Autor Thema: Tagebuchblätter aus Whitechapel  (Gelesen 7818 mal)

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Tagebuchblätter aus Whitechapel
« am: 09.06.2011 17:51 Uhr »
Folgender Artikel stammt aus Der Jude, Jg 3 (1918) Nr 4, S. 169-180, und wurde von Norbert Einstein verfasst.

Quelle: http://www.compactmemory.de/

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Re: Tagebuchblätter aus Whitechapel
« Antwort #1 am: 09.06.2011 17:52 Uhr »
TAGEBUCHBLÄTTER AUS WHITECHAPEL
Heute fuhr ich bei einem meiner vielen Streifzüge durch Whitechapel. Mein englischer Freund erklärte mir notdürftig diese Gegend und schilderte mir das vagabundische und verbrecherische (alle Engländer glauben daran) Treiben dieser Stadtgegend. Ich saß wertlos im Motorcar und wußte, daß mein Begleiter mir diese Welt nicht erhellen würde und daß das elegante Schleudern im Motorcar durch Petticoat Lane oder Whitechapel Highroad keinen Begriff gibt von der Erscheinung und dem ganz besonderen Sinn dieser Welt. So ließ ich ihn reden über den Board of Guardians, die Toynbee Hall und alle möglichen Wohlfahrtseinrichtungen, über das äußere und innere Schicksal dieser Juden. Ich hatte Morris Rosenfeld gelesen und fand in ganz losem Zusammenhang auf dem Wege Verse dieses Dichters. Die Luxusausgabe dieser Verse beschämte mich ebenso wie der Umstand, daß mich das elegante Auto durch Whitechapel führte. Ich hatte im ersten Augenblick eine starke Beschämung jüdischen Gefühls. Ich erinnerte mich an deutsche Freunde, die genau so nebensächlich von ihrer Fahrt oder ihrem Besuch Whitechapels erzählten wie von der Begeisterung über ihre Frühstücke in eng1ìschenHo1:e1s. Ich war sehr verstimmt an diesem Tag. Ich erlebte das Va banque-Spiel, daß mich dieses jüdische Milieu nicht beleben und erregen könne, wenn ich mir Mühe gebe. Ich erlebte die Enttäuschung, daß, wenn ich mir jetzt heftig zurede, Whitechapel und diese ganz unerhörte jüdische Welt auch ein Blick sein könne durch das Londoner Kaleidoskop wie viele andere -- wie das Leben an den India­Docks und die Geschäftigkeit der Regent-Street, wie ein eleganter Tea oder das Leben in den Fischhallen von Billingsgate. Aber am Abend bei der Shawschen Satire gingen meine Gedanken immer Wieder zurück zu der Unordenblichkeit von Petticoat Lane, zu ein paar merkwürdig erhaltenen jüdischen Gesichtern, zu Schmutz und einem Stück gleichsam geadelter Verkommenheit. Whitechapel ging in meinen Gedanken Wie eine Welt, die in völliger Ahnungslosigkeit über ihre eigene Bestimmung lebt, wie eine Welt, die nicht Anfang und Ende kennt, und die in ihrer trostlosen Unkenntnis über ihre eigene Unentdecktheit lebt. Ich sah schon ein paar Züge dieser Straßen: sie kriechen aus Schmutz und Verkornrnenheit zu Licht und Kraft. Und was sie niederhält, ist ihre Abschließung von dem Herzen der Stadt, das in ihrer nächsten Nähe pocht. Was diese Straßen niederhält, ist ihre Mutlosigkeit, es mit der Umgebung aufzunehmen. Ich wußte den geschichtlichen Zusammenhang nicht: ob die Judenheit Whitechapel zu Whitechapel machte, d. h. zu jenem Eldorado des Müßiggangs, oder ob das Vertriebene Bettelvolk, an dessen Leib noch der russische Pogrom zitterte, ob dieses schmutzige Exilgesindel eben eingefügt Wurde in das schon gegossene Gefäß der Verbrechen, der Verdorbenheit und des Lasters. Ich sah in dem eleganten Theater, in dem ich eben saß, wie durch die Reihen des Pit und der Stalls das Unrecht, das begangen wird. Die Lady, die zunächst befriedigt war über meine zärtliche, chevalereske, aber immerhin doch deutsche Art, entfremdete sich immer mehr, als sie fühlte, daß in mir etwas erstand, was Frauen immer störend ist, wenn sie nicht Gemeinsamkeit empfinden: sie fühlte, daß in mir Unzufriedenheiten wuchsen, und sie mag das wohl der deutschen Ethik zugeschrieben haben. Ich sprach von Whitechapel. Ihr wunderbarer Gainsboroughmund nahm eine Form an, als ob sie ihn wasche, indem sie ihn verziehe. Sie schauderte vor dem Wort, obwohl sie von Petticoat Lane sehr lüstern und pikant sprach. Ich dachte an den deutschen, jüdischen Philosophen, der in einer Soziologie der Sinne es so Wunderbar gefügt hat, daß die soziale Frage nicht allein durch ihre ökonomisch­materia1istische und ethische Voraussetzung zu erklären sei, sondern daß die „soziale Frage auch eine Nasenfrage ist“. Ich erzählte ihr auch von dieser merkwürdigen Ansicht und entfremdete sie mir dadurch.

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Re: Tagebuchblätter aus Whitechapel
« Antwort #2 am: 09.06.2011 17:53 Uhr »
Zwei Tage darauf ging ich, gleichsam um mich noch einmal zu prüfen, nach Shoreditch. Hin und her zog mich die Welt dieser kleinen Leute. Die kleinen Straßen und Häuservierecke des Berliner Nordens erstanden, aber ist man um die Ecke, so ersteht schon wieder eine ganz andere Welt. Ich War unzufrieden. Das Allmenschiiche, das in mir gemeinsam mit diesen Menschen zitterte, erwies sich als zu dünn. Ich sprach mitten im englischen Cockney plötzlich deutsche Verse vor mich hin, von jenem deutschen, jüdischen Dichter, dessen Worte damals erst ein paar Eingeweihte sprachen, und die ich aus einer Zeitschrift heraus ohne mein Zutun auswendig wußte: „O Herr, zerreiße mich“, und dann die menschlichsten Worte, in denen die ganze Welt Wie in einer Gemeinsamkeit sich um ihn sammelt und er sich für jedes Leid verantwortlich und sich in jedem Leid gedemütigt fühlt. Der Zirkusseehund, die Hure und das Arbeiterkind, das in den Fabriken „dieser elenden Zeit“ darbt, gehen ihm gleich nahe. Was gehen mich die armen Juden an? Ist es nicht dasselbe Elend, das auch die Shoreditchleute drückt? Ist ihr Hunger anderer Hunger? Und ist ihr Elend anderes Elend? Und wenn dort in einer Spelunke aus dem
Whiskygestank das ganze Elend dieser Welt strömt, ist das nicht dasselbe Elend?
Ich ging in eine kleine Kneipe. Außen stand „D. D.“ es heißt Wohl nicht so, aber die Leute jener Gegend sagten von der Kneipe „Dirty Dick“, Ich saß lange in einer Ecke. Da ich wenig trank und die übrigen viel, da ich mich leise verhielt und die übrigen laut, da ich nüchtern war und die übrigen nicht da ich mit mir beschäftigt War, Weil ich mich mit andern beschäftigte, aus allen diesen Gründen War es mit der Zeit zweckmäßig geworden zu gehen. Als ich aus der Kneipe kam, wußte ich, daß ich nie aus der jüdischen Kneipe hätte gehen müssen, weil die andern betrunken Waren. Und das Rätsel, warum jüdische Menschen so selten betrunken sind, identifizierte sich gleichsam mit der Anschauung, daß nicht jede Armut dieselbe Armut sei, identifizierte sich mit dem Glauben, daß nicht jedes Elend dasselbe sei. Was lange in mir zitterte, hier wurde es zur unbestechlichen Klarheit, daß meine Sehnsucht nach Whitechapel nicht die Sehnsucht nach der Gemeinsamkeit mit diesem Schicksal war, sondern der Schmerz, Warum es in der Welt so kam, daß sich die Trennung des jüdischen Schicksals erweisen will und auch gewissermaßen innerlich bedingt erweisen muß. So fand ich nach den Gassen Whitechapels zurück, ohne daß ich es kannte, ohne daß ich wußte, warum. So bog ich um die Ecke dieses jüdischen Schicksals, ohne die Theoreme der „Autoemanzipation“ und des „Judenstaates“ auf den Lippen zu haben und ohne in diesem Augenblick einen Zusammenhang zu empfinden zwischen diesem Gefühl und der „öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte“.
Ich suchte nicht das Judentum. Denn dieses Judentum findet man nicht auf der Straße. So Wenig man das Wesen des Kapitals erkennt, wenn man in die Organisation einer großen Fabrik hineinblickt, so wenig man das Wesen des Religiösen dadurch versteht, daß man in Gotteshäusern kniet oder sich seine Schuld und seine Menschlichkeit herunterbetet. Das Jüdische ist eine Angelegenheit so sublimer Art, daß man durch die Schärfste Dialektik immer nur sein Gebäude streift, daß durch jede noch so scharfsinnige und scharfsichtige Aussprache immer nur das Weitentfernt erscheint, was die Kernfrage bedeutet, um die sich alles sammelt und alles reift. Aber in den Straßen dieses Stadtteils weht sofort das jüdische Schicksal. Dieses Schicksal ist zwar überall, wo jüdische Menschen zusammenkommen. Und es ist nicht zu leugnen, daß das jüdische Problem, das als Problem so tief ist, daß man es manchmal in seiner erdrückenden Wucht vergißt, auch noch dort ist, wo das Judentum in jener satten und befriedigten Bürgerlichkeít verharrt, die das Problem nur verschieben, nicht aber erledigen kann. Auch in Salons, in denen Juden über Literatur reden, ist das jüdische Schicksal. Es lockt an allen Enden, und durch eine kleine Unsicherheit und einen ganz kleinen Zwischenfall erscheint das Schon vergessene plötzlich Wieder im Mittelpunkt des Interesses. Nicht daß die Schilder an den kleinen Geschäften dieser Straßen jüdisch geschrieben sind, nicht daß die in vergilbten Büchern stehenden hebräischen Laute hier sehr lebendig und mit der jeder Sprache eigentümlichen Selbstverständlichkeit klingen, nicht Kaftan und Pejes runden dieses Bild als besonders jüdisches ab, sondern daß diese Menschen ihr Schicksal als Juden erleben, gab für mich den zwingenden Grund, alle Dinge hier als jüdische Dinge zu sehen. Als Juden wurden sie in Rußland verfolgt, als Juden wurden sie in der neuen Stadt nicht in einer Ansiedlungsfreiheit aufgenommen, als Juden haben sie ihr neues Brot gesucht, jüdisches Brot vom jüdischen Bäcker haben sie Wieder gefunden. Um des Judentums Willen wurden sie beinahe totgeschlagen, um des Judentums Willen suchen sie die neue Umgebung, die durch sie wiederum jüdische Umgebung Wird. Diese Welt ist von einer wundersamen Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit zugleich. Sie ist unfruchtbar, Weil das jüdische Lebenstempo nicht neue Formen findet, in die es sich ergießt, nicht den Lebensrhythmus hat, um in einer seltsamen Anpassung an die Umstände sich neue Formen zu schaffen. Und fruchtbar zugleich, weil nur eine große innere Glut fähig ist, aus diesen alten Formen neue Lebensenergien zu schöpfen. Whitechapel ist für die Entwicklungsmöglichkeit der Menschheitsgebilde eine ungeheure Fundgrube in jener Richtung, in der sich die Treue der Menschlichkeit an die alten Formen und Gebilde erweist. Aber wenn auch Whitechapel gleichsam in seinem Gefüge steril ist, wenn auch alles darauf hindeutet, als sei hier eine Zeitlosigkeit und eine Entwicklungsunmöglichkeit gegeben, so zeigen die vielfachsten Anzeichen, daß auch diese Welt nicht stille steht. Das jüdische dieses Lebens ist das Gefäß, in das alle Formen gegossen werden und aus dem alles Leben geschöpft Wird. Das Jüdische dieser Welt ist der Mittelpunkt, von dem alles ausgeht und zu dem alles Wieder zurückkehrt. Das Judentum ist das Unvergäng­liche. Aber man läßt es fallen, überläßt sich der Begehrlichkeit der anderen Welt, schöpft aus einer neuen Welt neues Verlangen und neue Erregung. Die schönen jüdischen Mädchen, die die Schneiderwerkstätte, der „Sweatshop“ die ganze Woche festhält, Waschen sich am Freitagabend mit einer heiligen Zärtlichkeit. Der Arbeitsstaub entfernt sich aus den Poren ihrer Haut: sie ist noch von jener Geschmeidigkeit, die jüdische Frauen oft in den Bewegungen haben. Das Ghetto wird gleichsam abgewaschen und Wo es schon zu tief sitzt, da ist die Kunst anderer Länder, anderer Städte oder anderer Straßen schon in diese Welt geflogen. Puderquaste und Schminkstift und die spärlichen Instrumente der Manicure entfernen alle Anzeichen, die nun einmal das Proletariat auf die schönsten Frauenzüge projiziert. Der Freitagabend ist der Abschied vom alten Schicksal. Mit dem ganzen Temperament und der schnellen Vergeßlichkeít ihrer Rasse ist die ganze Vergangenheit wie ausgelöscht. Wie tief ist diese Sehnsucht, daß sie mit einer unsagbaren Lebensglut Zwischenstirnmungen und Stadien überwindet, die sonst nur langsames Vorwärtsschaŕfen überwinden kann! Der Zweck ist zunächst im Hintergrund. Es gibt keine Frau, die nicht Weiß, wie Frauen sind, wenn der ganze Zauber der Vollkommenheit und über sie hingegossen ist. Und die Sehnsucht steckt in jeder Frau, zwar nicht immer auszusehen, aber doch fühlen zu können wie jene. Die jüdischen Mädchen von Whitechapel haben aus jenem tiefen Gefühl des Sich-Steigerns ihrer Vergangenheit entsagt. Die Mädchen tragen ihre Kleider für sich, für die anderen und gegen die anderen. Als sich aber die vorübergehende Abwanderung von Whitechapel fühlbar machte, als die jungen jüdischen Männer in jenen für die keit des Juden besonders bedeutsamen Schabbesnachmittagsstunden nicht mehr in das Whitechapel, sondern in das London stürzten, da hatten die geschmückten jüdischen Mädchen bald keinen Sinn mehr. Zunächst zogen sie immer noch in langen Reihen über die Breite der Straße, und diese schönen Frauen schienen so, als suchten sie nach ihrer Bestimmung. Sie waren gleichsam da und doch nicht da, denn eine letzte Sehnsucht treibt jede Frau zur Resonanz. Immer haben sie sich dann vom Herzen ihrer Heimat entfernt. Immer Weiter haben sie sich aus Whitechapel entfernt. Und die jüdischen Mädchen haben in ihrer Buntheit die Reise angetreten in eine ihnen zunächst nicht gemäße Umgebung. An Samstagnachrnittagen traf ich oft in den Teehäusern des Westens wunderbar jüdische Mädchen, deren Bewegungen sich nicht in die müde und träge Bequemlichkeit dieser Räume einfügten. jedesmal hatte ich das Gefühl, als habe jede Verpflanzung des jüdischen die Gefahr der Zersplitterung. Das Ästhetische ist eine Gefahr. Aber es ist nicht die ästhetische Freude, die in Whitechapel sich so an diesen Mädchen blähte. Daß diese jüdischen Mädchen entwurzelt Waren, sich am Samstag und Sonntag von Kavalieren bewirten ließen, in Samt und Seide gingen, sich in den eleganten Quartieren des Westend bewegten und in der Sonntagnacht wieder zurückschlichen nach Whitechapel, nach Petticoat Lane, in die Schneiderwerkstatt, in den „Sweatshop“, das ist freilich ein Rätsel von beinahe unbegreiflicher Dimension. Aber Whitechapels Gesicht hat ein paar fremde Züge. Manche Kluft trennt eine Straße von der anderen. Manche Kluft trennt ein Geschlecht vom andern. Der über das Irren seines Kindes zürnende jüdische Vater, die Konflikte um des Sich­Entfernens vom Judentum willen, die Unsicherheit in der Spontaneität des Glaubens, der Form und des Inhalts des jüdischen Ursinns - all das treibt auch in das Gesicht von Whitechapel ein paar Falten, die nicht darüber hinwegtäuschen, daß aus der zweifellosen Harmonie dieser Welt ein Problem geworden ist. Das Problem allen Judentums, zu jubeln oder zu verzweifeln, zu gehen oder zu bleiben, selig oder unglücklich zu sein, das Problem jüdischer Seelenschwankung erhebt sich auch in Whitechapel, in jener Welt, die in ungetrübtem Festhalten an jüdischem Wesen dazu bestimmt War zu erhalten, festzuhalten, sich zu verbeißen in die alte Form der jüdischen Überlieferung.

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Re: Tagebuchblätter aus Whitechapel
« Antwort #3 am: 09.06.2011 17:53 Uhr »
An denselben Schabbesnachmittagen, an denen in einem Akt gleichsam das Abbröckeln der jüdischen Frau sich dokumentiert, stehen die alten jüdischen Männer in den kleinen winkligen Synagogen und treten in jeder Woche Wieder den Heimweg zu ihrem Judentum an. Soweit sie es verloren haben durch den emsigen Arbeitsbetrieb des auch industriell gewordenen Whitechapel, finden sie es wieder. Denn die alten jüdischen Männer sind der Gefahr entwichen und haben sie erkannt, auch ihren Tag, den Schabbes einzutauchen in die Rhythmik der außerjüdischen Beweglichkeit. Es liegt im Wesen aller Riten und aller zwar von innen her gefügten, aber nicht immer nach innen projizierten Gebräuche, daß auch dieser Schabbesnachmittag mit seinem Thoralernen, mit seinem Wiederfinden der religiösen Geistigkeit des russischen Ghettos, daß dieses Reproduktive nicht alle Teilnehmer bestimmend und tief trifft. So wie jede Zeitepoche gleichsam nebeneinander aus drei Faktoren sich zusammensetzt, der vergangenen, der künftigen und der aus Unbewußtheit und Kraftlosigkeit mit der alten mitgehenden Zeit - so klingt das Zusammenfallen der Stimmen zum „Omen“ des Gebetes nicht aus gleicher Überzeugung. Ich sah merkwürdige Zwischenindividuen. Die aus Mutlosigkeit an der religiösen Form des Judentums festhielten, die aus einem merkwürdigen Fatalismus sich nicht von ihm abwandten, die aus einer Phantasielosigkeit und einer schlecht gedachten Tradition bei der Fahne blieben. Sie gingen noch in Schritt und Tritt zur Marschmusik. Verklangen aber die Töne der Marschmusik, waren sie auf eigene Initiative angewiesen, dann zerbröckelte ihre Religiosität und übrig blieb nur das sanfte Gedenken an die Melodien des Seders und ein paar in die Form hinausragende Gebräuche, gleichsam wie ein Widerhall des Gedenkens an ein paar jüdische Sätze für den, der das Hebräisch verlernt und vergessen hat. In ihnen ist der Schabbes in seiner Unzertrennbarkeit vom jüdischen gefallen. Die Probleme Londons beginnen sie zu interessieren. Sie gleiten auch einmal hinaus aus den Mauern Whitechapels. Sie Wissen vorn Getriebe der Banken und der Docks, und das allgemeine Leben erwacht in ihnen zu einer schlecht unterdrückbaren Sehnsucht. Nicht nur das Merkantile treibt sie aus Whitechapel hinaus, nicht nur die höheren Preise, die in Tottenham Court Road gezahlt Werden, sondern andeutende oder wissende Klänge haben in ihnen den Wunsch erzeugt, diese Welt kennen zu lernen. So wurde mancher der Whitechapeîleute „Stockbroker“, verdiente viel Geld und sein Ruhm verbreitet sich mit der merkwürdig aggravierenden Form des Ghettos in der alten Heimat. Er lockt mehr und mehr. Und aus der Abgeschlossenheit und der in sich erfüllenden Welt wird ein Kommen und Gehen, ein Bleiben und Sich-Hinaussehnen, der alte Wandertrieb mit der Sehnsucht 'des B1eiben­Dürfens, die Zwiespältigkeit ersteht auch dort wieder, wo die Lösung ihres Schicksals sich erfüllen sollte. Die Kräfte verteilen sich nur. Es gibt keine Endgültigkeit. Der Prozeß des Umformens schweigt auch hier nicht stille. Das Schicksal des dem Pogrom entronnenen Juden ist nicht zu Ende. Die Juden haben zu Viele Kulturen kennen gelernt, sind durch zu viele Länder gekommen, um nicht den Relativismus des Wertes und der Höhe im Blut zu haben. Sie haben nicht die sichere Wiege und den unverkennbaren Stammbaum primitiver Veranlagung. Haben sie auch auf ihrem Wege durch die verschiedenartigen Kulturen nicht alles Wesentliche der Epoche mitgenommen, so doch sicher dies: daß es auch andere Kulturen gibt. In dem aufklärbaren Prozeß, in dem sich unbewußtes Erleben zu einem Faktor der Seele und einer Besonderheit des Ichs umwandelt, wurde aus dieser Erfahrung die Veranlagung des jüdischen Menschen zum Relativismus. So hat die Welt für die Juden von Whitechapel nicht ihr Ende in Whitechapel. So beginnen auch von hier neue Wege zum neuen Leben. «So hat auch diese Verpflanzung keine Endgültigkeit. Und wenn auch Kräfte von außen her das Konzentrieren auf Whitechapel verhindern, wenn auch hier Wiederum Kräfte am Werke sind, die wie in der' ganzen Geschichte der Juden aus gleichsam anorganischen Ursachen den Organismus des Juden zu bestimmen suchen der Kern der seelischen und körperlichen Abwanderung von Whitechapel liegt im Juden selbst. Die köstliche Blüte seiner Beweglichkeit findet hier den Ausdruck in schärferer und sichtbarerer Form als an anderen Stätten, an denen sich die Entwicklung des Juden von sozial niederen zu sozial höheren Stellen vollzieht. Eine merkwürdige innere Beweglichkeit steckt in diesen Menschen. Da. sind Gespräche möglich von einer tiefen Innerlichkeit und Zerfahrenheit zugleich. Innerlich, weil die Wurzeln des Menschentums bis in die letzten Ausläufer verfolgt werden, und zerfahren, Weil so tief auch die Wurzeln der Menschlichkeit sich hier erstrecken, sie auch ebenso leicht wieder auszureißen sind. Das war überhaupt vielleicht bislang gleichsam in den bürgerlichen Attitüden und in jenen, die uns weder im Schrifttum noch in der Kunst überliefert sind, die Wesenheit der jüdischen Menschen: daß die Kräfte dieser Menschen im Augenblick erstanden und sich im Augenblick wieder verloren. Daß sie nicht die gebändigte Innigkeit fanden, die das Schöpferische erfordert. Und so wie diese jüdischen Menschen in einem tiefen Eingehen auf ihr Los, auf ihr Schicksal, auf ihre Lebensweise, auf ihre Vergangenheit, auf ihre Zukunft, auf ihre Welt, auf ihren Glauben, wohl die Fähig~ keit des Wissens, nicht aber die des Erkennens haben, so unterscheiden sie sich in der sterilen Stellung zu ihrem Eigenschicksal auch nicht vom Proletariat anderer Konfession und Rasse. Aber so sehr sich hier eine Identität proletarischen Erkennens ergibt, so besteht eine unergründliche Sonderheit wiederum bei diesen Menschen der Sweatshops, die in einer unverständlichen Härte ihr Brot verdienen, die unter entsetzlichen Bedingungen ihr Leben fristen und dennoch in den Stunden der Ruhe sich zu illustrer Geistigkeit finden, die ein Gefolge ihrer alten Tradition ist. So schließt sich der Kreis alten Schicksals und ihrer Gegenwart und zwischen die Harmonie dieser Welt schiebt sich nur der Keil jener ein, die noch da sind und doch nicht mehr, die den Kaftan noch tragen und doch nicht mehr, jener Bürger von Whitechapel, die zwischen den Rassen schwanken.
Die Wohlfahrtseinrichtungen in Whitechapel legen Zeugnis ab von der Beziehung zwischen den Londoner Juden und den jüdischen Bewohnern Whitechapels. Kinderheime und Wöchnerinnenhäuser, der Board of Guardians als größtangelegte Wohntätigkeitsorganisation wetteifern miteinander, das Schicksal der Whitechapler Juden so angenehm wie möglich zu gestalten. Aber sie gehen dem Kern des jüdischen Problems aus dem Wege. Und mißverstanden die jüdische Bewegung, wie sie Israel Zangwill einst auf dem denkwürdigen Basler Kongreß mißverstand und wie es der Baron Hirsch tat. Denn die jüdische Wohltätigkeit vermag das Schicksal des armen Juden nicht zu erledigen. Und tausend Boards of Guardians vermöchten nicht die Juden von ihrem durnpfen Whitechapel-Schicksal zu erlösen, so Wenig es die Millionen des Baron Hirsch vermochten, die Unendlichkeit des jüdischen Wanderns, das Ahasverschicksal zu beseitigen. Vielleicht War es fiel mir ein, als ich durch die sauberen Räume eines dieser jüdischen Kinderheime ging eine entscheidende Stunde, als der arme, unbekannte Wiener Journalist Theodor Herzl den reichen, bekannten Baron Hirsch um eine Unterredung bat und ihm klarlegte, daß er nicht die Möglichkeit habe, das jüdische Los zu bessern und eine dauernde Erledigung dieses Problems herbeizuführen. Sondern daß das nur Beruhigungsmittel seien, die die Lösung und die unendliche Sieghaftìgkeit der jüdischen Vitalität noch verschieben, sie nicht aber auf die Dauer unterdrücken können. Und indem man durch diese Wohlfahrtseinrichtungen des Whitechapel geht, denkt man an Analogien: auch die soziale Gesetzgebung hat das Arbeiterproblem nicht gelöst, auch die Krankenkassengesetze haben den Gegensatz zwischen dem Proletariat und dem Kapitalismus nicht in Rauch aufgehen lassen -- sondern vermochten nur aktuell und vorübergehend den Gegensatz abzuschwächen; und so wird auch das jüdische Problem das in der eigenen Beschaffenheit des jüdischen Geistes nicht durch die schönsten Aufenthaltsräume für bedürftige Juden gelöst.

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Re: Tagebuchblätter aus Whitechapel
« Antwort #4 am: 09.06.2011 17:54 Uhr »
Und so gehen auch die Westjuden Londons, die Bourgeois der Hampsteadstraßen, an dem vorbei, was sich im Osten Londons an jiidischem Leben noch erhalten het. Vielleicht sogar wie ich vielfach beobachtete sträuben sie sich dagegen, daß sich hier ein Staat im Staate bilde. Sie wollen nicht in einem Augenblick, wo das jüdische von ihnen abzufallen sich anschickt, ständig daran erinnert werden, daß dieses Jüdische sich gleichsam noch in der reinen Klarheit des Ursprünglichen überliefert hat. Sie wollen nicht ständig daran erinnert werden, daß es noch Denkmäler gibt, die in einer unverbrüchlichen Treue das in die Gegenwart herübergerettet haben, was nach ihrer eigenen Aussage vorbei, vergessen und verschollen ist. Und so bietet Whitechapel nicht nur nach außen für sie Gefahr: denn es kommen Stunden bei allen Juden, in denen ihr Aufgehen in der neuen Umgebung wie etwas empfunden wird, was gleichsam ohne die Segnung der Geschichte geschehen ist. Und es hängt mit der im metaphysischen Sinne irreligiösen Zeitströmung zusammen, daß sie für ein Problem, das dereinst im Religiösen oder doch Metaphysischen wurzelte, eine staatsrechtliche Lösung finden. Und in einem groben Verkennen dessen, was uns das Gegenwärtige in jüdischer Hinsicht bedeutet, in einer Unkenntnis dessen, daß man bestimmte historische Voraussetzungen nicht durch die vollkommenste Annäherung an die neue Umgebung auslöschen kann - ist für sie die jüdische Frage erledigt. Aber wenn Wir die Geschichte der Kultur so erkennen, daß es in der menschlichen Geschichte überhaupt kein Problern gibt, das für alle Zeiten erledigt wäre, und alle Probleme einmal Wiederkehren (Wir quälen uns mit den meisten Problemen ab, für die schon Plato eine für sich glaubhafte Lösung fand), so ist es gewiß, daß auch das jüdische Problem einmal Wiederkehrt, wenn auch nicht vielleicht mit körperlicher Gewalt, so doch sicher in der seelischen Not der innerlichen Wandlungen. Ich empfand das in der fashionablen Westendsynagoge, an einem hohen jüdischen Feiertage (nur gut angezogenes Publikum, und wirklich Publikum, war da), als anstatt des „Schema Israel, Adonai elohenu, Adonai echad“ ein schicker Rabbiner deklamierte „Hear, o Israel, our God, our God is only". Irgendwo mußte man das einmal gehört haben. Und das Prernierenpublikum verstand die Worte, verstand aber nicht den Sinn (während es beirn hebräisch gesprochenen Gebet meistens umgekehrt der Fall ist). Und ich wußte: bei all dem Unbegreifbaren, was die Zentralisation jüdischer Menschen bedeutet, bei all der Fülle der Probleme, die sich aus dem jüdischen ergeben, bei der schier unbezwingbaren Macht des gegenwärtigen inneren Wandlungsprozesses, das kann nicht der endgültige Zustand sein, in den sich das Judentum auflösen wird. Das kann nicht der bourgeoise Endpunkt einer langen Entwicklung sein und nicht der sanfte Landeplatz einer dereinst stürmischen Fahrt. Das kann nicht der letzte Ruhepol sein. Geschichtliche Entwicklungen sind unabsehbar, dachte ich, als ich mich aus der fashionablen Synagoge flüchtete, um ein paar Ghettojuden noch zu sehen, wenn sie die alte, vermauerte Synagoge Whitechapels verließen, geschichtliche Entwicklungen sind unabsehbar. Alle tiefen Kerne stecken in den Dingen, ehe sie zur Auslösung kommen. Das Judentum kann noch einmal steil zum Himmel schießen, und was sich in seiner Entwicklung durch Druck und Gegendruck veräußerlîchte, wird letzten Endes den Boden finden, der die immanent schon erfolgte Entwicklung schafft. Entweder wird das Judentum mit einem letzten erschütternden Schrei untergehen, wird seine unverlier­bare Kraft in neuen Formen ausgießen, oder es wird sich in einer vorläufig unübersehbaren Form neu gründen und befestigen. All dies ist möglich, unmöglich ist es, daß das Jüdische, das uns ein Wunder bedeutet, Wenn nicht ein mit ein paar Worten ausdrückbares, das eine Macht ist, wenn auch selbst eine negative, das Schattierungen und Besonderheiten kennt, die wir noch nicht begreifen - daß dieses Judentum in gesinnungslosen, unscharfen Palästen enden soll, in die man wie in Schauspielhäuser tritt, in denen uns betreßte Diener die Mäntel abnehmen und wir zur Seelenfeier am Jom-Hakipurim Platzkarten bekommen. Und an jenem Abend schien mir Wiederum Whitechapel mit seiner hygienischen Unvollkommenheit die höhere und unverbrauchtere Kultur zu haben
An einem Schabbesabend ging ich einmal durch Whitechapel Highroad, das ist eine große breite „Straße im Eastend. Hier ist nicht mehr reines Ghetto. Das ist gleichsam der Treffpunkt einer Welt von Ausgestoßenen. Die Dockarbeiter der India-Docks (ihre Arbeit ist schwer) eilen ihren Wohnstätten hier zu, die Zuhälter, deren Mädchen im eleganten Westen ihr Geld verdienen, misten sich hier ein, auch die Verbrecher, die irrtümlicherweise mit Whitechapel identifiziert Werden, lustwandeln hier. Man schlendert über die Highroad und muß stechende und glühende Blicke aushalten. Die sozial zerfressenen Blicke der Männer, in denen gleichsam unbewußt die Erkenntnis des die Vielheit beherrschenden Kapitals (und demgemäß auch der Haß) steht und die der Frauen, die in jedem aus einer anderen Sphäre stammenden Menschen den Befreier sehen. Aber das jüdische der Menschen überragt die ganze Umgebung. Es ist rein geblieben. Durch die Zerrissenheit des Proletariers und die unterminierte Moral des Verbrechers, durch den mindestens neuartigen Blickpunkt des Zuhälters hindurch strahlt etwas wie von Ursprünglichkeit, Reinheit, Unangerührtheit. Das Jüdische dieser Menschen wird wie ůberwuchert durch die Sphäre, in der sie stehen. Aber diese Menschen sehen immer aus, als seien sie nicht an ihrem Platze.
Ich sprach mit einem der Mädchen lange über ihr Judentum. Was sich in rnir in quälender Bewußtheit auftürmte, War hier im Därnmerlicht, im Halbdunkel des Unbewußten, Halbgewußten. Sie war im russischen Ghetto aufgewachsen und wußte, wie man sich in den eleganten Klubs trug, wußte sogar von den Aktionen des englischen Bankbetriebs und ein einmaliger unmotivierter Besuch in der „Wallace-Collection“ hatte sie so tief angeregt, daß sie sich wie in einer mehr denn ästhetischen Wehmut noch immer mit einer altfranzösischen Emaille herumquälte, die sie dort sah. Und War ungeheuer ursprünglich und optimistisch, betrachtete die sozialen Wirren Whitechapels beinahe mit dem Leichtsinn mancher Wohltäter der Menschheit, die das Elend nie selbst gesehen haben. Nur in einem Punkt brach die leichte Schwungkraft ihres Weltanschauens zusammen: in ihrem Judentum. Denn sie gehörte zu jenen auch in der jüdischen Einschnürung nicht seltenen Menschen, die nicht mehr begriffen, um was sie leiden, und die sich Weiter dem Leiden aussetzen, weil das Judentum für sie ein Unbegriffenes ist, das nicht untergehen darf. Denn es dauert so lange schon. Und vielleicht ist seine Sendung noch nicht gekommen. Und woher die Feigheit nehmen, wo frühere Generationen mehr ausgestanden haben. Was sich innerlich wie in einer tiefen und unüberbrückbaren Diskrepanz ausdrückt in dieser Frau, wurde auch äußerlich sichtbar. Ihr Gesicht War wie von einer Tondänen Ausgeglichenheit, alle psychologischen Rätsel der Frau, die sich auflösend verschönen, lagen in ihren Zügen und daneben die Mystik des Ghettos, Unbegreifbare, das sich nicht in verzerrtem Leid ausdrückt, sondern in einer Tiefe ihrer Augen, die grundlos war. Sie bekam neue Inhalte, je mehr sie die alten verlor. Man hätte sich denken können, daß sie morgen eine große Schauspielerin sei oder eine Tänzerin, oder übermorgen die Geliebte eines Großfürsten. 30 Würde sie sicher beides niemals Werden, Weil unbewußt etwas sie festhält. Sie war nicht eine von den dualistischen Seelen, die ihre Welt in den SweatShop des Werktage und das Dìrnentum des Sonntags trennen können, sondern die Sehnsucht nach einem anderen Sein drückte sich bei ihr in einer schmerzlichen Tragik unbewußt und versenkt aus. Manche Schönheit in Whitechapel habe ich ihr vermittelt: alte Synagogen von einer geradezu unwirklichen Abgerücktheit, die Architektonik der proletarischen Straßen, die manchmal an den Berliner Norden erinnern und dann plötzlich von einer (Wer weiß Woher stamrnenden) Kultur sind. Und die Toynbee~Hal1, Wo man Abende einer gewissen sonst unbekannten Geselligkeit erleben kann. Man trifft dort Menschen von gleichgerichtetem Drange, Bücher von einem erlesenen Gleichmaß, und die scheue Bewirtung in den Abendstunden ist von Kredenzen und Almosen gleich weit entfernt. Es gibt eine Gemeinsamkeit in Whitechapel, weit über dem sonstigen bürgerlichen Sich-Zusammenfinden. Es ist nicht das willkürliche Vereinen, es ist auch nicht ein Zusammentreffen unter einem äußerlichen Druck, sondern die Menschen sind gleichsam ganz besonders und nur für einander geschaffen. Denn alles Übrige schart sich in den „Cinemas“ zusammen und versandet in einem banalen Genuß, wie er den Arbeitervorstädten von Berlin, London, Paris und New York gemein ist und sich vielleicht nur im Tempo etwas unterscheidet. Hier aber ist die Erhaltung einer Sphäre.

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Re: Tagebuchblätter aus Whitechapel
« Antwort #5 am: 09.06.2011 17:54 Uhr »
Vielleicht gibt es kaum eine schmerzlichere Tragik als die, ein menschliches Schicksal eine Strecke Weges zu erleben. Denn die Entscheidung eines tätigen Eingriffs in ein Menschenleben bringt doch eine innere Verpflichtung, die nicht durch das Bewußtsein aufgewogen wird, daß das ein Stück Weges nach oben und nicht nach unten war. Daß Whitechapel in dieser Frau unausrottbar ist und daß dieses Whitechapel nun in einem ganz urnwandelnden Licht ihr erschien, wird ihrem Menschentum eine neue Qual bereiten. Von dieser Qual ist der nicht abzutrennen, der ihr Führer auf dem neuen Weg war. Daß sich das aber vollzog ohne die Sensibilität der Frau, sondern daß in der Selbstverständlichkeit der seelischen Metamorphose die Unbewußtheit so tief War, daß jene noch nicht zutage trat, ist wiederum ein Symbol für Whitechapel: daß alle seelischen Metamorphosen in einem unendlichen Lento sich vollziehen. Und daß auch dann, wenn äußerlich die neue Form, das neue Leben, das neue Kleid, der neue Haarschnitt angenommen Wird, die alte Form und das alte Gesetz und der alle Lebensrhythmus immer noch den Takt unvermeidlich und unausrottbar schlägt.
Im Theater des berühmten Herrn Kessler War ich an einem Schabbesabend und sah „Harn1et“. Das merkwürdige Ereignis wurde nicht allein dadurch erhöht, daß das jiddische Theater das einzige Theater war, das in den damaligen Wochen und Monaten in London überhaupt Shakespeare spielte.
Der ganze Raum und die Zuhörerschaft drängte zweifellos nicht dazu, gerade jetzt das Schicksal des traurigen Dänenprinzen zu erleben, und so wirkte CLES Stück auf mich zum ersten Mal in einer gewissen grotesken Weise. Alle Menschen außer Hamlet, die sonst irgendwie im Schatten stehen und wie Traumgebilde in der furchtbaren von Hamlet durchlebten Unwirklichkeit sind, stehen hier im Vordergrund. Der larmoyante Polonius ist ein vollkommener Narr, und die Schauspieler spielen im Schlosse des Königs Schmiere. Das Halbdunkel und die Schmerzlichkeit der hamletschen Verse fehlen: alles ist irgendwie in die schrnierige Wirklichkeit gerückt. So schíene das Stück seinen Ursinn verloren zu haben, wenn nicht ein paar Laute und Bewegungen so stark gewesen Wären» daß Wirklichkeit und Unwirklichkeit untrennbar eins Wurden und die spontane Wirkung ungeheuer war. Herr Keßler, der abgöttisch geliebte Whitechapelmime, spielte den Hamlet. Wenn er den Totenschädel in der Hand hat, ersteht die ganze manchmal etwas süßliche Sentimentalität, die den Ghettojuden charakterisiert. Aus der mokanten Überlegenheit über die Wirklichkeit ist alles - sagen wir Heinesche weggeschwemmt und alle Affekte werden zu einer groteskten Übertreibung erhöht. Wie in den Zeugnissen der jungjüdischen Literatur das Leben oft in kleinen Einzelheiten seine tiefe Schmerzlichkeit enthüllt und dadurch eine oft (besonders in den humoristischen Werken) gezwungene Humorigkeit erzeugt, so ist das Leid Hamlets erzwungen, dadurch daß es sich in willenloser Form entlädt. Es ist indessen nicht die Übertreibung der Schmiere, sondern in die Hamlettragödie wird gleichsam das jüdische Leid eingegossen. Deshalb gehört der Sieger über das Leben, der Mensch des Erfolgs und des Welterfassens, Fortinbras nicht in das Drama. Und wenn sonst in das Dunkel halbgelebten Lebens die Wirklichkeit Fortinbras mit hellen Fanfarentönen hineindringt - hier wird er wie eine läastige Person verstanden. Das Theater wurde unruhig bei diesen Versen. So sehr die Menschen des Ghettos über Ophelias Wahnsinn weinten, so sehr sie mit einem gewissen bitteren Ernst die groteske Gebärde des Polonius aufnahmen (denn sie wissen welbst, was es heißt, sich lächerlich zu machen), so sehr versagte ihr Sinn beim Tatenmenschen Fortinbras. Jemand sagte neben mir vernehmlich: "Goj". Und darin kam das Unverständnis einer ganzen Welt gegenüber zum Ausdruck.
Die Außenwelt ist auch im Theater nicht ausgelöscht. Ich habe es noch nie erlebt, das das Leben draußen so sehr hier innen noch weitergeführt wird. Und daß gleichzeitig eine Hingabe von so intensiver Art entsteht. Allerdings nur, wo das Theater Dinge vermittelt, die im Leben stehen, nicht der Tatsache nach, sondern in oft zunächst unerfühlten unterirdischen Zusammenhängen. Deshalb wirkte die Hamlettragödie besonders stark nicht in den Linien, in denen man eine direkte Verbindung zwischen diesen Menschen und den im Kunstwerken gelebten Vorgängen findet, sondern wo das Leid des Dramas sich irgendwie mit ihren Leid identifiziert. Das ist freilich eine Kategorie, die jedes primitive Kunstgefühl von einem höher gebildeten unterscheidet; daß auf das primitive nur die Dinge einwirken, die in direkter Beziehung zur Empirie stehen. Aber bei den Menschen des Ghettos kam dies in einer besonders feinnervigen Steigerung zum Ausdruck. Ich hätte in jedem Augenblick beim Herunterspielen der Hamlettragödie nachweisen können, wo die Menschen des Ghettos nicht nur mit den Augen und Ohren, sondern auch mit dem Herzen dabei waren. Und als der Vorhang über dem letzten Akte fiel, drängte die Wirklichkeit wieder so hart und die Sorgen wieder so schwer, daß die Geschichte vom Prinzen von Dänemark (wie weit weg ist doch das!) und die selbstlose Liebe der Ophelia (gibt es so etwas?) unterging in der Sehnsucht nach einer anderen Welt, aber sogleich unterdrückt durch die Unmöglichkeit, sich eine andere Welt zu suchen.
An diesem Abend habe ich Whitechapel in trostloser Traurigkeit wieder verlassen. Ich ließ mich treiben. Und landete beim nichtjüdischen Proletariat in Shoreditch Empire. Das ist ein minderwertiges Varieté, in dem es nach faulen Fischen stank. Ich sah zunächst nur schmierige Kerle und Weiber, die aus einem gemeinsamen Stück Papier Abendbrot aßen. Auf der Bühne produzierten sich Varietéanfänger. Das Publikum griff in die Aktion ein. Einige Male wurde durch die Finger gepfiffen. Und während ein kleines Mädchen einen Ragtime tanzte (nicht über), gab es auf der Galerie eine Messerstecherei, daß sogar der unermüdliche Kapellmeister abklopfen mußte. Als er wieder genügend Aufmerksamkeit zum Weiterspielen fand, verließ ich das Theater. "Proletarier aller Länder..." dachte ich zunächst. Und dann sehnte ich mich zurück nach der Reinheit Whitechapels. Und dann wußte ich, daß der Gegensatz zwischen dem westlichen und östlichen Judentum eine Willkürlichkeit ist und daß alle Staatstheorien satter Justizräte gegen die ungeheuerlichen Eindrücke nicht ankämpfen können. Und wußte weiter, daß es eine Lösung geben wird. Denn das Jüdische ist so stark, daß es sich durch die Verelendung hindurch bewahrt und sich auch durch die Verquicking des Problems bewahren wird. Und wußte an diesem Abend, daß nichts auf der Welt es verhindern kann, daß der Kern des jüdischen Wesens einst die Bedingung findet, die diesen Kern zu neuem Glanze erstehen läßt.
Im Felde               Norbert Einstein