwarze Mixtur", „weißes Pulver" und „expediert" ausgedrückt wird.
Gegen acht wurden wir in einen Keller geführt und erhielten Tee und allen möglichen Abfall vom Hospitalessen. Der Abfall war auf einem mächtigen Teebrett aufgehäuft — Brotscheiben, Fettklumpen, Fleischstücke, die angebrannte Haut von gebratenem Fleisch, Knochen, kurz alle Überreste von den Mündern und Fingern der vielen an verschiedenen Krankheiten leidenden Patienten. Die Männer bohrten ihre Hände in diese Masse, gruben und suchten darin herum, wendeten und drehten sie, verschmähten oder griffen gierig zu. Es sah häßlich aus. Schweine hätten es nicht häßlicher tun können. Aber die armen Teufel waren hungrig, sie fraßen wild vom Schweinefutter, und als sie nichts mehr in sich hineinstopfen konnten, banden sie das, was übrig war, in ihre Taschentücher und steckten es unter ihr Hemd.
„Was meinst du, was ich das letztemal hier draußen gefunden habe?" sagte Ingwer zu mir. „Eine ganze Menge Karbonadenknochen." Mit „draußen" meinte er die Stelle, wo alles faule Zeug mit desinfizierender Flüssigkeit besprengt wurde. „Es saß noch eine Menge daran, lauter schieres Fleisch; und ich nahm es schnell und war mit einem Sprung auf der Straße, ich wollte sehen, ob ich nicht in aller Eile jemand fand, dem ich es geben konnte. Aber es war keine Menschenseele zu sehen, und ich schoß davon wie ein Besessener, und der Aufseher hinter mir her, in dem Glauben, daß ich durchbrennen wollte. Aber ehe er mich einholen konnte, erwischte ich eine alte Frau und stopfte ihr die Karbonaden in die Schürze." — O Barmherzigkeit! O Wohltätigkeit! Steigt tief hinab ins Arbeitshaus und nehmt Unterricht bei „Ingwer". In der Tiefe des Abgrunds handelte er so edel und menschlich, wie wir es je über dem Abgrund getan. Das war brav von Ingwer, und selbst, wenn die arme Frau von dieser „Menge schieren Fleisches" an den Karbonadenknochen krank geworden ist, so war es doch eine schöne Tat. Das Auffallendste daran ist meiner Meinung nach jedoch, daß der arme Ingwer sich wie ein Besessener benahm bei dem Gedanken, daß soviel Essen vergeudet werden sollte.
Wer diese Arbeitshäuser aufsucht, bleibt in der Regel zwei Nächte und einen Tag; aber ich hatte mehr als genug gesehen. Ich hatte mein Stück Leinen und meine Grütze teuer genug bezahlt und schickte mich an, fortzulaufen. „Komm, laß uns sehen, hinauszukommen", sagte ich zu einem meiner Kameraden und zeigte auf das Tor, das hinter dem Leichenwagen noch nicht geschlossen war.
„Um vierzehn Tage zu kriegen?" „Nein, sie fangen uns nicht!" „Ich bin hergekommen, um mich auszuruhen", sagte er sanft. „Und noch eine Nacht Schlaf wird mir nicht schaden."
Diese Auffassung teilten sie alle, so daß mir nichts übrigblieb, als allein durchzubrennen. „Dann kannst du nie wieder herkommen und ein Bett kriegen", warnten sie mich. „Nein, glücklicherweise!" rief ich mit einer Freude, die sie nicht faßten.
Dann schlüpfte ich zum Tor hinaus und ging auf die Straße.
So schnell ich konnte, eilte ich heim in mein Zimmer, zog mich um, und kaum eine Stunde nach meiner Flucht lag ich in einem türkischen Bad und schwitzte alle Krankheitskeime und was ich sonst mitgebracht haben mochte, aus; und ich wünschte nur, ich hätte eine Temperatur dreimal so hoch wie der Siedepunkt vertragen können.