Autor Thema: Geisteskrank - oder gerissen? Oder arm?  (Gelesen 28866 mal)

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Offline Shadow Ghost

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Re: Geisteskrank - oder gerissen? Oder arm?
« Antwort #15 am: 16.03.2011 09:56 Uhr »
Kann mir irgendjemand Informationen darüber geben, wie schwierig, möglich oder unmöglich es ist, die bei Kosminski beschriebenen Symptome klinisch nachzuweisen. Noch dazu in damaliger Zeit. Ich versuche damit auch, das Thema wieder etwas vom Thema 'Kosminski als möglicher Täter' weg zu bringen, und zurück zum eigentlichen Thema zu kommen: War Kosminski nun wirklich verrückt oder täuschte er es einfach nur vor, aus welchen Gründen auch immer. Sollte er tatsächlich unter Schizophrenie gelitten haben, so würde ich mich Anirahtak anschließen, dass dies seine Wahrscheinlichkeit Jack the Ripper gewesen zu sein, herabsetzen würde.
Ebenso steht noch im Raum, welche seiner Handlungsweisen damals eigentlich gar nicht so unüblich waren:
  • Essen von Nahrung aus der Gosse - es scheint Beispiele zu geben, dass dies auch auf Armut zurückzuführen sein kann, aber auch dass dies ein Trick von Bettlern war, um Mitleid zu erwecken
  • Bedrohung seiner Schwester mit dem Messer - für derartige Ausbrüche gibt es in der damaligen Presse genügend Vergleichsfälle, meist war aber Alkohol im Spiel
  • Weigerung sich zu waschen - ich stelle mir die Leute im East End nun eh nicht als Reinlichkeitsfanatiker vor, aber wenn das extra erwähnt wird, muss er schon weit unter den damaligen hygienischen Standards gelebt haben; vielleicht Anzeichen einer Erkrankung, die Hydrophobie auslöst; vielleicht aber auch ein weiterer Trick, um Mitleid zu erwecken

Offline Anirahtak

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Re: Geisteskrank - oder gerissen? Oder arm?
« Antwort #16 am: 16.03.2011 19:01 Uhr »
Also ich habe mich an die Angaben von der Hauptseite gehalten:

Drei Jahre später wurde er aus der psychiatrischen Anstalt " Colney Hatch Lunatic Asylum" nach Laevesden, einem Heim für "ältere Schwachsinnige", gebracht und wurde dort als "chronisch harmlos geisteskrank und als Idiot oder geistesschwach" in der Kartei geführt. In Aufzeichnungen wird über ihn berichtet, dass "er den Bezug zur Realität komplett verloren hat. Er konnte sich nicht mehr an sein Alter erinnern und wie lange er schon in dem Heim wohnte. Er hatte Halluzinationen, sah Erscheinungen und hörte Stimmen. Zeitweilig verhält er sich sehr stur. Er ist unordentlich, aber sauber. Er arbeitet nicht".

Davon ausgehend, die Aufzeichnungen seien in der Anstalt angefertigt worden.

Da er 25 Jahre dort verbrachte, halte ich es für schwer vorstellbar, dass er simuliert hat. Wie soll man das so lange durchhalten? Und warum? Und auch wenn die Psychiatrie noch jung war, unterstelle ich, dass man einen Simulanten durchschaut hätte.

Bei Halluzinationen, Sehen von Erscheinungen, Stimmenhören und der Angst vor Essen aus den Händen anderer erscheint mir Schizophrenie nicht allzu spekulativ.

Mort

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Re: Geisteskrank - oder gerissen? Oder arm?
« Antwort #17 am: 16.03.2011 19:03 Uhr »
In einem anderen Faden habe ich bereits erwähnt, dass er während einer Sitzung in einer Anstalt, auf einen Mann, mit einem Stuhl bewaffnet, losging. Plötzlich, so wie wohl auch bei einer seiner Schwestern mit dem Messer. Er neigte also nicht nur einmal aus heiteren Himmel mit Gewalt. Das macht ihn für mich nicht harmlos.

Nein völlig harmlos sicher nicht. Aber auch nicht so aggressiv wie Jemand an den ich beim Thema Geisteskrankheiten noch denken muss.

Zitat
Ich weiß zwar nicht, wen du meinst, aber bei der Gelegenheit will ich nochmal klarstellen, dass ich JTR keinesfalls für geistig gesund halte. Nur eben auf einer anderen Weise "krank" als Kosminski.

Also ich meinte Hyam Hyams. Würde sein Krankheitsbild eher für Dich in Frage kommen? http://jacktheripper.de/forum/index.php/topic,1202.msg17913.html#msg17913

Offline Shadow Ghost

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Re: Geisteskrank - oder gerissen? Oder arm?
« Antwort #18 am: 17.03.2011 11:18 Uhr »
Vielleicht hilft uns dieser Link weiter bei der Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Simulierens von psychischen Erkrankungen:
http://books.google.de/books?id=AxU-DCygR8IC&printsec=frontcover&dq=Norbert+Nedopil&hl=de&ei=AN-BTcZX6JTiBrrBlLIJ&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=1&ved=0CEAQ6AEwAA#v=onepage&q&f=false
ab  Seite 173 gibt es ein entsprechendes Kapitel.

Viele Grüße,
Shadow Ghost

Offline panopticon

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Re: Geisteskrank - oder gerissen? Oder arm?
« Antwort #19 am: 17.03.2011 14:49 Uhr »
Hi.

Kann mir irgendjemand Informationen darüber geben, wie schwierig, möglich oder unmöglich es ist, die bei Kosminski beschriebenen Symptome klinisch nachzuweisen.

Ein diffiziles Thema. Zur generellen Frage bezüglich Diagnostik fallen mir da die Experimente David Rosenhans (´On Being Sane in Insane Places´) ein, die wir mal während meiner Studienzeit in Sozialpsychologie heftig diskutierten - Sie sind eben nicht unumstritten... Hier der (wenn auch verkürzte) Überblick auf Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Rosenhan-Experiment

Zur konkreten Frage, ob aber Aaron Kosminski simulierte oder nicht, mag vielleicht auch dieser Link zum Thema ´Schizophrenie und Gewalt´ weiterhelfen: http://www.psychosoziale-gesundheit.net/psychiatrie/schizophrenie_gewalt.html

Wie beschrieben, üben Personen mit Schizophrenie, die Gewalt anwenden, diese primär gegen ihr persönliches Umfeld aus: Familie, Ärzte/Klinikpersonal – Exakt, was Kosminski bei den einzigen beiden von ihm überlieferten ´Gewaltausbrüchen´ tat (Schwester, Aufseher). Weiters interessant ist durchaus, was da über Selbstbeschmutzung und Selbstbefriedigung zu lesen ist – ebenfalls Punkte, die sich in den Berichten über Kosminski finden. Ich persönlich denke jedenfalls nicht, dass Aaron Kosminski simulierte. Dass er zu Alkohol tendierte, ist ziemlich unwahrscheinlich, und die ´Attacke´ auf seine Schwester lässt sich ja ohnedies mit seinem Krankheitsbild begründen. Zudem war er nicht auf Betteln angewiesen – seine Familie besaß laut allem, was bisher über sie bekannt ist, wohl genug Geld, um ihn zu ernähren  - zudem aß er ja scheinbar vor eigenen Bekannten und/oder Verwandten ´aus der Gosse´, was für sein Umfeld wohl gerade auch ein Mitgrund war, ihm psychiatrische Hilfe zukommen zu lassen. Nach einem ´Betteltrick´ sieht das also eigentlich nicht aus.


Ich versuche damit auch, das Thema wieder etwas vom Thema 'Kosminski als möglicher Täter' weg zu bringen

Absolut verständlich – wir könnten ihn stattdessen ja vielleicht einmal als ´mögliches Opfer´ diskutieren, das fände zumindest ich aus heutiger Sicht wohl angemessener.


Beste Grüße,
panopticon
« Letzte Änderung: 17.03.2011 15:06 Uhr von panopticon »

Offline Shadow Ghost

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Re: Geisteskrank - oder gerissen? Oder arm?
« Antwort #20 am: 17.03.2011 16:35 Uhr »
Ich wollte dem guten Aaron auch kein Problem mit Alkohol unterstellen, vielmehr spielt Alkohol eben in den meisten anderen Berichten, in denen von Bedrohungen mit Messern berichtet wird, eine Rolle.
Persönlich bezweifle ich auch, dass Aaron ein Simulant war. Ich wollte aber inspiriert durch die Funde aus Posting #1 diese Diskussion anregen, und nehme daher auch gerne mal die Gegenseite ein.. Entweder er war ein Simulant oder er war krank. Im ersteren Fall stellt sich zwangsläufig die Frage nach einem möglichen Warum. Gründe fürs Simulieren gibt es nach oben verlinkter Quelle Folgende:

1. Vermeidungsverhalten: Vermeidung von Gefahr und Schwierigkeiten, Verantwortung oder Strafe;
2. sekundärer Krankheitsgewinn: Krankenhausbehandlung, Versorgung durch Familie, Medikamentengabe, Unterkunft (z.B. bei Obdachlosen), Berentung;
3. Vergeltung und Entschädigung: nach Schädigung oder Verlust, z.B. durch Unfall oder Arbeitsplatzverlust, als Folge von Kränkungen.

Ich denke Punkt 3 können wir ausschließen.
Bei Punkt 2 habe auch so meine Zweifel, zumindest wenn ich meiner Vorstellungen von frühen psychiatrischen Einrichtungen glauben darf. Zudem kümmerte sich seine Familie um Aaron, er wohnte wohl bei einem seiner Brüder oder einem Schwager.
Bei Punkt 1 stellt sich die Frage, was gerade Aaron hätte vermeiden wollen. Das bittere Leben im East End? Aber war dies schlimmer als die Klinik? Oder anders herum: war die Klinik die bessere Alternative zum Leben im East End?
Oder war es die Flucht vor einer Strafe? Aber Strafe wofür? Bis auf die Messerdrohung gegen seine Schwester und das Gassi-Führen eines Hundes ohne Maulkorb sind mir keine auch nur annähernd ungesetzliche Taten bekannt. (Es sei denn Macnaughten, Anderson und Swanson hatten recht)

Aber nach derzeitigem Kenntnisstand lässt sich (für mich) kein wirklich überzeugender Grund finden, warum er hätte simulieren sollen, aber wer steckt schon im Kopf eines anderen Menschen. Das Problem für mich ist eben, dass eine psychische Erkrankung eben nichts messbares, nichts greifbares ist. Ich merke eben manchmal doch, dass ich Physiker bin.

Offline Anirahtak

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Re: Geisteskrank - oder gerissen? Oder arm?
« Antwort #21 am: 17.03.2011 20:43 Uhr »
Vielleicht hilft uns dieser Link weiter bei der Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Simulierens von psychischen Erkrankungen: [...]
Ich denke ja:

Ab der Stelle "Demgegenüber versuchen die meisten Patienten mit [...] schizophrenen Störungen bei der Erstexploration, ihre Symptome zunächst zu bagatellisieren oder zu dissimulieren. [...]" wird weiter beschrieben, dass die meisten Gesunden nicht in der Lage seien, Schizophrenie zu simulieren. Weil sie zu wenig darüber wissen und auch nicht die typischen Denkstörungen nachahmen könnten. Kosminski hätte das dann nur noch 25 Jahre lang durchziehen müssen. Ich unterstelle weiterhin, dass dies auch Irrenhaus-Personal im 19. Jhd. irgendwann aufgefallen wäre.

Offline Lestrade

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Re: Geisteskrank - oder gerissen? Oder arm?
« Antwort #22 am: 18.03.2011 19:28 Uhr »
...wir könnten ihn stattdessen ja vielleicht einmal als ´mögliches Opfer´ diskutieren...

Scheint auch eher auf Aaron Kosminski zuzutreffen.

Wer sie noch nicht kennt, sollte sich dennoch John Douglas Meinung über "Kosminski" bzw. Cohen einholen bzw. Literatur von ihm bzw. seines Kollegen Ressler lesen.
Wer wartet mit Besonnenheit, der wird belohnt zur rechten Zeit...